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# taz.de -- Gelebte Utopie im Oberengadin: Ökologischer Vorreiter
> Das Ferienzentrum Salecina steht für Basisdemokratie und Nachhaltigkeit
> in einer der schönsten Landschaften der Schweiz. Eine Erfolgsgeschichte.
Bild: Der 300 Jahre alte Bergbauernhof am Maloja-Pass auf 1800 Meter Höhe
„Schwelle zum Paradies“ nannte der Maler Giovanni Segantini das kleine
Bergdorf Soglio im Bergell. Es ließ mich aufhorchen, auch wenn ich von dem
1858 in Österreich geborenen Künstler, der vor allem in Italien und der
Schweiz lebte, sonst nicht viel wusste. Der Ort liegt ganz in der Nähe zum
Salecina, einem selbstorganisierten Ferienzentrum, das ich besuchen will.
Also mache ich erstmal in Soglio Station.
Mit dem Postauto fahre ich von dort die engen Serpentinen bis zum
Maloja-Pass auf 1.800 Metern hinauf. An der Station Maloja angekommen,
schließe ich dort mein Gepäck, wie man es mir vorher erklärt hatte, in
einem unscheinbaren Holzschrank ein, der dem Salecina gehört. Später würde
es abgeholt. Denn von hier muss man zu Fuß zum Ferienzentrum laufen. Bevor
ich mich auf den Weg mache, sehe ich mir noch Segantinis Atelier an, das
nur ein paar Schritte weiter die Zeit überdauert hat.
Ein kleiner runder Raum, vollgestopft mit Gemälden, Fotos und anderen
Dokumenten. „Die Motive der Bilder lassen sich entlang des Sentiero
Segantini entdecken“, meint die alte Dame, die das Atelier betreut, und
schickt mich auf den etwa zweistündigen Pfad in die Berglandschaft. Er
führt durch Almwiesen, wo Kühe weiden, Lärchen lange Schatten auf den
Wanderweg werfen, bis mein Blick auf einen Bauernhof in der Bergeinsamkeit
fällt. Noch so eine Schwelle zum Paradies?
Ich hätte mir alles Mögliche unter dem archaischen Gehöft vorstellen
können. Nur nicht ein [1][links-alternatives Ferienzentrum], in dem
Menschen aus allen möglichen Ländern und Gesellschaftsschichten
aufeinandertreffen, um Urlaub zu machen und sich über die drängendsten
Fragen der Gegenwart auszutauschen. Erst als ich den „Black lives
matter“-Aufkleber an der Tür entdecke, weiß ich, dass ich angekommen bin.
Das Zimmer ist schnell bezogen. Antonio, ein freundlicher italienischer
Mitarbeiter, erklärt mir die Abläufe. Dann schickt er mich noch mal raus.
„Genieß das schöne Wetter. Die anderen sind auch alle ausgeflogen“, rät …
mir. „Nur zum Abendessen solltest du pünktlich zurück sein.“ Später sitze
ich im großen Esszimmer an einem langen Holztisch. Das Kochteam stellt eine
ordentliche Schüssel Pizzoccheri, gehaltvolle Pasta aus Buchweizen mit viel
Käse und Salat auf den Tisch. Auch frisches Quellwasser gibt es. Bier oder
Wein muss sich jeder selbst holen und separat bezahlen.
Schnell komme ich mit meinen Tischnachbarn, einer etwas älteren Schweizerin
und einer deutsch-französischen Familie aus Berlin, ins Gespräch. Ob sie
auch das erste Mal im Salecina sind? Nein, wie sich herausstellt, sind alle
Stammgäste. Die eine weiß es zu schätzen, dass sie für wenig Geld in der
großartigen Landschaft zwischen Bergell und Oberengadin herumwandern kann,
die anderen kommen immer wieder hierher, weil die Kinder sofort Anschluss
finden und sich draußen frei bewegen können. Dafür nehmen sie in Kauf, dass
sie sich das Zimmer mit mehreren, zum Teil fremden Menschen teilen und beim
Abwaschen, Kochen oder Putzen helfen müssen.
