# taz.de -- Buch über Historie des Landlebens: Sehnsucht nach Unverfälschtem | |
> Der Kulturgeograf Werner Bätzing zeichnet kühl die Zerrüttung des | |
> Landlebens nach. Er forscht mit überschaubarem Erfolg nach Alternativen. | |
Bild: Am Sonntag wird die Natur in der Freizeit bürgerlich verklärt: Landpart… | |
Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat | |
enorme Städte geschaffen und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem | |
Idiotismus des Landlebens entrissen.“ Dieser prophetische Satz steht im | |
1848 verfassten „Kommunistischen Manifest“. Damals wohnten global 95 | |
Prozent der Menschen auf dem Land. 2008 waren es noch 50 Prozent. 2050 wird | |
es nur noch ein Drittel sein. | |
Mit Idiotismus meinte [1][Marx] zwar nicht Stumpfsinn. Doch das Landleben | |
galt ihm wie vielen Fortschrittsoptimisten als wissenschafts- und | |
moderneferner Raum. Das pulsierende Neue, von Kultur bis Technik, ereignete | |
sich in den Städten. Daran wurde das Land gemessen – und war im Defizit. | |
Die Geringschätzung des Landes als öde Provinz gilt schon lange als | |
selbstverständlich. Doch historisch ist das Gefälle zwischen Stadt und Land | |
in Europa noch nicht alt, so der [2][Kulturgeograf Werner Bätzing] in der | |
Studie „Das Landleben“. Es datiert ziemlich genau aus der Zeit, in der das | |
Kommunistischen Manifest erschien. Davor galten Stadt und Land als zwar | |
verschiedene, aber gleichrangige Orte. | |
Im Mittelalter waren Stadt und Land in Europa miteinander verflochten und | |
„genauso innovativ oder modern“. Erst die Dampfmaschine revolutionierte das | |
Verhältnis von Zentrum und Provinz. Die Manufakturen auf dem Land | |
verschwanden, die Produktion zentralisierte sich in Fabriken. Aus Bauern | |
wurden Proletarier. Und der Stern des liberalen Individuums ging auf, einer | |
ganz und gar städtischen Figur. | |
Genau in dem historischen Moment, in dem das Land als verstockt, | |
konservativ und langweilig galt, machte es Karriere als Ort der Schönheit, | |
der die Städter anzog und nun des Naturschutzes bedurfte. Das ist nur | |
scheinbar paradox: Die Degradierung des Landes und die Ästhetisierung von | |
Bergen, Feldern, Seen (und später die Entstehung des Tourismus) waren Teil | |
des Gleichen. „Am Werktag wird die Natur in den Industriegebieten | |
hemmungslos vernutzt, am Sonntag in der Freizeit verklärt“, so Bätzing, der | |
im Übrigen erfreulich sparsam mit Urteilen haushaltet. | |
## Sonntagsspaziergang als Ritual | |
Der Boom der [3][Zeitschrift Landlust], die einem städtischen Publikum ein | |
Dorfidyll verkauft, ist eine späte Wiederauflage des verzückten | |
bürgerlichen Blicks auf das scheinbar heile Landleben. Wie der Bürger im | |
19. Jahrhundert, der den Sonntagsspaziergang zum Ritual machte, braucht der | |
Städter im 21. Jahrhundert das Land als ungetrübten Ausgleich. | |
Die neu erwachte Sehnsucht der Metropolenbewohner nach dem Land als Ort des | |
Unverfälschten liest Bätzing als Echo von forciertem Neoliberalismus und | |
globalem Markt. Auf der Rückseite der Idylle ist immer ein Schrecken | |
eingraviert. | |
„Das Landleben“ analysiert die Stadt-Land-Beziehungen seit Beginn der | |
Zivilisation – skizziert ökonomische Prozesse, Kräfteverhältnisse und | |
kulturelle Bilder. Das anschauliche Beispiel ist selten, die Abstraktion | |
die Regel, die Lektüre eher anstrengend als lustvoll. Hier soll nüchtern | |
und in akademischem Sound ausgelotet werden, wie das Land zu retten wäre, | |
