# taz.de -- Aussteigeridylle: "Das Bergnest heißt Berzona!" | |
> Das kleine Dichterdorf liegt einige Kilometer vom Lago Maggiore entfernt | |
> in der Tessiner Bergwelt. Den Beinamen hat Berzona durch seine Bewohner | |
> erhalten: Alfred Andersch, Max Frisch und Golo Mann lebten hier. Ein | |
> Besuch in der Schweizer Aussteigeridylle zwischen grauen Riesen aus | |
> Granit | |
Bild: Im oberen Onsernonetal, Kanton Tessin | |
Das Valle Onsernone, sieben Uhr morgens. Der erste Postbus fährt das Tal | |
hinauf. Es ist diesig. Kalt. Der Nebel hängt noch im Berg. Auf der schmalen | |
Hauptstraße drängen sich Pkws und Lastwagen. Wir sind am Schweizer Südrand | |
der Alpen. Hier liegt das langgestreckte Onsernone-Tal. Neun Dörfer wie auf | |
einer Perlenkette. 900 Einwohner. Links und rechts steiles Gebirge. | |
Primeln, Veilchen und Kamelien im Frühjahr, Nelken und Almrausch im Sommer. | |
Dazwischen massive Steinhäuser auf den Maiensässen. Und Himmelsbläue. Am | |
Horizont die grauen Riesen aus Granit und Gneis. In der Mitte des Tales | |
liegt das kleine Dörflein Berzona: "Keine Restaurante, nicht einmal eine | |
Bar. Jeder Gast sagt sofort: diese Luft und dann diese Stille!" Der | |
Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat hier zeitweise gelebt. An der | |
Friedhofsmauer findet sich eine kleine Gedenktafel, die an den Ehrenbürger | |
erinnert. | |
Manches hat Frisch über das Tal in seinem Tagebuch notiert, über sein Haus | |
am Rand des Ortes und über seine Nachbarn Alfred Andersch und Golo Mann, | |
die hier schrieben. Manches über das Dichterdorf findet sich in seiner | |
Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" wieder. Heute wandern Touristen | |
mit dem Buch in der Hand durch Berzona. Auf der Suche nach dem türkisblauen | |
Swimmingpool der Familie Frisch oder dem Passweg ins Nachbartal, wie die | |
Hauptfigur Herr Gaiser. | |
Wir haben uns mit Marta Regazzoni in ihrem kleinen "negozio" verabredet, | |
eine Art Lebensmittelllädchen. Auf engstem Raum wurde hier bis vor kurzem | |
alles in wundersamer Weise zusammengehalten, was der Mensch braucht: Milch, | |
Salz, Backpulver, Zwiebeln, Wein und Schneckenkörner. Hier gingen die | |
"großen drei" ein und aus. Für ein Schwätzchen. Oder wenn ihnen etwas | |
fehlte. Zum Frühstück und zum Wandern. Marta schüttelt den Kopf. Am | |
Verstand der Touristen zweifelnd, die zum Vergnügen über die aus | |
Steinplatten gelegten steilen Alpwege hochsteigen. Um die Einsamkeit und | |
Stille zu genießen. Für die knapp 80-Jährige bedeuteten die Berge | |
zeitlebens Mühe und harte Arbeit. Erst vor wenigen Monaten hat sie ihren | |
kleinen Laden aufgegeben. | |
Vielleicht ihrer Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit wegen hat diese | |
karge Berglandschaft immer wieder Fremde angelockt. Romanciers und | |
Revolutionäre, Aussteiger und Asylsuchende. Anfang des vorigen Jahrhunderts | |
waren es vor allem Künstler, die das Tal für sich entdeckten - als | |
unberührten Ort. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg suchten Max Ernst und | |
Kurt Tucholsky im Valle Onsernone Zuflucht. Ernst Toller und Elias Canetti | |
waren hier. Dimitri, der weltberühmte Theaterclown, und Mario Botta, der | |
Tessiner Stararchitekt, wohnen heute in Nachbartälern. Eine kleine, | |
deutschsprachige Kolonie von Intellektuellen hat hier gelebt. Selbstbezogen | |
und allein um ihr geistiges Wohl besorgt, erinnern sich manche | |
Einheimische. | |
Der Taleingang. Die schmale Straße windet sich zum ersten Dorf empor: | |
Auressio. Ab hier besteht das Onsernone-Tal aus zwei scheinbar | |
zusammenstoßenden Bergwänden. Nur die sonnige Seite ist bewohnt. Loco, | |
Hauptort des Tals: Jahrhundertalte Häuser säumen die einzige Straße und die | |
winkligen Gassen. Gleich eingangs die Kirche von Sankt Remigio. Etwas | |
abseits das Heimatmuseum. Ein paar Straßenkehren weiter liegt Berzona, wo | |
Golo Mann, der Wallenstein-Bewunderer und passionierte Wanderer, Ende der | |
Fünfzigerjahre sein Haus kaufte: "Es gibt hier wahrhaft beglückende Tage. | |
Wenn ich dann vor meinem Hause stehe, das Feuer des Kamins sehe und draußen | |
ein glorreicher Sternenhimmel, dann ist es so schön, daß ich es kaum | |
