# taz.de -- Sanft Reisen: Gruppendynamik im stillen Tal | |
> Das Ferienzentrum Salecina ist ein traditionsreicher Sehnsuchtsort: für | |
> das Leben in einer Gemeinschaft und Urlaub zu erschwinglichen Preisen. | |
Bild: Der Ferienhof Salecina | |
Ein altes Bauerngehöft auf 1.800 Meter Höhe, umrahmt von hohen Berggipfeln, | |
auf denen auch im Juni noch der Schnee glitzert: Salecina. Seit 45 Jahren | |
wird hier, in einem Seitental am Ende des Oberengadins kurz vor der Grenze | |
zu Italien, die Gästeselbstverwaltung praktiziert. | |
Kochen, Spülen, den großen Esssaal putzen oder das Kinderspielzimmer | |
aufräumen – jeder leistet täglich einen Beitrag für die Gemeinschaft. Am | |
Fuße des Piz Salecina, des Bergs, nach dem auch das Haus benannt ist, | |
bilden Deutsche, Italiener und Schweizer jeden Alters eine Wohngemeinschaft | |
auf Zeit. | |
Die 32-jährige Elena Thomsen aus Frankfurt am Main ist zum ersten Mal hier, | |
zusammen mit ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter. Vor fünf Tagen sind | |
sie angereist. Von Frankfurt mit der Bahn über Zürich am See entlang, dann | |
mit der rhätischen Bahn in zweistündiger Fahrt über 1.000 Höhenmeter | |
bergan, durch den Albulatunnel hinein ins Engadin. Vom Passdorf Maloja war | |
es nicht mehr weit nach Salecina. | |
Gegen sieben Uhr abends erreichten sie den abseits gelegenen Hof. „Wir | |
hatten das Gefühl, in eine Großfamilie zu kommen“, erzählt die Studentin. | |
Sieben Uhr, eine wichtige Tageszeit in Salecina, denn dann gibt es hier das | |
Abendessen. Alle Gäste versammeln sich an den langen, gedeckten Tischen und | |
der Kochdienst serviert die selbst gekochten Gerichte. „Wir wurden von den | |
anderen erwartet, auch wenn uns keiner kannte. Wir gehörten vom ersten | |
Moment dazu.“ | |
## Internationale Begegnungsstätte | |
Salecina ist ein Haus der internationalen Begegnung. Mehr als die Hälfte | |
der Gäste sind Deutsche, je etwa 20 Prozent Schweizer und Italiener. Das | |
ganzjährig geöffnete Haus beherbergt bis zu 56 Personen. Man kommt zum | |
Wandern, Mountainbiken und zum Surfen auf der Engadiner Seenplatte. Oder | |
zum Skifahren auf den Hängen des Aelas, Corvatschs und an der Diavolezza. | |
Die Langlaufloipe führt direkt am Haus vorbei. Auch zahlreiche | |
Kunstgalerien und Museen gibt es um Maloja herum zu entdecken. | |
Doch manche „Salecinesen“, wie treue Gäste genannt werden, wollen einfach | |
nur ausspannen, die Bergluft genießen und die besondere Gemeinschaft | |
erleben. Gruppen nutzen das Haus für einen Bildungsurlaub und Schulklassen | |
für Projektwochen. In Salecina finden Tagungen und Seminare statt – | |
natürlich alles von Gästen selbst organisiert. | |
Während Elena Thomsen spricht, spielt nebenan im Kinderspielzimmer ihre | |
dreieinhalbjährige Tochter Maja mit anderen Kindern. „Ich finde es wichtig, | |
dass Kinder die Möglichkeit haben, solidarische Gemeinschaften zu erleben. | |
Sie können lernen zu teilen und auf andere Rücksicht zu nehmen“, so die | |
Mutter. Außer dem Spielzimmer für die Kleinen gibt es noch diverse Räume im | |
stattlichen Wohnhaus des Hofes, darunter auch eine Bibliothek und einen | |
Bewegungsraum mit Klavier und Yogamatten. | |
Ein zweites Gebäude, der ehemalige Stall des Bauernhofes, dient heute als | |
Schlafhaus, mit bescheiden eingerichteten Zimmern. „Für manche Gäste ist | |
die Schlafsituation schwierig“, weiß Antonio Galli, einer von vier | |
Betriebsleitern. „Wir haben nur zwei Zweierzimmer. Dazu sieben Viererzimmer | |
und zwei Zwölferzimmer.“ | |
## Ökologischer Gästebetrieb | |
Die Betriebsleiter – zwei Frauen und zwei Männer aus Italien, Schweiz und | |
Deutschland – sind schichtweise im Einsatz und kümmern sich um | |
