# taz.de -- Clownerie im Tessin: „Der Narr ist immer gefragt“ | |
> Der Schweizer Clown Dimitri ist überraschend gestorben. Erinnerung an | |
> eine Begegnung in seinem Theater in Versico. | |
Bild: Clown Dimitri mit seiner Frau auf dem roten Teppich bei einer Filmpreisve… | |
Ein junger Mann, der auf einer Wiese mitten im Ort auf dem Kopf steht. Ein | |
anderer, der in die Luft springt und Salti schlägt. Eine Frau, die auf | |
einer Mauer balanciert. Sind die Spinner wieder los hier, ein paar hundert | |
Höhenmeter über dem Lago Maggiore? Nein, die nackten Körneresser leben | |
schon lange nicht mehr auf dem Monte Verità über Ascona. Die | |
Bildungsreisenden, die sich auf Spurensuche nach dem alternativen Aufbruch | |
begeben, finden heute einen wohlgepflegten Teepark an der Stelle, an der | |
Anfang des 20. Jahrhunderts Stadtflüchtlinge recht anarchistisch vor sich | |
hin gelebt haben. | |
Die Spinner sind weg. Sind sie nach Verscio umgezogen? Das mag sich fragen, | |
wen es in die 1.000-Seelen-Siedlung am Eingang zum Centovalli verschlägt, | |
jenem grünen Flusstal des wilden Melezza. Verschwitzte junge Menschen | |
ziehen in schlabbrigen Trainingsklamotten durch das stille Dorf mit seinen | |
grauen Natursteinmauern. Andere posieren frisch geschminkt in bunten | |
Commedia-dell’Arte-Kostümen für ein Foto. Durch ein Fenster sind die | |
Anweisungen eines strengen Übungsleiters zu hören. | |
Wer den Raum betritt, in dem etwa 20 junge Leute, die sich dem | |
Bewegungstheater verschrieben haben, lernen sollen, ihre Körper möglichst | |
perfekt zu beherrschen, sieht schnell, dass es sehr ernste Spinner sind, | |
die sich hier versammelt haben. Es sind Studenten. Sie werden ausgebildet | |
an der Academia Teatro Dimitri von Verscio und bringen junge Hochkultur ins | |
beschauliche Tessin. | |
## Ein Kraftort für Kreative | |
Was sie auch mitbringen, ist ein wenig Kommunenromantik. Die Akademie, die | |
höchstoffiziell ein Institut der Fachhochschule der italienischen Schweiz | |
ist, hat Räume in ganz Verscio angemietet. Werkstätten, Proberäume, | |
Turnsäle oder eine Gemeinschaftsküche für die Studenten. Das wirkt durchaus | |
g’spinnert in der beschaulichen Umgebung, in der sich viele wohlhabende | |
Menschen vor eigenwillig gestalteten Protzbauten am eigenen Pool bräunen, | |
in der am Grotto, den typischen Kellerwirtschaften, deftige Speisen in | |
Wohlstandsbäuchen verschwinden. Es ist eine Hochschule, die die Geschichte | |
der Gegend als Kraftort für Kreative wiederbelebt. | |
„Es lässt sich eben in Ruhe und ohne große Ablenkung arbeiten“, sagt Ruth | |
Hungerbühler, die Dekanin der Akademie, auf die Frage, ob in der Landschaft | |
oberhalb des Lago Maggiore die Kunst besser gedeihe als anderswo. In der | |
Abenddämmerung sitzt sie im Innenhof des Gebäudekomplexes, in dem sich das | |
Teatro Dimitri befindet. | |
Sie begrüßt einen drahtigen, älteren Herrn, der für die künstlerische | |
Geschichte des kleinen Ortes steht. Es ist der Clown Dimitri. Der Mann, der | |
1935 unten am See in Ascona geboren ist, hat schon beinahe überall auf der | |
Welt seine Kunst zum Vortrag gebracht. In der Schweiz ist er eine | |
Berühmtheit. Und er ist ein Überlebender jener künstlerisch so produktiven | |
Zeit am Lago Maggiore. | |
Etliche Kulturschaffende haben sich in der italienischen Schweiz | |
niedergelassen, als diese in eidgenössischem Vergleich noch eine arme | |
Gegend war. Seine Eltern waren bildende Künstler und hatten nichts dagegen, | |
dass sich Dimitri zu einem professionellen Spinner entwickelt hat. In | |
Verscio hat er 1971 zusammen mit seiner Frau das Teatro Dimitri gegründet, | |