glauben kann." Golo Mann arbeitete in Berzona an seinem Wallenstein. Hoch | |
oben auf dem Berg. Über allen anderen. Fern jeden Weltenbrandnachrichten. | |
Thronend. Mit Blick weit in das Tal hinein saß er abseits auf seinem | |
Adlerhorst, dem Mataruk. Die Enge der Steinhäuser, die Gespräche der | |
Nachbarn, das Geschrei der Kinder auf der kleinen Piazza - all das wollte | |
der Schriftsteller und Autor nicht hören. Ein Fremder in einer fremden | |
Welt. "Jeder hat seine eigene Beziehung zu den Einheimischen aufgebaut", | |
sagt Annette Korolnik-Andersch, Malerin und Tochter des Schriftstellers: | |
"Frisch war anders eingebettet als meine Eltern. Golo hatte eine besondere | |
Stellung. Denn wer Thomas Mann war, das hat man bis nach Berzona hinauf | |
gewußt." | |
Alfred und Gisela Andersch hingegen siedelten sich mitten im Dorf an, in | |
einer alten Seifenfabrik, die sie in ein Bauhaus-Gebäude verwandelten. | |
Oder, wie es bis heute hinter vorgehaltener Hand heißt, verschandelten: | |
"Dagegen ist nichts zu machen", schrieb Andersch, "wir haben uns damit | |
abgefunden, daß wir unter Begriffen wie Ascona, Millionäre und | |
Steuervorteile subsumiert werden." Doch: "Die landschaftliche Lage ist | |
völlig einzigartig. Das Bergnest heißt Berzona", schrieb Andersch. Das | |
Leben mit ihm sei nicht immer einfach gewesen. Der Lärm der Kinder oder | |
auch der Gesang auf der Piazza konnten seinen Zorn erregen, erzählt Marta | |
Regazzoni. Die Anderschs hatten sie in den Siebzigerjahren nach Rom | |
eingeladen. Die einzige Urlaubsreise ihres Lebens. | |
Einen Namen über ihre Berghänge hinaus machten sich die Einwohner durch | |
ihre Strohhüte. Auch Marta Reggazonis Mutter hat die Bänder noch | |
geflochten. Heute stellt Marta Körbe und Hüte allenfalls für die Touristen | |
her. Doch längst ist das Gelb der reifenden Roggenfelder aus der Landschaft | |
verschwunden. Geblieben sind nur die für das Valle Onsernone so typischen | |
Sonnenbalkone, auf denen einst das Stroh trocknete. Die meisten | |
Einheimischen verdienen ihren Lebensunterhalt außerhalb des Tales. | |
Industrie gibt es keine. Allein die Sägerei und der Granitsteinbruch im | |
Seitental werfen Gewinn ab. | |
In den Siebzigerjahren folgten den Schriftstellern die Hippies und | |
Aussteiger. Viele kamen aus Zürich. Manche waren auf der Flucht vor ihrer | |
Drogensucht. Diese "capellonis", wie die Onsernoneser sie spöttisch | |
nannten, richteten sich in verlassenen Gehöften und verfallenen Almhütten | |
ein. Meist ohne Wasser und Strom. Aber in der Hoffnung, im Tal ihre | |
gesellschaftsfernen Träume verwirklichen zu können: ein Leben in der Natur | |
und ohne Zwänge. "Am Anfang hab ich in einer Jurte gewohnt. Wir waren eine | |
Gemeinschaft und hatten indianische Ideen", Peter Schäfer, Therapeut für | |
verhaltensauffällige Jugendliche, lebt seit zwanzig Jahren im Valle: "Das | |
war halt damals diese Zeit des Selbstversorgens. Die größte Illusion war | |
vielleicht die, man könne sich von dieser Welt zurückziehen." Nur wenige | |
dieser Aussteiger haben es geschafft, ihre Ideale lebenspraktisch | |
umzusetzen. Die meisten sind in die Städte zurückgekehrt. Einige fanden | |
einen Kompromiss zwischen dem abgeschiedenen Leben im Valle und ihrem Platz | |
in der dörflichen Gesellschaft. | |
300 Kurven auf 28 Kilometern. Die einzige Straße im Valle ist schmal und | |
das Geländer nur ein schwacher Halt für die Augen. Tief unten schimmert von | |
Zeit zu Zeit der Fluss. Smaragdgrün. Unzugänglich und wild. Die Zukunft | |
macht denjenigen, die das Tal lieben, die dorthin für immer aus den großen | |
Städten gezogen sind oder die seit Generationen ihm die Treue halten, große | |
Sorgen: "Es gibt ja leider nicht mehr allzu viele Einheimische mehr in | |
solchen Orten", hatte bereits Golo Mann über seine Zeit im Valle geäußert. | |
Wie immer kümmert sich Marta um die Kirche in Berzona. Dreimal täglich | |
läutet sie die Glocken. Tag für Tag, Monat für Monat. Seit Jahrzehnten | |
macht sie das schon. "Wenn ich dann nimmer da bin: fertig", sagt sie. "Muss | |
eine Mechanische machen." | |
9 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Ariane Eichenberg | |
Michael Marek | |
## TAGS | |
Reiseland Schweiz | |
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