Reservierungen und Abrechnungen. Sie unterstützen die Gäste bei der | |
wöchentlichen Menüplanung und lassen die Lebensmittel anliefern. Sie holen | |
Ankömmlinge, die mit Bahn und Bus anreisen, an der Bushaltestelle in Maloja | |
mit dem Auto ab und bringen sie bei der Abreise wieder ins Dorf. Denn das | |
ist in Salecina erwünscht: Gäste sollten nicht mit dem Wagen anreisen, | |
sondern öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder wenigstens | |
Fahrgemeinschaften bilden, aus ökologischen Gründen. | |
Von Anfang an hat das alternative Gästehaus auf Nachhaltigkeit und einen | |
sanften Tourismus gesetzt. Die Lebensmittel werden saisonal und möglichst | |
regional eingekauft. Milch aus der Latteria im Ort, Fleisch vom Metzger im | |
Tal, Geißkäse von der Alp Cavloc. Der Strom stammt aus erneuerbaren | |
Quellen, geheizt wird mit Holzschnitzeln und die Gäste trennen den Abfall. | |
Handwerkliche Arbeiten werden bei regionalen Betrieben in Auftrag gegeben. | |
„Salecina zielt drauf, mit der Region zusammenzuarbeiten, wir organisieren | |
hier auch kulturelle Veranstaltungen. Inzwischen sind wir ein touristisches | |
Vorzeigemodell“, darauf ist Antonio Galli stolz. Salecina wurde als | |
ökologischer Gästebetrieb mit dem führenden Schweizer Nachhaltigkeitssiegel | |
ibex fairstay, das früher „Steinbock-Label“ hieß, ausgezeichnet und erhie… | |
fünf von fünf möglichen Steinböcken. | |
Der Züricher Buchhändler Theo Pinkus und seine Frau Amalie Pinkus-De Sassi | |
gründeten 1971 die Stifung Salecina und erwarben im selben Jahr den | |
verlassenen Hof. Die beiden waren überzeugte Sozialisten, sie eine | |
Frauenrechtlerin und er ein führender Kopf der Schweizer | |
Naturfreundebewegung. Salecina sollte ein Treffpunkt für politisch | |
interessierte und engagierte Menschen sein und ist es bis heute geblieben. | |
## Jüngere entdecken das Haus | |
Auch viele Ideen von damals haben überlebt. Die Selbstverwaltung. Oder der | |
Übernachtungspreis, der sich nach dem Einkommen des Gastes richtet. Jeder | |
kann sich nach Selbsteinschätzung in drei unterschiedliche Preisstufen | |
einordnen und zahlt entweder ermäßigt, kostendeckend oder den Solidarpreis. | |
Darüber hinaus gibt es noch einen Sozialfonds, der sich aus Spenden speist | |
und für Menschen mit besonders wenig Geld gedacht ist. | |
„Viele Gäste fühlen sich sehr stark mit dem Projekt verbunden“, erzählt | |
Betriebsleiter Antonio Galli. Manche kämen sogar schon in dritter | |
Generation. Etwa 9.000 Übernachtungen zählt das Gästehaus pro Jahr. In | |
letzter Zeit entdecken immer mehr Jüngere das Haus in den Schweizer Bergen | |
für sich. So wie Elena Thomsen. In Frankfurt macht die junge Frau in der | |
Transition-Town-Bewegung mit, Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit sind | |
ihr wichtig, und sie hat Salecina bewusst als Urlaubsziel gewählt. | |
„Man fühlt sich viel wohler, wenn man nicht auf Kosten anderer Menschen | |
Urlaub macht.“ Gerade im edlen Schweizer Engadin, wo viele Portugiesen, | |
Serben und Kroaten für geringste Löhne in Fünfsternehotels das Geschirr | |
spülen und Ferienwohnungen wienern, ragt das Konzept von Salecina heraus. | |
Die Frankfurterin hat nach ihren ersten Urlaubstagen bereits Erfahrungen | |
mit der Selbstorganisation gesammelt. „Manchmal trägt sich im Dienstplan | |
niemand zum Spülen ein“, ist ihr aufgefallen. „Aber letztlich finden sich | |
immer ein paar Leute.“ Doch ein lückenloser Dienstplan ist ihr nicht so | |
wichtig. „Die Energie im Haus ist sehr positiv.“ Elena Thomsen weiß schon, | |
dass sie wieder kommen wird. | |
27 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Maike Hildebrand | |
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