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# taz.de -- Wandertouren in der Toskana: Anarchisten und ein heiliger Berg
> Die Apuanischen Alpen sind vor allem durch ihre Marmorsteinbrüche bei
> Carrara weltberühmt geworden. Das Städtchen war einst auch eine Hochburg
> der Anarchisten.
Bild: Colonnata, ein Ortsteil der Gemeinde Carrara - Im Hintergrund die Mamorbe…
Die große schwarzrote Fahne hat schon bessere Zeiten erlebt. Schlaff und
von der südlichen Sonne völlig ausgebleicht hängt sie hoch über der Piazza
Matteotti im Zentrum Carraras. Der großzügige Platz war zur Zeit des
Marmorbooms Ende des 19. Jahrhunderts das pulsierende Zentrum der sozial
tief gespaltenen Stadt. Und die Oper im Politeama Giuseppe Verdi, an der
die Fahne hängt, galt als eine der besten Italiens.
Doch die Tenöre sind schon lange Zeit verstummt, und im Sommer 2009 ließ
die Stadt das historische Gebäude wegen Einsturzgefahr räumen. Auch die
Anarchisten der Federazione Anarchica Italiana (FAI), die sich nach dem
Zweiten Weltkrieg dort eingenistet hatten und ein internationales Archiv
aufbauten, mussten ihre Büros längst verlassen.
Carrara (60.000 Eiwohner) liegt im nordwestlichen Zipfel der Toskana, ein
paar Kilometer hinter der Mittelmeerküste. Bis heute zehrt es von seinem
Ruf als Welthauptstadt des Marmors, auch wenn mehr und mehr Blöcke in China
verarbeitet werden. Aber noch immer werden den umliegenden Bergen jährlich
eine Million Tonnen Marmorblöcke entrissen, darunter der edle weiße
Statutario, aus dem schon Michelangelo seine Pietà und andere Kunstwerke
meißelte.
In die Steinbrüche
Lange war Carrara ein wichtiges Zentrum des Anarchismus: Das libertäre
Gedankengut stieß bei den Steinbrucharbeitern auf fruchtbaren Boden. In der
autofreien Altstadt erinnern unzählige Gedenktafeln an die früheren Kämpfe.
Von den einst über zehntausend Cavatori sind jedoch nur ein paar hundert
übrig geblieben.
Die Straßen und Plätze sind noch leer, als wir frühmorgens vom neu
renovierten Hotel Michelangelo durch die Altstadt zum Busbahnhof
schlendern, der im Norden der Stadt an der Piazza Saccho e Vanzetti liegt.
Ein klappriger Bus bringt uns ein enges Bergtal hoch, mitten hinein in die
eindrückliche Welt der Steinbrüche. Erbarmungslos werden hier ganze Gipfel
abgetragen, wird den Bergen von oben und unten, von rechts und links mit
Diamantfräsen, Presslufthämmern und Baggern zugesetzt. Nach einer guten
Viertelstunde erreichen wir das Dorf Colonnata (538 m), hier endet die
Straße. Von den Römern gegründet, dreht sich hier noch heute alles um den
Marmor. Und um den Speck (Lardo), den es ohne den Stein nicht gäbe.
Einst kalorienreiche Arme-Leute-Kost, hat sich der Lardo di Colonnata in
den letzten Jahren zum Kultprodukt der Feinschmecker gemausert. Dafür haben
nicht zuletzt Bürokraten aus Brüssel und Rom gesorgt. In den 1990er Jahren
bliesen sie zum Angriff auf die "unhygienisch" deklarierten Marmorwannen,
in denen das Schweinefett sechs Monate lang in einer Lake mit Salz,
Kräutern und Gewürzen reifen muss.
Die Carabinieri beschlagnahmten Speck und schlossen Betriebe, doch
schließlich setzten sich die Colonnatesi durch. Die Episode machte den
Lardo international bekannt, und seit 2004 ist er gar durch ein
EU-Herkunftssiegel (IGP) vor Nachahmung geschützt.
Weg Nr. 38 ins Gebirge
Von der Bus-Endstation auf der Piazza Palestro im Zentrum des Dorfs folgen
wir dem rotweiß markierten Weg Nr. 38 taleinwärts in die Apuanischen Alpen.
Das 60 mal 20 Kilometer große und knapp 2.000 Meter hohe Kalkgebirge, das
ein Regionalpark seit 25 Jahren schützt, verfügt über ein dichtes Netz von
gut signalisierten und durchnummerierten Wander- und Bergwegen. Auf ihnen
lässt sich das zerklüftete, wilde Gebirge variantenreich durchstreifen, mit
atemberaubenden Ausblicken auf Küste und Wälder, Steinbrüche, Städte und
Dörfer.
Für Etappenhalte gibt es zahlreiche Rifugi (schön gelegene Berghütten, in
denen man vorzüglich isst) und in vielen Dörfern preiswerte Pensionen und
kleine Hotels.
Der Weg Nr. 38 führt uns nordwärts über den Hauptkamm der Berge und in das
Gebiet der Lunigiana. Die Wanderung ist anstrengend, aber abwechslungsreich
und sehr lohnend. Kaum haben wir die letzen Häuser von Colonnata passiert,
stapfen wir über einen gut erhaltenen, breiten Säumerweg einen riesigen
Kastanienwald hoch. Von den Steinbrüchen ist hier kaum mehr etwas zu hören.
