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# taz.de -- Dorfleben im Unterengadin: Allegra im Tal der Eigensinnigen
> Im Unteren Inntal sind nicht nur intakte idyllische Alpendörfer zu
> finden. Im Unterengadin ist Vallader für viele immer noch die
> Muttersprache.
Bild: Alpenidylle pur: Das Dorf Guarda im Unterengadin
Anders als im mondänen Oberengadin ist im Unterengadin viel Platz für
Quereinsteiger, Querköpfe, Träumer und ein eigenes Idiom, das Vallader.
Gewiss, das Bündner Fleisch und die Salsiz von Hatecke sind köstlich. Dafür
muss man aber nicht ins Unterengadin fahren. Doch warum dann? Warum
ausgerechnet die umständliche Reise in das entlegene Gebirgstal auf sich
nehmen, das selbst für Schweizer aus anderen Landesteilen nicht gerade um
die Ecke liegt?
Von Zürich muss man erst mal eineinhalb Stunden nach Landquart fahren, dort
in die Rhätische Bahn umsteigen und nach weiteren eineinhalb Stunden
vielleicht noch ein paar Kilometer im Postauto zurücklegen. Spektakuläre
Gipfel wie der 3.411 Meter hohe Piz Linard ballen sich im relativ schmalen
„Unteren Garten des Inn“ – so die wörtliche Übersetzung von „Engiadina
Bassa“ – zusammen, und während sich der Zug auf 1.400 Meter
hinaufschlängelt, tauchen lauter Weiler mit exotischen Namen auf. Ardez,
Susch, Guarda: Manche sind so winzig, dass die Bahn nur auf Verlangen hält.
Lavin zum Beispiel hat weniger als 200 Einwohner und erstaunlich
prachtvolle Häuser. Viele wurden von den Engadiner Zuckerbäckern erbaut,
die einst als Gastarbeiter nach Italien gingen, sich dort als Konditoren
verdingten und reich zurückkamen. Wie in der Gegend üblich, gruppieren sie
sich um einen zentralen Brunnen herum. Darunter auch eins der beiden Hotels
am Ort: das Piz Linard, das einem schon einen Vorgeschmack von den
eigenwilligen Unterengadinern gibt.
„Wir sind wir selber und machen das, wozu wir Lust haben“, erklärt Hans
Schmid das Konzept. Man wolle eine Gastlichkeit pflegen, die zu den
Betreibern und zum Dorf passe. Geführt wird das Haus formell als
Aktiengesellschaft, im Grunde aber wie eine Genossenschaft. Als Künstler
und Quereinsteiger, der früher in der öffentlichen Verwaltung anderer
Kantone tätig war, hat Schmid den rund 140 Jahre alten Gasthof mit seinem
Team per Crowdfunding übernommen und renoviert. Vier Millionen Schweizer
Franken kamen von privaten Gönnern, weitere Beträge steuerten die
Denkmalpflege und die Schweizerische Berghilfe bei.
Herausgekommen ist ein rundum wohnliches Haus, in dem es sich vorzüglich
übernachten und vor allem speisen lässt und die rasende Seele tatsächlich
zur Ruhe kommt. Nach zehn Jahren kann man zwar noch immer keine schwarze
Null schreiben. Trotzdem fällt die Bilanz positiv aus. Abgesehen davon,
dass sich die Gäste wohl fühlen und wiederkommen, hat sich das Hotel als
Ort für den Dorfstammtisch etabliert. Und anders als in anderen Betrieben
werden die Mitarbeiter ganzjährig beschäftigt, dabei auch Flüchtlinge aus
Tibet oder Eritrea erfolgreich in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert.
Selbstverständlich werden auch fast ausschließlich Produkte aus der Region
aufgetischt. Das knusprige Ruchbrot kommt vom Dorfbeck, der Käse von Jürg
Wirths benachbartem Demeterhof. Auch den hat der gelernte Journalist per
Crowdfunding erworben, nachdem er aus der Großstadt in die abgeschiedene
Bergwelt kam und seinen Beruf an den Nagel des Kuhstalls hängte. Jetzt
produziert er jährlich rund eine Tonne Käse und baut je nach Gusto mal
Kartoffeln, mal Artischocken an.
## A wie Alp und B wie Bauern
Nicht nur seinen elf Kühen scheint es dabei gut zu gehen, sondern auch ihm
selber. Trotz der mitunter harten Arbeit hat er Zeit und Muße, die
Wartehalle des Bahnhöflis in ein kleines Bistro zu verwandeln, wo es neben
guten Weinen hin und wieder auch Filme oder Konzerte gibt. Außerdem hat er
ein amüsantes „Berglandwirth-ABC“ verfasst.
