# taz.de -- Modell Ötscherregion: Wälder verdunkeln auch das Gemüt | |
> In der Ötscherregion überleben Bauern noch Kraft ihrer Produkte. Anderswo | |
> müssen sie ins Lagerhaus arbeiten gehen, um ihren Hof zu erhalten. | |
Bild: Blick zum Ötscher vom Mostviertel Ertl | |
Was für Menschen schön ist, muss für die Natur nicht gut sein“. Heribert | |
Pfeffer hält ein Plädoyer gegen die Verwaldung: „Wo zu viel Wald ist, | |
verlieren wir die Sichtachsen. Es kühlt ab und die Landschaft vedunkelt. | |
Das Gemüt des Menschen verdunkelt auch“. Pfeffer ist kein Feind der Bäume. | |
Der pensionierte Forstwirtschaftsmeister und Berufsjäger ist jetzt | |
Landschaftsvermittler. | |
Er zeigt, dass die Landschaft, wir wie sie kennen, erst durch den Eingriff | |
des Menschen entstanden ist. Almwirtschaft und Ackerbau haben aus der | |
Wildnis eine Kulturlandschaft gemacht. Wenn die Bauern aufgeben, holt sich | |
die Wildnis das Land schnell wieder zurück. | |
Der Ötscher ist – von Osten gesehen – der erste mächtige Berg der Alpen. | |
Die Regenwolken entladen sich hier, weil der mehr als 1.800 Meter hohe | |
Gipfel im Weg steht. So entstand eine einmalige Schluchtenlandschaft mit | |
Kaltluftseen und hochalpiner Flora auf nur 500 Metern Seehöhe. Die | |
Legeföhren oder Latschen, die man sonst nur jenseits der Baumgrenze findet, | |
gedeihen hier in den Schluchten. Diese hochalpine Vegetation trifft hier | |
auf die pannonische Flora, die die Ebenen von der Ukraine bis zum | |
Burgenland prägt. | |
Wer den Ötscher besteigen will, der muss erst einmal hinunter. Der markante | |
Gipfel am Rande der östlichen Kalkalpen ist von einer Vertiefung umgeben, | |
die ihn noch imposanter erscheinen lässt: Die Ötschergräben. Die Schluchten | |
und Klammen sind teils spektakulär, die Wasserfälle wildromantisch. | |
Ausreichend markierte Wege und gesicherte Steige erlauben es auch | |
unerfahrenen Wanderern, das Gelände allein zu erkunden. Aber wer sich von | |
einem Landschaftsvermittler wie Heribert Pfeffer über die schmalen Pfade | |
und Stege führen lässt, hat mehr davon. Er kennt jeden Baum, jeden Strauch, | |
jeden Bach. Und er hat die Geschichte dieser Gegend teilweise selbst | |
erlebt. | |
## Die letzten Urwälder Mitteleuropas | |
Die letzten Urwälder MitteleuropasAusgangspunkt für die Wanderungen ist das | |
anlässlich der niederösterreichischen Landesausstellung 2015 eröffnete | |
Besucherzentrum „Basislager Ostalpen“ in Wienerbruck. Wer mit der | |
Mariazeller Bahn anreist, spart sich die Parkplatzgebühren und kommt schon | |
in entspannter Stimmung an, sagt Kurt Farasin, der die Landesausstellung | |
gestaltet hat. Die 1907 eröffnete Schmalspurbahn war eine der ersten | |
elektrifizierten Gebirgsbahnen ihrer Zeit. Sie beförderte Pilger zur | |
Basilika von Mariazell und brachte damit die Ortschaften entlang der | |
Pilgerstrecke um ihre Existenzgrundlage. Erst in den 1970er und 80er Jahren | |
verlor sie ihre Bedeutung. | |
Das Land Niederösterreich investierte über 100 Millionen Euro in die | |
Modernisierung der Bahnhöfe, neue Waggons und Loks. Mit der | |
Zentralwerkstätte und einer Remise wurden neue Arbeitsplätze geschaffen. | |
Bevor die Touristen kommen, nutzen jetzt viele Morgenpendler die Bahn. | |
Die Gemeinden um den Ötscher gelten als waldreichste Gegend des gesamten | |
Alpenbogens. Die blaublütigen Großgrundbesitzer und neureichen | |
Industriellen hatten hier ihre Jagden. Und mit dem Rothwald besitzen die | |
Ötschergräben einen der letzten Urwälder Mitteleuropas. Zumindest seit der | |
Bronzezeit sei hier kein Baum mehr gefällt worden, sagt Kurt Farasin. | |
Der über 3.000 Hektar große Rothwald ist der letzte unberührte | |
Waldabschnitt in Österreich und bleibt für den Tourismus gesperrt. Das Land | |
Niederösterreich ist höchst restriktiv, was den Zutritt betrifft. Hier | |
nistet ungestört der Steinadler und der Schwarzstorch findet sein | |
Rückzugsgebiet. Hier können sich seltene Pilze und Mikroorganismen | |
entwickeln, die ein eigenes Ökosystem bilden. Eine Fichte kann hier 700 | |
Jahre alt werden. | |
## Luxus der Dunkelheit | |
Das Ötschergebiet wurde als eine der letzten Regionen der Alpen zum | |
Abschlägern entdeckt. Als ab dem 17. Jahrhundert die Hänge nach und nach | |
abgeholzt wurden, blieb der Rothwald aber von der wirtschaftlichen | |
Ausbeutung verschont. Denn das Gelände bot keine Triftmöglichkeiten. Es | |
erlaubte keinen Transport der Baumstämme zum nächsten Fluss. Im 19. | |
Jahrhundert lösten hier die Rothschilds die Kirche als Grundbesitzerin ab. | |
