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# taz.de -- Aus dem taz-Magazin: Refugium der Utopien
> Der Monte Verità ist die Schweizer Teststrecke der Erzählung von Freiheit
> und Flucht. Die Geburtsstätte der Alternativbewegung. So soll das für
> immer bleiben. Kann das gut gehen?
Bild: Einer der Großen des Monte Verità: Hermann Hesse.
Offenbar soll niemand auf die Idee kommen, sich den Weg ins Himmlische
leicht vorzustellen, unbeschwerlich. "Benvenuti in Paradiso", heißt es auf
der ersten Seite des Leporellos, mit dem dieses Stück Überirdisches wirbt,
"Willkommen im Paradies". Vom Postbusbahnhof ist es nicht zu sehen, auch
von der Seeseite aus liegt es verdeckt. Der Hügel, der nun erklommen werden
muss, sieht, alles in allem, auch nicht höher aus als gewöhnliche
Erhebungen jenseits der Alpen. Wir sind im Tessin, das Städtchen heißt
Ascona, dort campiert in diesen Tagen die deutsche
Fußballnationalmannschaft, und der See heißt Lago Maggiore. Aber weder ist
das Trainingslager als Paradies zu begreifen, noch geht es hier um Fußball,
auch wenn es der Zufall will, dass dieser überirdische Flecken quasi
oberhalb des Camps von Joachim Löw thront. Der meteorologisch fassbare
Himmel ist jedenfalls fett verhangen, es könnte bald schütten, es hat gar
keinen Anschein von Dolce Vita, und wie sich im Laufe von zwei Tagen
erweisen wird, ist dies nicht falsch prophezeit. Im Gegenteil, im
lauschigen Tessin kann und wird es regnen, wie man es sonst nur in
Norddeutschland vermutet. Aber was solls. Paradies ist Paradies, da sollen
durchnässte Klamotten und spontan abgekühltes Gemüt doch bitte nicht
stören.
Hoch über dieser Siedlung wird nun das Paradies liegen, und es kann doch
nicht so schwer sein, es zu erreichen. Doch der Marsch hinauf, ungefähre
viertausend Stufen hinter sich lassend, keinen Meter ohne ebenen Gang,
dieser Aufstieg ist das Allerletzte. Paradies - es nimmt sich aus, als
müsse ein Aufenthalt dort mit Mühen erkauft werden. Möglicherweise trägt zu
dieser stark empfundenen Last des Aufstiegs bei, dass die Fußgängerzone vom
Omnibusbahnhof, den man passiert, kommt man mit der Eisenbahn bis zur
Endstation Locarno, mit Geschäften gepflastert ist, die auf einen gewissen
Wohlstand ihrer Kundschaft setzen, Juwelen, Uhren, Porzellan, Kunst und
Kunstgewerbe, Bäderzubehör und eine Buchhandlung. Fehlte nur noch ein
Treppenliftgeschäft, das würde passen, denn die Menschen, die vor den
Schaufenstern stehen bleiben, haben ihre erste Lebenshalbzeit doch sehr
hinter sich. Insofern musste der Aufstieg enttäuschen. Steil führt er nach
oben, empörend steil. Zwischendurch ein Stück Straße von vielleicht
zweihundert Meter Länge, aber sie auch nicht plan, zur zweiten Treppe
führend.
Oben, endlich, verborgen hinter Gebüsch und Bäumen mit ziemlich hohen
Kronen, das, was uns gepriesen ist. Der Monte Verità, der Berg der Wahrheit
- Anfang des vorigen Jahrhunderts das Mekka der allerersten
Alternativbewegung, das "Paradies", das andere Leben, das
Experimentierfeld, die Teststrecke einer großen Erzählung vom Ausstieg aus
allen Zwängen, aus bürgerlichen Korsetts und spießigen Traditionen. Es war,
falls die Überlieferung nicht irgendwann noch etwas anderes behauptet, das
erste Aussteigerprojekt der europäischen Moderne. Und dass es hier am
südlichen Rand der italienischen Schweiz angesiedelt wurde, hat eben damit
zu tun, so mutmaßt Andreas Schwab, der wichtigste Chronist dieses Hauses,
dass damals das Tessin einerseits zwar eidgenössisch noch war, aber eben
noch nicht Italien. Es fand sich in der sicheren Schweiz - und dieses
Tessin hatte noch fast nichts vom Mondänen, das in den Fünfzigerjahren mit
palmengeschmückten Orten wie Lugano, Bellinzona, Locarno oder eben Ascona
fantasiert wurde. Dieser Teil, selbst aus Zürcher Sicht weit hinter den
Alpen, war noch nicht befleckt von den Segnungen der Moderne. Dass Ascona
keinen Bahnanschluss hatte, sprach in den Augen der Pioniere des Monte
Verità für ihre Wahl, es war jedenfalls kein Hindernis. Es musste nur weit
weg sein - ganz weit weg, kein weltstädtischer Bazillus sollte es
verseuchen, kein bürgerlicher Schmutz es heimsuchen.