Wie sich das anfühlt, erfahre ich gleich nach dem Abendessen, als ich mich
zum Geschirrspülen melde. Vor mir steht ein ganzer Berg von Tellern, in
denen der Käse von der Pasta klebt. Unmengen von Puddingschälchen wollen
vorgespült sein, bevor sie in die Maschine kommen. Ja, es gibt Schöneres,
als nach einem erlebnisreichen Tag eineinhalb Stunden in der Küche zu
stehen. Ist das der Preis, wenn man für fünfzig oder sechzig Euro die Nacht
an der Schwelle des Paradieses wohnen will?
Je nach Geldbeutel und Selbsteinschätzung zahlen die Gäste den ermäßigten,
kostendeckenden oder solidarischen Tarif von jeweils 40, 55 oder 66
Franken, Kinder oder junge Erwachsene zwischen 22 und 33 Franken. Einmal im
Jahr dürfen die, die ganz wenig haben, für nur zweihundert Franken eine
Woche bleiben. Einschließlich Halbpension.
Wobei hier, wie ich bald feststelle, keineswegs Sparfüchse Urlaub machen.
„Es kommen durchaus auch Gutverdiener zu uns, sonst würde sich das Projekt
nicht tragen“, erklärt Silvie Kiefer, die im Leitungsteam arbeitet. Was für
die meisten zählt, ist der Geist des Salecina. Das Gefühl, Teil eines ganz
besonderen Projekts zu sein, das auch mich bald infiziert.
Luxus definiert sich hier anders als im nahe gelegenen Waldhaus von Sils
Maria, wo die Nacht ein Vielfaches kostet. „Das Haus mit den meisten
Sternen zwischen Bergell und Engadin“, nennt sich das Salecina
selbstbewusst. Und tatsächlich: Wenn es etwas im Überfluss gibt, sind es
die Sterne, die in der Bergwelt mit Gipfeln wie dem 2.600 Meter hohen Piz
Salecina ohne jede Lichtverschmutzung am Himmel stehen.
Das Haupthaus mit Essräumen, Küchen, Speisekammer, Büro, einer beachtlichen
Bibliothek, Spielzimmer und einem kleinen Laden ist ein über 300-jähriges
Bauernhaus. Die Schlafräume befinden sich im benachbarten, ehemaligen
Stall, der auch schon mehr als 270 Jahre hinter sich hat. Bis etwa 1970
wurde das Gehöft noch bewirtschaftet, dann gab der letzte Pächter auf.
Damit schlug die Stunde für Amalie und Theo Pinkus, ein Schweizer Ehepaar,
das damals auf der Suche nach einem geeigneten Objekt war und das Anwesen
mit Hilfe von Spenden – einem frühen Crowdfunding – kaufte, um seine Vision
von einem selbstverwalteten Ferienzentrum zu verwirklichen.
Geprägt vom Geist der 68er-Bewegung wollten sie ein Haus gründen, das allen
offensteht, vor allem aber politisch Interessierten aus linken Bewegungen.
Hier sollten sie sich über neue Ideen austauschen und andere Formen des
Zusammenlebens erproben können. Ideologisch nicht klar eingegrenzt, aber
immer getragen von der humanistischen Grundstimmung, für die die Begründer
standen.
Die aus dem Tessin stammende Amalie Pinkus hatte sich zuvor als linke
Aktivistin in der Frauenbewegung engagiert, der 1909 in Zürich geborene
Theo Pinkus seine Karriere in Berlin beim Rowohlt Verlag begonnen. Als es
für ihn als Juden und Kommunisten 1933 in Deutschland zu gefährlich wurde,
ging er in die Schweiz zurück. In Zürich gründete er eine Buchhandlung und
den Limmat Verlag, der unter anderem das Standardwerk „Geschichte der
Schweizerischen Arbeiterbewegung“ herausgab.
„Ein umtriebiger, aber auch sehr spezieller Mensch“, hatte mir die
befreundete Marianne Frisch vor meiner Reise erzählt. Noch heute erinnert
ein großes Foto im Obergeschoss des Hauses an die legendäre Begegnung von
ihrem früheren Mann Max Frisch, Herbert Marcuse und Theo Pinkus bei einem
Seminar. Später spendete der Schriftsteller sogar die Summe, die ihm durch
den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuteil wurde, dem Projekt.