danach eine Clownschule. Bis heute tritt er mit Soloprogrammen oder mit | |
seiner Familie im eigenen Theater auf. Ein Clownmuseum hat er auch in | |
Verscio aufgebaut. Er hat bis heute sein Publikum und ist sich sicher, dass | |
er es immer haben wird. | |
„Der Narr, der Komiker, der Clown, wird immer gefragt sein“, sagt er eine | |
Stunde vor seinem Auftritt und süffelt an einer Flasche Rivella-Limonade. | |
Gehört er einer aussterbenden Art an? „Clowns wird es immer geben“, sagt | |
er, „aber eben nicht viele. Es hat ja nie viele gegeben.“ | |
Einführungen ins professionelle Spinnen gibt es in Verscio übrigens auch | |
für Laien. Die Sommerakademie der Academia Teatro Dimitri bietet Kurse in | |
Clownerie an. Dass seine Clownschule zu einer Uni für Bewegungstheater | |
geworden ist, erfüllt Dimitri mit Stolz. Und dass sein Clowntheater gerade | |
zu einer Spielstätte für anspruchsvolles Offtheater umgemodelt wird, macht | |
ihm nichts aus, solange er weiter in seinem Theater auftreten kann. | |
„Das neue kulturelle Zentrum abseits der Metropolen“ nennt sich das Theater | |
heute. Unter der Leitung der Regisseurin, Schauspielerin und Tänzerin Kami | |
Manns wagt das Teatro Dimitri den Sprung weg vom Varieté hin zur | |
Performance. Es wird jetzt anders gesponnen in der Clownskulisse ganz groß: | |
mit Aufführungen von Rimini Protokoll und Forced Entertainment. Sheffield, | |
Berlin, Verscio. Die Rückkehr der Spinner an den Lago Maggiore ist ein | |
großes Ding. | |
Unten in Locarno, in den teuren Restaurants an der Piazza Grande, die mit | |
dem Gotthardtunnel ganz nahe an die Geldstadt Zürich heranrückt, sitzen die | |
Wochenendurlauber, die ein wenig mediterranes Klima auf Schweizer Boden | |
genießen wollen. Da hängen Plakate für das Teatro Dimitri. Ein wenig größer | |
sind die Plakate, die für die Sammlung der Fondazione Ghisla werben. Die | |
ist in einem knallroten Kubus untergebracht und zeigt, was der Kunstsammler | |
Pierino Ghisla und seine Frau Martine über die Jahre zusammengetragen | |
haben. | |
## Botschafter der Kunst | |
Ghisla war einst aus dem Tessin aufgebrochen, um in Belgien sein Glück zu | |
suchen. Gefunden hat er es als Großhändler für Obst und Gemüse. Als solcher | |
ist er zu Wohlstand gekommen. Jetzt ist er zurückgekehrt und stellt in | |
seiner alten Heimat aus, was er sich über die Jahre zusammengekauft hat. In | |
seiner Selbstwahrnehmung ist auch Ghisla ein Spinner, einer, der zu wissen | |
glaubt, dass im konservativen Tessin die meisten nicht viel anfangen können | |
mit moderner Kunst. Er sieht sich als Botschafter seiner Kunstwerke. | |
Eine Rostbronze von Robert Indianas „Love“-Skulptur, eine Grafik von | |
Christo, den er mal in dessen Atelier besuchen durfte, ein Lichtenstein, | |
ein Boetti, ein Bonalumi. Manches hat er, weil man es haben muss, manches, | |
weil er es haben wollte, und manches, weil er dem Geschmack seiner Frau | |
genüge tun wollte. Langsam werde die Sammlung, die seit 2014 zu sehen ist, | |
wahrgenommen, sagt Ghisla, obwohl es von der Kommune sehr wenig | |
Unterstützung für Werbung gebe. Er zeigt einen Artikel, der im | |
italienischen Kunstmagazin Arte erschienen ist. „Die haben über mich | |
geschrieben“, sagt er. | |
Die hätten ihn verstanden. Der Millionär gefällt sich in der Rolle des | |
Spinners. Beim Kaninchen mit Polenta nach dem Rundgang durch die | |
Ausstellung sollte man sich Zeit nehmen darüber nachzudenken, was die | |
konservativen Tessiner wohl über die vegetarischen Spinner vom Monte Verità | |
gedacht haben. | |
30 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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