Das alles wäre als Wissen im Übrigen längst versunken, hätte es nicht in
den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts einen neuerlichen Anlauf
gegeben, eine Welt zu kreieren, die sich als aus der Welt aussteigend
verstand. "Macht kaputt, was euch kaputt macht", hieß es in jenen Jahren,
aber das Credo war nicht neu, das erkannte niemand besser als der
Kunstkurator und Documenta-Chef des Jahres 1972, Harald Szeemann. Ihm, dem
1933 in Bern geborenen Schweizer, verdankt der Monte Verità eine gewisse
Unsterblichkeit. Szeemann war es, der diesen Berg als Geburtsstätte der
Alternativbewegung überhaupt erfand, er gab diesem Topos den nötigen
erzählerischen Schwung, er konstruierte aus einem Haufen von Details ein,
nun ja, Kunstwerk. Das präzise Datum einer Gründung dieser Siedlung auf dem
Wahrheitsberg ließ sich nämlich gar nicht recht nennen, aber Szeemann nahm
alle möglichen Zufälligkeiten zusammen und buk daraus einen Strang von
Folgerichtigkeit. 1978 nannte er eine Ausstellung "Monte Verità". Es war
ein perfekter Zeitpunkt. Das Jahr nach dem Deutschen Herbst, die Zeit, als
Verena Stefans Frauenselbsterfahrungs- und -behauptungsbuch "Häutungen"
erschienen war, als die kommunistischen Subkulturen abgewirtschaftet hatten
und überall in der westlichen Welt Worte wie Selbsterfahrung,
Ganzheitlichkeit und Utopie zu magischen Vokabeln wurden.
Szeemann aber guckte sich die Sache genau an, ließ seine Assoziationen
schweifen - und befand, eine Geschichte der alternativen Geschichte ließe
sich nicht erzählen, hielte man sich unnötig mit Details auf, wer genau
welche Baupläne zu realisieren in Auftrag gab. Der Kunsthistoriker nahm
einfach zusammen, was offenkundig nicht getrennt wahrzunehmen ist. So schuf
er die Legende vom Monte Verità. Die davon berichtet, dass sich der
russische Anarchist Michail Bakunin 1869 in Locarno niederließ und von der
herrschaftslosen Gesellschaft träumte; dass Lebensreformer um das Jahr 1900
um Ascona herum eine Sonnenkuranstalt planten, vom dritten Weg zwischen
Kapitalismus und Kommunismus träumten, dass von Kooperativen die Rede war,
von Individualität, der Liebe zum Tier und zum Menschen, weshalb in der
Tessiner Urbevölkerung rasch von den Gemüsemenschen die Rede war, von den
Irren, die murmelnd an Wegen anzutreffen waren, betend, der Sonne entgegen.
Szemann war ein kluger Mann, er wusste darum, dass ein Ort erst zum
Fluchtpunkt von Träumen wird, wenn man ihm die Aura des Magnetischen
verleiht: wohin alle Späne treiben. Der Monte Verità hatte ja auch allen
anderen Bohemetreffpunkten gegenüber einen unschätzbaren Vorteil.
