| # taz.de -- Erstbesteigung des Matterhorns: Um Ruhm und Ehre betrogen | |
| > Wenn dieses Jahr der 150. Jahrestag der Erstbesteigung begangen wird, | |
| > soll die Geschichtsschreibung korrigiert werden. Die Einheimischen | |
| > fordern ihr Recht. | |
| Bild: Nicht der höchste, dafür aber der bekannteste Berg der Schweiz. | |
| So sieht also Alpingeschichte aus: blaue Softshelljacke, freundliches | |
| Gesicht, hagerer, durchtrainierter Körper und ein Rucksack, der über der | |
| Schulter hängt. Gianni Mazzone aus dem schweizerischen Zermatt ist | |
| Nachkomme der Erstbesteiger des Matterhorns, Peter Taugwalder Vater und | |
| Peter Taugwalder Sohn. Dass die beiden Vorfahren des 50-jährigen Gianni | |
| Mazzone, vor 150 Jahren dabei waren, als der Gipfel des vermutlich | |
| schönsten Berges der Westalpen erklommen wurde, ist sicher. | |
| „Als Erstbesteiger aber gilt Edward Whymper“, sagt Mazzone. „Das ist | |
| schade, aber das ist so.“ Doch es soll nicht so bleiben. | |
| Gianni Mazzone, der wie seine Vorfahren als Bergführer in dem mittlerweile | |
| mondänen Ort im Kanton Wallis lebt, kämpft für die Anerkennung der Leistung | |
| seiner Vorfahren. Nicht nur der Engländer Whymper soll als Bezwinger des | |
| 4.478 Meter hohen Berges gelten, auch die einheimischen Bergführer sollen | |
| nicht vergessen werden. „Unfair, total unfair“ nennt Mazzone die | |
| Überbetonung Whympers. Ohne Vater und Sohn Taugwalder wäre der gefeierte | |
| Gentleman aus London nie am 14. Juli 1865 das Matterhorn hinaufgekommen. | |
| Die Gruppe, die Whymper etwas hektisch zusammengestellt hatte, als er | |
| hörte, dass von italienischer Seite eine Erstbesteigung geplant war, | |
| bestand nicht gerade aus erfahrenen Bergsteigern: ein englischer Lord, ein | |
| englischer Reverend und ein 19-jähriger Junge, auch aus England. Damit es | |
| mit dieser Gruppe halbwegs klappen würde, hatte Whymper noch die zwei | |
| Taugwalders aus Zermatt und den Bergführer Michel Croz aus dem | |
| französischen Chamonix verpflichtet. „Zur damaligen Zeit waren diese drei | |
| sehr, sehr bekannte und erfahrene Bergführer“, sagt Gianni Mazzone. | |
| Doch beim Abstieg riss ein Seil. Vier aus Whympers Gruppe stürzten in die | |
| Tiefe. Es überlebten nur die Taugwalders und Whymper selbst. Der Engländer | |
| erhob in einem mit hoher Auflage verbreiteten Buch schwere Vorwürfe: | |
| Taugwalder Vater habe das Seil durchgeschnitten, behauptete er. Es kam zum | |
| Prozess, Whymper konnte seine Version nicht halten, ja, das Gegenteil war | |
| richtig: Geistesgegenwärtig hatte Taugwalder Vater vor dem Absturz das Seil | |
| hinter sich um einen Felszacken gewickelt und so Whymper das Leben | |
| gerettet. | |
| ## Eine nicht verheilte Wunde | |
| Aber um den Ruf der Einheimischen zu ruinieren, hatten Whympers Angriffe | |
| doch genügt: Als Bergführer bekamen sie von den englischen Touristen wenige | |
| bis keine Aufträge mehr. „Er ist dann nach Amerika ausgewandert“, erzählt | |
| Mazzone über Taugwalder Vater. Auch als er Jahre später zurückkam, war die | |
| Wunde nicht verheilt. „In unserer Familie wurde nie davon gesprochen“, | |
| berichtet Mazzone, „vielleicht aus Scham.“ Mazzones Großvater, geboren | |
| 1904, hatte Peter Taugwalder Sohn, der in den zwanziger Jahren des 20. | |
