# taz.de -- Maria Sanchez über „Land der Frauen“: „Es hilft, zurückzusc… | |
> Sie könnte nicht schreiben, ohne Tierärztin zu sein. Die Spanierin María | |
> Sánchez über Familie, Agrarkultur und Feminismus. | |
Bild: „Wir Frauen wollten endlich anerkannt werden, von der Kultur und von de… | |
taz am wochenende: Frau Sánchez, Ihr Buch hat das Leben der Frauen in | |
Spanien auf dem Land zum Thema. Wie erklären Sie sich den Erfolg, den Ihr | |
Werk hat? | |
María Sánchez: Wir wollten endlich anerkannt werden, von der Kultur und von | |
der Literatur. Das Buch stößt nun gerade [1][auch bei den städtischen | |
Lesern und Leserinnen] auf große Resonanz. | |
Wie erklären Sie sich das? | |
Wir sollten nicht vergessen, dass in Spanien viele derer, die heute in den | |
Städten wohnen, selber vom Land kommen. Ihre Großeltern leben auf dem Land. | |
In den Jahrzehnten der Diktatur emigrierten viele in die Städte. Wenn ich | |
das Buch vorstelle, höre ich immer wieder zwei Sätze: „Dieses Buch hätte | |
ich schreiben können“ und „Du erzählst mein Leben“. | |
Hatten Sie weibliche Vorbilder? | |
Ich suchte nach Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen. Dabei wurde mir | |
klar, dass ich meine unmittelbare Umgebung, meine Mutter, meine Großmütter | |
völlig übersah. Denn ich wollte nicht so sein wie sie. Dabei verdanken wir | |
ihnen viel. Viele Leserinnen entdeckten durch mein Buch ihre eigenen | |
Großmütter und deren Leben auf dem Land. | |
Hat diese Sinnsuche auch mit der Pandemie zu tun? | |
[2][In Zeiten der Pandemie fragen wir uns oft, wie das Leben morgen | |
aussehen wird]. Dabei hilft es sehr, zurückzuschauen. | |
In Deutschland fand die Verstädterung früher statt. Aber auch hier haben | |
Sie Erfolg, woran könnte das liegen? | |
Hier kommt der Feminismus ins Spiel, das Interesse, die Geschichte von | |
Frauen zu schreiben und für sich zu entdecken. | |
Laufen Sie nicht Gefahr, das harte Landleben zu verklären, aus | |
unterdrückten Frauen starke Frauen zu machen? | |
[3][Das kritisiere ich.] In Spanien werden die Frauen, die in den | |
entvölkerten Landesteilen ausharren, oft zu Heldinnen erklärt. Doch diese | |
Frauen leben häufig ohne Zugang zu sozialen Diensten, ohne | |
Krankenversorgung, haben keine Freizeit. Das Gerede von den Heldinnen | |
verdeckt nur die praktizierte Ungleichheit und den Machismus. | |
Aber es gibt schon so etwas wie Nostalgie, Sehnsucht nach der Vergangenheit | |
und dem „einfachen“ Landleben? | |
Damit will ich nichts zu tun haben. Aber ich entschuldige mich dafür, dass | |
ich ungerecht gegenüber meiner Mutter war, weil ich nie gefragt habe, auf | |
was sie verzichten musste. Meine Mutter wurde 1960 geboren. Hätte sie nicht | |
mit zwölf Jahren schon Oliven ernten müssen, wäre sie vielleicht die erste | |
Frau in meiner Familie gewesen, die schreibt. Es geht mir darum, zu | |
erzählen, wie diese Leute auf dem Land früher lebten und bis heute leben. | |
Und was sie an Wissen hatten, das von der Sozialforschung häufig übersehen | |
wird. | |
Sie gingen nach dem Studium zurück ins Dorf, warum? | |
Mittlerweile lebe ich nicht mehr in meinem Dorf in Andalusien, sondern in | |
einem noch viel kleineren Ort in Nordwestspanien. Ich kann mir ein Leben | |
ohne das Land nicht vorstellen. [4][Meine Kindheit bestand aus Tieren, | |
Land, Bäumen.] Den Hirten, dem Großvater, der Tierarzt war, ihm zu helfen. | |
Käse machen. Ich will das erhalten, zurückgewinnen. | |
Als ich klein war, wollte ich ein Mann sein. Ich wollte sein wie sie. Ich | |
bin meinem Großvater sehr dankbar. Er sagte nie: „Als Mädchen kannst du das | |
nicht.“ Ganz im Gegenteil, er unterstütze mich. Wenn wir etwa eine Kuh oder | |