Worpswede? Bei aller Liebe zu Modersohn, Modersohn-Becker, Rilke und
Vogeler - aber das Teufelsmoor bei Bremen war doch die meiste Zeit des
Jahres ein entsetzlich öder, triefend kalter Platz. Viel Nebel, jede Menge
Nieselregen, keine Verbindungen zur weiten Welt. Oder Skagen? Die dänische
Künstlerkolonie an der Spitze Jütlands litt während ihrer großen Zeit
Anfang des vorigen Jahrhunderts immer unter den gleichen Nachteilen wie
alle alternativen Kommunen nördlich der Alpen - zu weit weg von allem, was
dann doch das bohemistische Leben ein wenig komfortabel macht, von
Kopenhagen zum Beispiel mehr als eine Tagesreise auf meist sandigen Wege
entfernt.
Ascona, Locarno und Minusio, über ihnen eben der Monte Verità, lagen da
viel, sehr viel näher. Zugverbindungen gab es dank des Gotthardtunnels von
Zürich und München allenthalben; es war für die europäischen Bohemes
andererseits ins Tessin keine Reise in die Nachbarschaft, doch es war nicht
ganz aus der Welt. Die Riviera nicht fern, das Italienische quasi vor der
Tür, das Klima hatte für alle, die aus kühleren Gegenden kamen, etwas
Verführerisches.
Und so sammelte Szeemann geistes- und kulturwissenschaftlich alles an
Indizien, was seinem Herzen nahelag: ein Personen- und Sachverzeichnis der
alternativen Prominenz jener Zeit. Alles, was damals Rang und Namen hatte,
so legte der Kurator nahe, musste sich auf den Monte Verità und seine Magie
beziehen; er fertigte für seine beim alternativen Publikum in Berlin,
Frankfurt am Main und Hamburg sehr beliebten Ausstellungen eine
Ahnenschaft. Denn wollte nicht auch die alternative Bewegung der jüngsten
Zeit einen dritten Weg, eine Welt der Kooperationen, Sonnenduschen und den
ganzheitlicheren Körper? War nicht auch sie ein Aufschrei gegen die
Zumutungen der Moderne, gegen Lohnarbeit, überhaupt gegen Arbeit und das
Elend des Lebens an sich? Auf dem Monte Verità ist dies alles fein erprobt
worden, wenngleich Andreas Schwab, der Chronist dieses Milieus, zu bedenken
gibt, dass Szeemann intellektuell alles zusammenrührte, was vielleicht
nicht zusammenpasste. In Ascona, noch auf Seehöhe, zeigt er ein Lokal, in
dem die Sünder des wahrhaftigen Lebens Platz nahmen. "Erich Mühsam", sagt
er, "aß dort zu Abend, auch Fleisch." Tierisches als Nahrung aber war in
den Hütten und Speisesälen des Monte Verità etwa so erlaubt wie eine
Teufelsverehrung mitten im Vatikan.
Es war ein Whos who der tonangebenden Geisteslandschaft in Wartestellung,
was ins Tessin reiste. Nicht alle mochten sie auf dem Monte Verità Herberge
nehmen, aber wer auf sich hielt, fuhr dorthin, nach Ascona, Locarno, oder
wurde gleich, wie Hermann Hesse nur etwas weiter weg bei Lugano, in
Montagnola sesshaft. Liest man all die Werke, Traktate, Hervorbringungen
künstlerischer Art jener Jahre von Männern und Frauen, die zur Community
des Monte Verità gezählt werden können, kommt ziemlich viel Weltschmerz,
Weltenkummer und Weltuntergangslyrik zusammen. Eine Atmosphäre der
Vergeblichkeit und zugleich des ästhetischen Protests gegen alle Moderne.
Aber man schätzte die Schweiz eben nicht nur als Land, um der inneren
Emigration so etwas wie geistiges Unterfutter einzunähen, sondern auch
praktisch als Heimstatt des echten, des politischen Exils. Während des
Ersten Weltkriegs wird Ascona einer der beliebtesten Zufluchtsorte. Bloß
weg von der Kriegsmaschinerie, wer in die Schweiz floh, wollte mit
soldatischen Körpern sich nicht gemein machen und keineswegs Kanonenfutter
werden. Das machte die neutrale Schweiz ja überhaupt so attraktiv: Freisinn
als Credo, gemäßigt neugierig, fern von weltanschaulicher Mission im
Verständnis seiner Bürger. Wer seinen Aufenthalt bezahlen kann, wird
bleiben können - und die Jüngerschar, die es ins Tessin zog, verfügte ja
über die Mittel, sich das Extraweltliche trotzdem behaglich zu machen. Das
Museumhaus, in dem die Ausstellung von Harald Szeemann konserviert ist und
das dringend der Renovierung bedarf, wirkt auf den ersten Blick so schlicht
und natürlich, wie es sich für ein Gebäude der alternativen Architektur
gehört. Aus Holz die Fassade - aber in den Räumen bereits Zentralheizungen.