Unter A wie „Alp“ steht da „Sommerferienlager für Kühe“, unter B wie
„Bauern“: „Volksgruppe, die nicht nur Direktzahlungen bezieht, sondern si…
im besten Fall auch für die Erhaltung der Kulturlandschaft einsetzt.“
Keine Frage: Wer hier wie Jürgen Wirth lebt und arbeitet, braucht schon
eine Überlebensstrategie, um mit den Bedingungen in 1.432 Meter Höhe
zurechtzukommen. Auf jeden Fall muss er an das glauben, was er macht. Ob es
Wurst ist, Käse, ein Hotel …
## Uralte Kratztechnik
Oder Sgraffiti: Die macht zum Beispiel Josin Neuhäusler im Nachbardorf
Susch. Wenn etwas typisch für die Häuser im Unterengadin ist, dann sind es
die Rosetten, Blumen-, Tier- oder Fantasiemotive an den Fassaden. Sie sehen
aus wie gemalt. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine uralte
Kratztechnik, die aus Italien stammt und auf das 16. Jahrhundert
zurückgeht. „Auf dunklem Untergrund wird ein weißes Gemisch aus Kalk und
Sandstein aufgetragen, und bevor es trocknet, werden die entsprechenden
Motive ausgekratzt“, erklärt der Fachmann. Der Vorteil gegenüber Malerei:
Abgesehen davon, dass Sgraffiti oft jahrhundertelang halten, ergibt sich
durch das Relief je nach Einfall der Sonne ein reizvolles
Licht-Schatten-Spiel.
Schon Josin Neuhäuslers Vater hat so manches Haus mit seinem Sgraffito in
ein Schmuckstück verwandelt, nun führt er die Tradition weiter. Und weiht
auch gern Interessenten in die geheimnisvolle Technik ein.
Man mag es erst für aufgesetzte Folklore halten, wenn einen die Menschen
im Unterengadin mit „allegra“ statt dem sonst üblichen „gruezi“ begrü…
und einem „bellas vacanzas“ wünschen. Wenn am Bahnhof „Staziun“ steht …
die Straßen auf Namen wie „Rablüzza“ oder „Via da Trü“ lauten. Aber …
Menschen in den Geschäften, im Postauto oder in der Sauna lauscht, kann
sich schon vorstellen, dass Vallader für viele die erste Muttersprache ist.
Was sich anhört wie ein italienischer Dialekt mit französischer oder
deutscher Einfärbung, ist eine Variante des Rumantsch, des Rätoromanischen.
Um die 40.000 Sprecher gibt es in ganz Graubünden. Doch sprechen keineswegs
alle dasselbe Idiom. Je nach Tal wird neben Vallader auch Puter, Sutsilvan,
Surmiran und Sursilvan gesprochen. Wenn „Ja“ in einem Idiom „gie“ heiß…
dann heißt es im anderen „ea“ oder „schi“. Insofern ist es fast ein Wu…
dass das Vallader überlebt hat.
„Das liegt vielleicht auch an den vielen Portugiesen, die im Unterengadin
arbeiten und sich damit leichter tun als mit Schweizerdeutsch“, erklärt
Mario Pult, der sich in der Lia Rumantscha, der Dachorganisation aller
rätoromanischen Sprach- und Kulturvereine, für Erhalt und Förderung des
Idioms einsetzt. Wobei er zugibt, dass es schon von einer gewissen Sturheit
zeugt, wenn sich die fünf Sprachgebiete noch nicht mal auf eine gemeinsame
Schriftsprache einigen können.
## Der Odol-König kauft sich Schloss Tarasp
Vom Eigensinn ist es nicht weit zur Verrücktheit. Und davon muss Karl
August Lingner eine ganze Portion besessen haben, der als „Odol-König“ in
die deutsche Geschichte einging. Vor gut hundert Jahren verliebte er sich
in das tausendjährige Schloss Tarasp, das sich unweit von Lavin
majestätisch auf einer Felskuppe erhebt. Damals war es nur eine Ruine. Wenn
er es für 20.000 Schweizer Franken kaufte, dann soll er um die 5 Millionen
investiert haben, um es in ein kleines Neuschwanstein zu verwandeln. Kein
Aufwand wurde gescheut, um es mit erlesenen Möbeln, Bädern voll
handbemalter Fliesen, holzgetäfelten Wänden aus italienischen Palästen
auszustatten.
Doch genießen konnte der Mundwasser-Krösus all die Pracht nicht: Kurz vor
der Einweihung starb er 1916 ausgerechnet an Zungenkrebs. Nachdem das
Märchenschloss fast hundert Jahre lang der deutschen Familie von Hessen
gehörte, die es schließlich nur noch loswerden wollte, stand die Gemeinde
vor einem Problem: Was tun mit dem Juwel, das so aufwendig in der
Unterhaltung ist?
Als Retter in der Not fand sich Not Vital. Der international anerkannte
Künstler, der 1948 im Unterengadin geboren wurde, heute in New York, Peking
und im Niger lebt und seinem Heimatort Sent unter anderem schon eine
„Eselsbrücke“ spendierte, besah sich die Immobilie, verliebte sich
seinerseits in sie und wurde 2016 ihr neuer Eigentümer. Seitdem ergänzen
sowohl Stücke seiner Sammlung von Miró bis Andy Warhol als auch eigene
Werke der Konzeptkunst das gediegene Interieur des Schlosses. Eine
spektakuläre und ebenso eigenwillige wie überzeugende Mischung – wie so
vieles im Unterengadin!
10 Feb 2018
## AUTOREN
Ulrike Wiebrecht
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