Sie verfolgten nur jagdliche Interessen. Damals zeigten sich in Form von | |
Muren und Lawinen bereits die Folgen der rücksichtslosen Abholzung und es | |
wurden Waldschutzgesetze erlassen. | |
Man muss aber gar nicht in dieses unberührte Reservat eindringen, um die | |
Vorzüge der Dunkelheit genießen zu können. Der dichte Baumbestand der | |
Ötschergräben erlaubt es in wolkenlosen Nächten, die Milchstraße klar und | |
scharf zu sehen. Ein Luxus, den nur zehn Prozent der europäischen | |
Landfläche zulassen. | |
Beim Wandern über die kleineren Erhebungen trifft man auf Bauernhäuser, die | |
sich äußerlich seit 500 Jahren nicht verändert haben. Zwischen 1871 und | |
2011 ist die Bevölkerung nur um 14% gewachsen, was de facto einer | |
Stagnation entspreche, „also weder Verstädterung, noch Entsiedlung“. So der | |
deutsche Alpenforscher Werner Bätzing. Nicht nur die Häuser, die gesamte | |
bäuerliche Struktur mit Betriebsgrößen von 30 bis 50 Hektar habe sich über | |
die Jahrhunderte erhalten, erzählt Kurt Farasin. „Die Bauern haben es | |
geschafft, nicht in den Neoliberalismus reinspringen zu müssen, wenn sie | |
überleben wollten.“ Vielmehr sei es ihnen mit kleinen Strukturen und | |
Intelligenz gelungen, ihre Lebensart zu retten. | |
Einerseits hat die Ötscherregion alle Modernisierungen, die für sie möglich | |
waren, mitgemacht“, sagt Alpenspezialist Werner Bätzing „Modernisierungen | |
in Forstwirtschaft, Gewerbe, Industrie, Wasserkraftnutzung, | |
Eisenbahnerschließung, Aufbau eines Tourismus und sogar einer | |
wissenschaftlichen Station in Lunz.“ Durch diese Modernisierungen seien | |
Arbeitsplätze in der Region erhalten und neu geschaffen worden. Eine | |
wirtschaftliche Schwächung und ein Bevölkerungsrückgang konnten vermieden | |
werden. Damit habe sich die Ötscherregion der sonst in den Alpen zu | |
beobachtenden Entwicklung entzogen. | |
## Die Almen sind noch Gemeindebesitz | |
„Andererseits“, so Bätzing, „wurden aber alle diese Modernisierungen nic… | |
stark ausgebaut. Die Mariazellerbahn ist nur eine Schmalspurbahn, es gibt | |
kein richtiges Industriegebiet, die Stauseen sind ziemlich klein, die | |
Skigebiete ebenfalls.“ Kurz: In jedem Bereich seien starke | |
Spezialisierungen, die eine starke Außenabhängigkeit mit sich gebracht | |
hätten, vermieden worden. | |
Wenn anderswo in Niederösterreich die Landwirte ins Lagerhaus arbeiten | |
gehen müssen, um ihren Hof zu erhalten, überleben hier rund um den Ötscher | |
die Bauern mit Hilfe ihrer eigenen Produkte. Der eine produziert den besten | |
Honig der Gegend, ein anderer betreibt eine Schlachterei oder verdient mit | |
der Mostfabrikation dazu. Das typische Obst des Pielachtals ist die | |
herb-säuerliche Kornellkirsche, auch Dirndl genannt, aus der Marmeladen, | |
Säfte und Edelbrände hergestellt werden. Weil ihre Wirtschaft durch eine | |
Hangneigung wie in Tirol erschwert wird, gelten die Landwirte hier als | |
Bergbauern und bekommen entsprechende Förderung. | |
Die Almen, wo das Vieh den Sommer verbringt, sind hier noch in | |
Gemeindebesitz. Die Allmende, also das gemeinschaftlich bewirtschaftete | |
Land, wurde nicht privatisiert, wie fast überall sonst. Die Kühe dürfen am | |
Hochbärneck auch im Wald weiden. | |
Die Waldweide ist eine Wirtschaftsform, die aus der Mode gekommen und | |
vielerorts auch aus forstrechtlichen Gründen verboten ist. Doch ökologisch | |
ist sie sinnvoll, wie die Rinderbauern vom Ötscher wissen. Denn hier ist | |
der alte Mischwald erhalten geblieben und nicht Fichtenmonokulturen | |
gewichen. Besonders unter den Laubbäumen finden die Kühe reichlich Futter. | |
## Maßvolle Entwicklung | |
Bätzing hält die Entwicklung der Ötscherregion für vorbildlich, weil die | |
Verantwortlichen weder den neoliberalen Rezepten erlagen, die nicht im | |
großen Stil ausbeutbare Region einfach verwildern zu lassen, noch den | |
Modernisieren folgten, die in der besseren Anbindung durch Autobahnen und | |
dem Ausbau großer Liftanlagen und Touristikzentren die Lösung sehen. | |
Stattdessen sei man den Weg der dezentralen Aufwertung mittels Stärkung der | |
regionalen Potenziale gegangen. | |
174 regionale Partnerbetriebe innerhalb der Region und 80 Natur- und | |
Kulturführern garantieren, dass sich die regionale Bevölkerung mit dieser | |
Art der Entwicklung identifizieren kann. Dass die Ötscherregion verwaldet | |
und verwildert, ist nicht zu befürchten. | |
30 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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