Ob sie damals über die Weltrevolution debattierten? Mancher vermutete im
Salecina in der Anfangszeit schon Untergrundkämpfer. Die Schweizer
Bundespolizei überwachte das Anwesen, bei dem eine rote Fahne auf dem Dach
wehte, Nachbarn protestierten, weil die Betreiber aus Spaß eine Straße dort
oben in „Ho-Chi-Minh-Weg“ umbenannt hatten. Theo Pinkus soll allerdings
jungen Leuten geraten haben, lieber Revolutionäre im Beruf als
Berufsrevolutionäre zu werden. In diesem Sinn versteht sich das Salecina
auch als eine kleine, tägliche Revolution.
Eine, die nicht mit großem Pathos oder gar Gewalt, stattdessen mit
gemeinsamen Aktivitäten wie Wandern, Langlaufen, Chorsingen, Kochen,
Abwaschen, aber natürlich auch mit Gesprächen und teils hitzigen Debatten
voranschreitet. Und die 2017 von der CIPRA, der Schweizer Sektion der
Internationalen Alpenkommission, mit dem Hauptpreis für Nachhaltigkeit im
Tourismus ausgezeichnet wurde.
Das Konzept hat sich bewährt und kann 2022 nach fünfzigjährigem Bestehen
eine stolze Bilanz ziehen. Mit seinen 56 Betten bringt es das Salecina auf
rund 10.000 Übernachtungen pro Jahr. „Ein großer Teil der hauptsächlich
deutschen, italienischen und Schweizer Gäste kommt immer wieder, manche
schon seit vierzig Jahren“, sagt Silvie. Auch die Akzeptanz in der
Nachbarschaft sei gestiegen. „Vielleicht weil wir möglichst alles regional
einkaufen, Menschen aus der Gegend zu unseren Veranstaltungen einladen.“
Doch wie funktioniert die Selbstverwaltung genau?
Getragen wird das Ferienzentrum von der Salecina-Stiftung mit
hierarchiefreien Strukturen. Verwaltet wird sie vom Stiftungsrat, der
zweimal jährlich zusammentritt und sich neben den vier festangestellten
Team-Mitgliedern, deutschen und italienischen Muttersprachlern, aus etwa
vierzig Gästen zusammensetzt. „Im Prinzip ist jeder stimmberechtigt, der
mindestens ein Jahr lang mitgearbeitet hat“, erklärt Silvie. „Das Gremium
ist gemischt, alte und junge Leute von Hamburg bis Genua. Sie entscheiden
nicht nur über praktische Belange, ob zum Beispiel neue Matratzen
angeschafft werden sollen, sondern auch Konzeptionelles. Die Themen haben
sich im Lauf der Zeit natürlich verändert.
Das Salecina sieht sich als ökologischer Vorreiter, der bis 2030
klimaneutral werden will. „Das ist jetzt die größte Baustelle, eine
wirkliche Herausforderung“, sagt die Team-Mitarbeiterin. Zwar beziehe man
den Strom aus Wasserkraft und heize mit Holzschnitzeln. Schwierig werde es
aber beim Thema Ernährung. Zwar bezieht das Salecina verpackungsfreie
Milchprodukte aus der Region. Obst und Gemüse kommen allerdings meist aus
der Westschweiz, da in der Gegend nur wenig wächst.
„Wir versuchen, möglichst viele Bio-Produkte einzukaufen“, erklärt Silvie.
„Aber Bio ist auch immer der weitere Weg.“ Der größte Klimakiller seien
ohnehin die Transportwege. Selbst wenn die Gäste mit öffentlichen
Verkehrsmitteln anreisen – ab zwei Übernachtungen fahren sie im Bergell und
Oberengadin gratis – so sind auch diese nicht gänzlich klimaneutral.
Es gibt also genügend Themen mit Konfliktpotenzial. Dennoch – davon kann
ich mich bei meinem Aufenthalt überzeugen – scheint es mit der
Selbstverwaltung zu klappen. Worin das Geheimnis liegt? Wahrscheinlich
darin, dass der Salecina-Rat eher undogmatisch und pragmatisch vorgeht,
statt sich im ideologischen Kleinklein aufzureiben. Die Gäste sind, wie ich
auch selbst feststelle, keine Schnäppchenjäger, sondern in der Regel
gemeinschaftserprobte Menschen. Und für den sonstigen fehlenden Luxus
entschädigt die atemberaubende Landschaft zwischen Oberengadin und Bergell,
wo nicht nur Segantini an der Schwelle zum Paradies stand.
1 Oct 2022
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## AUTOREN
Ulrike Wiebrecht
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