Nach einer knappen Stunde erreichen wir das verlassene Bergarbeiterdörfchen
Vergheto (837 m). Es liegt hübsch auf dem Rücken eines Bergausläufers und
gibt den Blick auf die Bergkette frei. Zwei Männer tragen riesige Büschel
von wildem Oregano ins Tal. Vor uns baut sich das imposante Massiv des
Monte Sagro (1748 m) auf.
Schon die widerständigen Apuani-Liguri, die einst die Gegend besiedelten
und später von den Römern zu Zehntausenden nach Süditalien deportiert
wurden, verehrten den Berg als heilig. Je höher wir steigen, desto
prächtiger wird die Sicht auf die kahle Bergkette im Norden und die
Steinbrüche, die dicht besiedelte Küste und das Tyrrhenische Meer hinter
uns. In der unbewaldeten Ostflanke des Monte Sagro erinnern rostige
Wassertanks, Stahlseile und Hausruinen an den früheren Marmorabbau.
Jetzt ist es völlig ruhig, nur ab und zu blökt ein Schaf vom
gegenüberliegenden Hang. Hie und da entdecken wir Reste von
Bruchsteinrampen, den sogenannten Via di lizza. Auf ihnen "schlittelten"
die Lizzatori die schweren Steinblöcke auf Holzkufen ins Tal; in einigen
Dörfern wird die alte Technik jeweils im Sommer nochmals vorgeführt.
Wir queren grell gleißendes Marmorgeröll und steigen steil zur Foce di
Vinca hinauf. Der Pass liegt auf 1.333 Meter auf dem Hauptkamm der
Apuanischen Alpen. Tief unten glitzert die Küste von Viareggio bis zum Golf
von La Spezia; bei klarem Wetter sieht man bis nach Korsika.
Auf dem Pass stoßen wir auf den Höhenweg Alta Via delle Alpi apuane, er
führt in sieben Etappen von Castelpoggio bei Carrara bis nach Camaiore
unweit von Lucca. Wir begleiten ihn ein kurzes Stück bis zur Foce di Rasori
(1.318m), suchen ein letztes Mal Korsika am Horizont und steigen durch
dichten Fichten-, Buchen- und Kastanienwald zum Bergdorf Vinca ab (808 m,
zwei Stunden ab Foce di Vinca).
Das alte, nur noch teilweise ganzjährig bewohnte Dorf liegt am Fuße des
Pizzo dUcello, der wegen seiner wuchtigen Nordwand auch "Matterhorn der
Apuanischen Alpen" heißt.
Im August 1944 töteten hier SS-Truppen 174 Menschen, vor allem Alte, Frauen
und Kinder. Überall im Ort erinnern Gedenksteine an das Massaker, auf dem
kleinen Friedhof oberhalb des Dorfs steht ein großes Mausoleum. Eine ältere
Frau, die wir im Dorfladen treffen, erinnert sich noch gut und erzählt, wie
sie als Dreijährige durch den Wald flüchtete, wie sehr die stachligen
Kastanienhülsen in den nackten Füßen schmerzten und wie sie sich tagelang
in einem hohlen Baum versteckte. Viele Orte in den Apuanischen Alpen litten
unter der blutigen Repression, mit der die deutschen Besatzungstruppen den
Widerstand zu brechen versuchten. Das schlimmste Massaker erlebte Sant Anna
di Stazzema, wo die SS 560 Menschen tötete.
Auf der Bogenbrücke
Den Bus, der jeweils am frühen Nachmittag von Vinca ins Tal fährt, haben
wir verpasst. Das ist nicht weiter schlimm, denn der alte Säumerweg nach
Equi Terme hinab ist sehr schön angelegt und gut erhalten. Hoch über dem
Lucido-Tal führt er der Bergflanke entlang auf die sanften Hügel der
Lunigiana zu, die dem herkömmlichen Toskana-Bild eher entsprechen als die
wilden apuanischen Gipfel.
Zwei Stunden später und 500 Meter tiefer stehen wir auf der alten
Bogenbrücke des pittoresken alten Badeortes Equi Terme (284 m, zwei Stunden
ab Vinca). Anmutig schmiegt sich der mittelalterliche Dorfkern an den Berg.
Dahinter liegen in einer wasserreichen Schlucht die weitläufigen Höhlen
"Buca" und "La Tecchia", die man besichtigen kann.
Schön ist es auch, im Freiluftbecken des kleinen Thermalbades zu plantschen
oder sich hinter dem Hotel Terme ein schattiges Plätzchen am Fluss zu
suchen. Im Juli und August ist der Andrang allerdings groß.
Von Equi Terme kann man mit Bus oder Zug nach Aulla und Carrara
zurückfahren. Oder zu Fuß über das Bergdorf Monzone und das aussichtsreich
gelegene Rifugio Carrara in die Marmorkapitale zurückwandern. Man kann mit
der Regionalbahn in die abgelegene Garfagnana und weiter bis nach Lucca und
Pisa fahren.
Wir bleiben vorerst hier, schlagen uns im Ristorante Da Felice die Mägen
mit Steinpilzen und Testaroli al pesto voll und schlafen göttlich im
dazugehörigen B&B Rodes House, einer alten Villa am Eingang des alten
Dorfs.
12 Aug 2010
## AUTOREN
Pepo Hofstetter
## TAGS
Reiseland Italien
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