Nein, die Boheme hing glühend dritten Wegen und natürlichen Lebensweisen an
- aber bitte ohne Frieren und Zittern!
Es war ein Wellnessniveau, das sich in den Niederungen des Tessin, bei der
Urbevölkerung, nicht eben spiegelte. Dort heizte man mit Holz, wenn
überhaupt. Und es war ja zugleich eine Differenz in den Lebensumständen,
die durchaus zu erzielen beabsichtigt war. Man wollte in Ruhe gelassen
werden, man suchte das Abgetrennte, doch eben, so Monte-Verità-Interpret
Andreas Schwab, "um dabei beobachtet zu werden", auf dass es anderen zum
Vorbild gereiche. Auch dies, kann angefügt werden, ist heftig verwandt mit
unseren Alternativen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Deren Ausruf
lautete ja, falls man die Jahre des ökoalternativen Neuaufbruchs so fassen
darf: "Wir sind anders, wir wollen nicht sein wie ihr - nehmt euch uns als
Vorbild."
Viele wollten es damals nicht. Was aus Zeitungsschnipseln sich erschließt,
ist vor allem dies: Die Tessiner nahmen die Pilgerer auf den Spuren ihrer
neuen Welten keineswegs klaglos hin, sprachen von "Irren" und "Wirren",
aber, nun ja, die Schweiz ist eben die Schweiz, man übergeht sich im
Ungefähren. Eiferer, die die Bauten auf dem Monte Verità hätten planieren
wollen, gab es keine. Warum auch? Historische Fotos in der
Erinnerungsstätte zeigen ein Ascona, das eher weltverloren wirkte, die
sträucher- und gestrüppgarnierten Hügel bar jeden menschlichen Eingriffs.
Die Boheme, sie brachte eben auch diesen Flecken Schweiz auf die
Wahrnehmungswandermappe der frühen alternativen Kreise - und mit der Zeit
eben auch Geld. Und trotzdem verhielt man sich kopfschüttelnd,
desinteressiert oder pragmatisch. Irgendwann gehörte der Monte Verità zu
Ascona wie eine Mütze zum Kopf. Es wärmte das Selbstbewusstsein der
kommunalen Räte sehr, nicht mehr im letzten Winkel zu leben, sondern,
wenigstens irgendwie, am Puls der Zeit.
Auf der anderen Seite hatte man mit den Phantasmen der Gäste nichts zu
schaffen. Mit den spökenkiekerischen Obsessionen der Künstler, die dort
Quartier nahmen. Die sich mit Genuss unter Sonnenduschen stellten, die
immer noch zu sehen sind, freilich verrostet. Ein mächtiges Ölbild hängt im
Museum, das den ganzen Grusel, der auf dem Wahrheitshügel kultiviert wurde,
vielleicht am stärksten einfängt. Zu sehen sind ein Mann und eine Frau
unter einem Baum; an ihrer rechten Seite sieht man eine giftige, schmutzige
Stadt; links von ihnen, gemalt in einem Lichtkegel, äsen drei Rehe, ein
Urbild der natürlichen Familie. Der Horror sei die Stadt, aus der ein
jeder, der rechtschaffen ist, sich nur kontaminiert retten kann. Hinter dem
Adam-und-Eva-Paar steht ein Sensenmann, eine Todeswarnung, die wahr würde,
fänden sie durch allerlei Sündenangebote hindurch nicht zum Pfad der Tugend
zurück. Davon abgesehen, dass sich gerade dieses Gemälde wie eine Karikatur
grünalternativen Naturglaubens ausnimmt, ist ihm auch der Kinderglaube an
die Unschuld, ja Körperlosigkeit der eigenen Eltern eingeschrieben - ein
heterosexueller Propagandaschinken, dessen Nähe zu
Blut-und-Boden-Gemütshaltungen verblüfft. Geht man aber den Monte Verità
noch ein paar Treppen höher, kommt man an ein Haus, das nur selten geöffnet
ist. Es nennt sich Elisarium und muss ein Schrein genannt werden, ein Haus,
in dem alle Exponate mählich zu verstauben oder gar zu verschimmeln drohen.