ein Schaf heilten und die Züchter sagten, das sei nichts für Mädchen, | |
erwiderte er immer: „Lass sie, sie kann das.“ Niemals setzte er mir | |
Grenzen, weil ich ein Mädchen war. | |
Diese Erinnerung lässt allerdings die Großmutter außen vor. | |
Genau, deshalb habe ich „Land der Frauen“ geschrieben. Ich musste mich bei | |
ihr entschuldigen. Und ich musste wissen, was mir fehlt. Als ich mit meinem | |
Gedichtband überraschenderweise Erfolg hatte, begann meine Familie, über | |
das Leben der Frauen zu sprechen. Auch mein Vater öffnete sich, als er sah, | |
dass die Zeitungen über mich schrieben. | |
Wenn ich zum Beispiel an meinen Großvater mütterlicherseits denke, der | |
Landarbeiter und dann Immigrant in der Schweiz war, dann erinnere ich mich | |
an den Geruch des Blutes eines Hasen, den er ausweidet, oder der feuchten | |
Erde. Bei der Großmutter denke ich an den Waschplatz, die Küche, eine Frau, | |
die andere bedient, wenig redet. Die Männer im Wohnzimmer, sie sitzen | |
zusammen, reden, nehmen alles ein. Wir mieden den Raum der Großmütter. Wir | |
kamen nie auf die Idee, Hilfe anzubieten oder etwa selbst zu kochen. | |
Hat sich daran heute auf dem Land etwa viel geändert? | |
Nehmen wir den Frauentag. Vor Jahren ging da in den Dörfern niemand auf die | |
Straße. Mittlerweile versammeln sich vielerorts, auch in ganz kleinen | |
Weilern, viele der Frauen zum 8. März. | |
Sie haben von Ihrem Großvater, dem Tierarzt erzählt. Wie aber kamen Sie zum | |
Schreiben? | |
[5][Literatur hat mich interessiert.] Als ich mit meinen Eltern in die | |
Stadt, nach Córdoba, zog, war ich sehr einsam. Ich erzählte dort von meinem | |
Landleben. Davon, Käse zu machen, Schafe zu operieren. Ich wurde zur | |
Außenseiterin, die andere, die vom Land. Ich begann wie verrückt zu lesen. | |
Mit acht Jahren lass ich García Lorca. Mein Vater nahm mir das Buch weg – | |
das sei nichts für Kinder. Es waren die Spanischlehrer an der Schule, die | |
mich unterstützten, mir Bücher ausliehen, mir einen Bibliotheksausweis | |
gaben und mich ermutigten zu schreiben. | |
Als ich dann an die Universität ging und wie mein Großvater und mein Vater | |
Tiermedizin studierte, dachte ich, ich würde Menschen mit ähnlichen | |
Interessen finden. Das war aber nicht so. Selbst Professoren sagten, ich | |
solle das mit dem Lesen lassen und mich mehr auf das Studium konzentrieren. | |
Mein Vater sagte auch, ich solle diese Spinnerei mit der Poesie lassen. | |
Sie mussten sich zwischen Literatur und Tiermedizin entschieden? | |
Ja, und dann passierte etwas Wunderbares. Als mein Großvater starb, | |
stöberte ich in seinem Bücherschrank voller antiquarischer Fachliteratur. | |
Ich fand dort ein Lehrbuch der Biochemie aus dem Jahr 1942. Am Anfang jede | |
Kapitels stand eine kurzes literarisches Zitat von bekannten Autoren wie | |
Shakespeare. Ich dachte sofort: Ich kann beides sein, Schriftstellerin und | |
Tierärztin. Ich kann Wissenschaft und Poesie zusammenbringen. | |
Es dann tatsächlich zu schaffen, war aber sicher nicht leicht? | |
Als ich „Land der Frauen“ schrieb, war ich eine Angestellte. Ich betreute | |
Ziegenherden und hatte feste Arbeitszeiten. Heute bin ich aber | |
selbstständig und arbeite für eine Organisation, die sich um vom Aussterben | |
bedrohte Rassen kümmert. Ich bin nach wie vor auf dem Feld, aber ich | |
arbeite auch wissenschaftlich. Ich bin flexibler. Ich glaube, ich könnte | |
nicht schreiben, ohne Tierärztin zu sein. Und ohne die Literatur könnte ich | |
keine Tierärztin sein. Ich bin einfach beides und beide Seiten brauchen | |
sich gegenseitig. | |
7 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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