natürlich ohne wie ein Spaziergänger über das Feld zu laufen und über | |
Glyphosat zu klagen. | |
Seltsam randständig bleibt in diesem Panorama, wie politisch explosiv das | |
Verhältnis von Stadt und Land ist. Der aggressive Rechtspopulismus hat die | |
Differenz zwischen Zentren und flyover states mit Wucht politisiert und | |
findet gerade bei Landbewohnern Anklang. Doch Trump & Co. bleiben hier | |
unterbelichtet. | |
## Für die Dörfer sieht es finster aus | |
In Deutschland gibt es zwar dank der mittelständischen Wirtschaft recht | |
viele Jobs in Kleinstädten und jenseits der Metropolen. Doch für die Dörfer | |
sieht es finster aus. Mehr als die Hälfte der Dorfkneipen hat in den | |
letzten 25 Jahren dichtgemacht. Von fünf Dorfläden, die es 1990 gab, | |
existiert heute noch einer. Abwanderung und die oft zu | |
Folkloreinszenierungen verkommenen Traditionen vervollkommnen das Bild. | |
Denn ohne Tradition erlischt das dörfliche Selbstbewusstsein. | |
Erstaunlich ist der Befund, dass der Niedergang des Dorfes in Deutschland | |
ein eher neues Ereignis ist. Vom Mittelalter bis in die frühen 1960er Jahre | |
war es sich ähnlich – dann zerstörten (Auto-)Mobilität und staatliche | |
Planungseuphorie das Dorf als Struktur, die Arbeit und Leben vereinte. | |
Das Land ist so sukzessive zu einem Nicht-Ort geworden, zu etwas, was nicht | |
urban ist. Wenn wir heute von Land reden, meinen wir drei Strukturen: die | |
suburbs mit etwas Grün, die Bätzing eigenwillig „Zwischenstadtland“ nennt. | |
Zweitens: die agrarindustriellen Flächen, die mit tätiger Hilfe der EU von | |
immer weniger und immer größeren Firmen beherrscht werden und in der | |
GPS-Zukunft digital bewirtschaftet werden. Und schließlich das, was wir für | |
Natur halten, aber korrekter als derzeit unbewirtschaftete Kulturlandschaft | |
zu bezeichnen ist. | |
Kurzum: Es ist möglich, dass das Dorf und das Landleben vollends untergehen | |
– und damit Orte, die jahrhundertelang Leben, Arbeit und Natur miteinander | |
verbanden. Wäre das Verschwinden so schlimm (abgesehen davon, dass es uns | |
nostalgisch stimmen würde)? | |
Ja, meint der Autor, denn ohne Landleben vergisst die Hyperzivilisation, | |
dass ihre „Erfolge auf Natur und verantwortlichem Wirtschaften aufbauen“. | |
Das Landleben ist so gesehen eine Art Rückversicherung gegen „die | |
selbstzerstörerischen Prozesse der Moderne“. | |
## Kreative Infrastrukturpolitik | |
Am Ende skizziert der Autor fünf recht schwammig gehaltene Leitbilder, die | |
das Land bewahren oder rekonstruieren sollen. Das reicht von sanftem | |
Tourismus über lokale Produktion bis zu kreativer Infrastrukturpolitik. | |
Nichts davon ist ganz neu. Aussicht auf Rettung versprechen vielleicht | |
Städter, die vor horrenden Mieten aus den übervölkerten Metropolen fliehen | |
– allerdings nur, wenn sie die Existenz auf dem Land „nicht nur fingieren, | |
sondern leben“ und das Land nicht als Idyll missverstehen. | |
Auch der Aufschwung der ökologischen Landwirtschaft macht Hoffnung, | |
allerdings erkennt Bätzing kühl die enorme Kraft der „Zwänge der | |
globalisierten Marktwirtschaft“ und in den viel gelobten regionalen | |
Kreisläufen oft nur Marketingstrategien der Lebensmittelkonzerne. | |
So ist Besserung nicht in Sicht. Man kann dies für ein Manko des Buches | |
halten. Eher allerdings spiegelt dieses Manko die trüben Aussichten des | |
Landlebens wider. | |
2 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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