Kein Geld ist vorhanden, um es zu bewahren. Man sieht eine Art
übermannshohes Panoramabild, gemalt von Elisar von Kupffer - mit immer
gleichem Motiv, eben vorgeschlechtsreifen Knaben in einer Welt, frei von
Verhüllung und Soldatentum, unschuldig ihr Gestus, bar allen sexuellen
Interesses. Auch dies war der Monte Verità, ein "Sanatorium der Sehnsucht",
wie Andreas Schwab ihn nennt, für alle Ideen und Fantasien, die mit den
damals geltenden bürgerlichen Standards von Sitte und Anstand nicht im
Einklang waren.
Ob diese Schätze, in welchem Teil des Monte Verità auch immer sie noch
geborgen sind, im Museum vor allem, je wieder glänzen können, steht
freilich dahin. Der Mann, der für die Zukunft des Konferenzortes angeheuert
wurde, heißt Claudio Rossetti und wirkt wie der freundlichste Mann, aber
nicht wie ein Manager. Aber als solcher hat er schon eine Menge geleistet
für diesen Laufsteg der antibürgerlichen Boheme des frühen vorigen
Jahrhunderts. Das Hotel ist renoviert, das Haupthaus mit einem
Konferenzsaal ausgestattet, ohne dass es die späte Bauhausform verloren
hätte. Er hat Wege anlegen lassen und sucht immer noch nach drei Millionen
Franken, um das Museum und noch andere Teile des Ensembles aufpolieren zu
lassen. Er sagt: "Ohne ganz normalen Konferenzbetrieb wird aus dieser
Anlage nichts mehr, wir müssen einfach akquirieren als gewöhnlicher
Tagungsbetrieb." Um die Magie des Monte Verità - wäre es dann um sie nicht
geschehen? Rossetti lächelt und kommt mit einem schlagenden Argument, dem
wichtigsten: "Die Magie muss sich auch in rentablen Zahlen ausdrücken."
Womit er ja recht hat. Die alternativen Zirkel wissen ja längst nicht mehr
automatisch vom Monte Verità, sie gehen ins Engadin Ski fahren, nach
Salecina, eine linksradikal inspirierte Herbergsgründung, prominent
geworden in den Siebzigerjahren. Oder gleich nach Davos, zu den
alternativen Veranstaltungen des Weltwirtschaftsforums - die Schweiz hat ja
immer neue Orte, um Sehnsucht nach dem Besinnlichen zu kanalisieren. Die
alternativen Menschen von heute wollen es wie ihre Ahnen ja nicht unbequem
haben. Insofern ist der Monte Verità nicht die allerbeste Adresse. Man muss
eben in Locarno aussteigen, mit dem Omnibus nach Ascona und dann zu Fuß
sehr hoch nach oben.
Schließlich fehlt diesem historischen Platz so etwas wie eine Eigenheit:
Ascona ist längst kein Fischer- und Bauernörtchen mehr, mit edlen Wilden
als Einwohnern, sondern eine touristisch kalkulierende Gemeinde, die schon
in den Fünfzigerjahren still dafür Sorge trug, dass sich in diesem Teil des
Tessins nur das gediegene Publikum ansiedelt, keine Menschen mit Spleens
oder Ticks, Irre oder Wirre. Kein Wunder, dass Opel Ascona, erstes Baujahr:
1970, eine Automarke war, die niemand fuhr, der für cool gehalten werden
wollte. Für den musikalisch entscheidenden Fortschritt hält man in Ascona
bereits, dass sommers ein Jazzfestival gegeben wird - natürlich nicht so
bedeutend wie das in Montreux. Nun, das auch auf keinen Fall: Man lässt
Dixieland spielen, eine Stilart, die direkt aus den wirtschaftswunderlichen
Fünfzigern importiert wurde. Ein Festival als Statement gegen alle
Versuchungen. Nein, Ascona will solide und bieder bleiben - und das ist für
den Monte Verità in gewisser Hinsicht der vorweggenommene endgültige Tod.