| Jahrhunderts starb, noch gut gekannt. Aber erzählt hatte der Erstbesteiger | |
| von seinem und seines Vaters Trauma nie. | |
| Es hat schon etwas von den ganz großen Stoffen der Mythologie: Mit dem | |
| Matterhorn, seiner Besteigung und Erschließung gelang dem verarmten Weiler | |
| Zermatt im abgelegensten Winkel des abgelegenen Mattertals der Aufstieg zu | |
| einem der berühmtesten Bergdörfer der Welt - mit Hotels, Restaurants, | |
| Seilbahnen, Skipisten. Aber die, die diese Entwicklung möglich gemacht | |
| hatten, Vater und Sohn Taugwalder, zerbrachen daran. | |
| Jetzt, 150 Jahre später, sieht es so aus, als könnte es endlich zu einer | |
| Rehabilitierung der Taugwalders kommen. „Wir wollen die Geschichte des | |
| Berges etwas korrigieren“, sagt Daniel Lucken, Kurdirektor von Zermatt. | |
| Deswegen wird es zu den Feierlichkeiten im Juli am Riffelberg bei Zermatt | |
| das Freilufttheaterstück „The Matterhorn Story“ geben, bei dem viele | |
| Einheimische mitspielen und das die zwei Taugwalders und den abgestürzten | |
| Bergführer Michel Croz ins historische Recht setzt. | |
| ## Absicherung durch Historikerin | |
| Damit die Fakten stimmen, haben sich die Veranstalter mit einem Historiker | |
| zusammengetan, für die Inszenierung ist die Schweizer Regisseurin Livia | |
| Anne Richard verantwortlich, eine Spezialistin für solche Stoffe. | |
| „Hoffentlich hilft das und führt zu einer Richtigstellung, sagt Gianni | |
| Mazzone; der Urururenkel hat Grund zu Optimismus. Bei der Frage, wie die | |
| 150-Jahr-Feier gestaltet werden soll, präsentiert sich das kleine Zermatt | |
| nämlich bemerkenswert einhellig und sehr entschlossen. | |
| Kurdirektor Lucken erzählt, welche Ideen an ihn herangetragen wurden und | |
| was er alles abgelehnt hat: Ein Schweizer Hochseilartist etwa wollte auf | |
| einem Drahtseil vom Kleinmatterhorn in 3.883 Meter Höhe auf das 600 Meter | |
| höhere große Matterhorn gehen, eine Art neue Erstbegehung. „Das wäre eine | |
| Riesengeschichte gewesen. Aber so etwas wollten wir nicht“, sagt Lucken. | |
| „Wir wollen lieber die Geschichte des Berges aufarbeiten.“ Und der | |
| Limokonzern Red Bull habe gar nicht erst gefragt: Sein Event für | |
| Gleitschirmflieger, die „Red Bull X-Alps“, hat das Matterhorn einfach zur | |
| Wettkampfstation gemacht. | |
| Dem ganz großen Rummel um den berühmtesten Berg der Alpen wird sich Zermatt | |
| ohnehin nicht entziehen können. Es will das auch gar nicht. An das | |
| englische Königshaus etwa ist aus Zermatt eine publicityträchtige Einladung | |
| ergangen. Die Hoffnung liegt auf William und Harry, den zwei Prinzen. „Mit | |
| beiden könnte man das Matterhorn besteigen“, glaubt Lucken. | |
| ## Beleuchtete Route | |
| Auch eine andere große Aktion hat sich das Matterhorn schon gefallen lassen | |
| müssen: Im September veranstaltete die Schweizer Outdorfirma Mammut eine | |
| besondere Marketingaktion: Bergführer verteilten sich spät abends auf dem | |
| Hörnligrat, der Normalroute zum Gipfel, und hielten Lichter hoch. Eine | |
| Illumination des Aufstiegs. | |
| Eine ähnliche Aktion war 1991 von den Zermattern noch verhindert worden. Da | |
| sollten an allen drei Graten, die hochführen, jeweils ein Drahtseil und ein | |
| Elektrokabel verlegt werden, die alle 30 Meter in den Berg einbetoniert | |