So kann nämlich aus einer Renaissance des wichtigsten Treffpunkts der
ersten Ökos und Weltverbesserer überhaupt nie mehr was werden. Da müssen
sich selbst die Versuche des Claudio Rossetti, auf seinem Berg eine
Kultstätte des Grünen Tees zu etablieren, wie längst verlorene Liebesmüh
ausnehmen.
Gleichwohl: Prominenz aus heutiger Zeit war ja schon da, das lässt sich
nicht leugnen. Der Vizeaußenminister von Afghanistan, Rigoberta Menchú,
Friedensnobelpreisträgerin von 1992, sogar Bill Clinton soll kurz überlegt
haben, dort eine Friedenszeremonie zu begleiten: kein schlechtes
alternatives VIP-Portfolio, um in der der "Da musst du gewesen sein"-Liga
ganz oben gelistet zu werden. Doch möglicherweise können Rossettis Pläne
zur Verwandlung in einen Konferenz- und Seminarplatz unter vielen anderen
gelingen - der Monte Verità könnte damit werben, mal etwas sehr Besonderes
gewesen zu sein.
Doch dieses Refugium hat immer davon gelebt, dass man nicht Krethi und
Plethi Einlass gewährte. Man hielt doch auf Eingeweihtheit und Distanz zum
gemeinen Volk. Insofern vertragen sich Projekte wie die Rossettis nicht gut
mit allen Wünschen, dass der Monte Verità seine anekdotenreiche Historie um
aktuelle Geschehnisse bereichern könnte. Doch was bleibt diesem Ort übrig?
Es könnte doch auch sein, dass die Schweiz als Lieblingsexil von
Flüchtlingen aus allen Lebenslagen, aus Krieg und Hunger, nicht mehr diesen
Rang hat. Dass sich der ideologische Mehrwert, den das wilde Tessin und
sein Monte Verità versprach, längst verflüssigt hat. Weil nämlich
inzwischen alle Welt auf Ganzheitlichkeit, Utopie und Grenzenlosigkeit des
Selbst hält, weil das Lebensreformprojekt oberhalb von Ascona nie etwas
anderes war als Wellness mit geistigem Anspruch und der Attitüde von
Weltbeglückung. Dieser ganze übernervöse Kram, der einst Monte Verità zum
Paradies für Aussteiger bürgerlichsten Zuschnitts machte, ist doch lange
schon Teil des modern bürgerlichen Lebensentwurfs schlechthin. Montessori,
Antiautorität, Demeter, alle Arten von asiatisch anmutender
Körperertüchtigung wie Tai-Chi bis zu Meditation, auch der Ausdruckstanz
als Antwort auf großbürgerlichen Walzer und adliges Schreiten nach einem
Menuett - eingeebnet ins große Ganze der modernen Lebensformen. Vegetarisch
zu essen ist auch längst üblich geworden und allenfalls noch ein fahles
Zeichen von Gesundheitsbewusstsein.
Geblieben ist - was für eine Leistung! - das Bewusstsein derer, die Harald
Szeemann dem europäischen Gesamtprojekt namens Monte Verità zuschlug. Diese
hysterische Sorge um die ganze Welt, diese Verachtung für alles, was die
Moderne hervorgebracht hat und die Inanspruchnahme aller Nützlichkeiten,
die die ansonsten geschmähte Welt so bereithält: Man fliegt als
Globalisierungsgegner ja recht gern um den Globus, um sich um die Natur zu
sorgen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fuhr man gern ins Tessin, um
dort die Welt zu geißeln. Der Monte Verità zeigt, dass eine solche Boheme
vor allem dies hinterlässt: viel Staub, um den bei feuchten Wetterlagen
jede Menge Mücken kreisen.
12 Jun 2008
## AUTOREN
Jan Feddersen
Jan Feddersen
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Reisen in Europa
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