| worden wären. So hätten sie das Matterhorn beleuchtet. | |
| Kurt Lauber ist Wirt der Hörnlihütte, die am Fuße des Matterhorns liegt, | |
| kurz vor dem Einstieg. „Wir haben die Idee“, umschreibt der 53-Jährige | |
| vorsichtig, was er sich am liebsten für den 14. Juli, das Jubiläumsdatum, | |
| wünscht. „Sie lautet: An diesem Tag machen wir gar nichts.“ | |
| Lauber, der auch Bergführer ist, bewirtschaftet schon seit über zwanzig | |
| Jahren die Hütte, an der die meisten Aufstiege beginnen. „Wir wollen dem | |
| Berg Respekt zollen, indem er an diesem Tag leer bleibt.“ Aus der Idee wird | |
| wohl nichts. Wer auf den Berg will, lässt sich nicht aufhalten. | |
| ## Kleiner aber feiner | |
| Die Hörnlihütte ist im Sommer 2014 komplett umgebaut worden. Statt der | |
| unwirtlichen Matratzenlager gibt es mehr Betten, auch wenn das Haus dafür | |
| insgesamt weniger Übernachtungsmöglichkeiten bietet. Kleiner, aber feiner, | |
| Kritiker sprechen von einem „kleinen Hotel“. | |
| 3.000 Besteigungen hat das Matterhorn im Jahr, in guten Jahren 3.500 – mehr | |
| nicht. Das ist wenig: Der Mont Blanc beispielsweise, mit 4.810 Meter | |
| höchster Berg der Alpen, hat die zehnfache Besteigerzahl im Jahr. „Da hats | |
| halt mehr Platz“, sagt Kurt Lauber. Aber das erklärt nicht alles. Das | |
| Matterhorn gilt noch immer als einer der schwersten und unfallträchtigsten | |
| Gipfel der Alpen, zehn bis zwölf Tote gibt es durchschnittlich pro Jahr. | |
| Daran wird der Rummel, der um den 150. Jahrestag der Erstbesteigung gemacht | |
| wird, nichts ändern. Aber vielleicht setzt sich ein wenig mehr die | |
| Erkenntnis durch, wie wichtig es ist, die Kompetenz der Einheimischen zu | |
| würdigen, der Mazzones, der Laubers, der Taugwalders. | |
| 15 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
| ## TAGS | |
| Reiseland Schweiz | |
| Kolumne Press-Schlag | |
| Entwicklungszusammenarbeit | |
| Familie | |
| James Bond | |
| Sotschi 2014 | |
| Reiseland Italien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Adorno und der alpine Skisport: Dialektik des Abfahrtsrennens | |
| Der alpine Ski-Weltcup feiert seine Matterhorn-Premiere. Die | |
| Red-Bullisierung des Wintersports schreitet voran. | |
| Modell Ötscherregion: Wälder verdunkeln auch das Gemüt | |
| In der Ötscherregion überleben Bauern noch Kraft ihrer Produkte. Anderswo | |
| müssen sie ins Lagerhaus arbeiten gehen, um ihren Hof zu erhalten. | |
| Sanft Reisen: Gruppendynamik im stillen Tal | |
| Das Ferienzentrum Salecina ist ein traditionsreicher Sehnsuchtsort: für das | |
| Leben in einer Gemeinschaft und Urlaub zu erschwinglichen Preisen. | |
| Bergsteigerdorf Obertilliach: Von James Bond geadelt | |
| Das Dorf im österreichischen Lesachtal zeigt, dass Wintersport auch ohne | |
| Investoren geht. Und es erweist sich als gute Kulisse fürs 007-Abenteuer. | |
| Wintersport ohne Schnee: Frau Holle kommt aus Israel | |
| Der „All Weather Snowmaker“ einer isaraelischen Firma versorgt die | |
| Wintersportler in Sotschi mit Schnee. Die Geschichte der Maschine ist | |
| erstaunlich. | |
| Wandertouren in der Toskana: Anarchisten und ein heiliger Berg | |
| Die Apuanischen Alpen sind vor allem durch ihre Marmorsteinbrüche bei | |
| Carrara weltberühmt geworden. Das Städtchen war einst auch eine Hochburg | |
| der Anarchisten. |