# taz.de -- Klimakrise im Hochgebirge: Das gar nicht so ewige Eis | |
> In den Alpen ist die Klimakrise extrem sichtbar. André Baumeister zeigt | |
> Jugendlichen, wo Gletscher schmelzen – und was das mit uns zu tun hat. | |
Bild: Das Eis zieht sich zurück: Blick auf den Gurgler Ferner im Ötztal, 2021 | |
Es geht steil bergauf. Wir keuchen unter dem Gewicht der riesigen | |
Rucksäcke. Durch das menschenleere Hochgebirge führt der Weg vorbei an | |
schroffen Felswänden. In der Ferne grummelt es bedrohlich, es bleibt keine | |
Zeit für eine Pause. Wir müssen die Selbstversorgerhütte vor dem Gewitter | |
erreichen. Eine Stunde zuvor haben die Strapazen – vielleicht auch in | |
Kombination mit zu viel Kaiserschmarren – bereits ihr erstes Opfer | |
gefordert. Ein Schüler musste sich übergeben und mit der Hilfe eines | |
Lehrers wieder zum Basislager absteigen. | |
Wir erreichen das rettende Schutzhaus. „Fidelitas Hütte“, steht auf einem | |
Schild, das außen an der hellen Holzwand angebracht ist. „2883 Meter – | |
erbaut 1896“. Im Inneren: eine Eckbank, ein Tisch, drei Stühle und | |
Stockbetten. Es ist Platz für maximal zehn Menschen, in der Ecke steht ein | |
weißer Holzofen zum Heizen und Kochen. Strom gibt es nicht, nur Kerzen. An | |
der Wand hängt das Bild eines tief verschneiten Berges und – wie es sich im | |
erzkatholischen Tirol gehört – ein Kreuz. Dann kommt, was der Donner | |
angekündigt hat: Innerhalb weniger Minuten sind die umliegenden Berge nicht | |
mehr zu sehen, beim Wasserholen peitschen uns dicke Regentropfen waagerecht | |
ins Gesicht. Es gibt Tee und Nudeln mit Pesto. Die haben noch nie so gut | |
geschmeckt wie in diesem Moment, da sind sich die Jugendlichen einig. | |
Sie sind Teil einer gut 50-köpfigen Gruppe aus 15- bis 19-jährigen | |
Schüler:innen, ihren Lehrkräften und Wissenschaftler:innen. In den | |
Ötztaler Alpen erforschen sie im Rahmen des ersten Alpine Climate Summit | |
die Auswirkungen des Klimawandels. „Die Gletscher des Ötztals sind der | |
perfekte Ort dafür. Nirgendwo sonst in Mitteleuropa kann man die | |
Auswirkungen der Erderwärmung so deutlich sehen“, erklärt André Baumeister. | |
Der Geograf und Exkursionsdidaktiker ist Lehrbeauftragter an der | |
Ruhr-Universität Bochum und hatte die Idee zum Alpine Climate Summit, den | |
er und seine Studierenden dieses Jahr erstmals durchführen – ehrenamtlich. | |
Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern steigen sie in die Alpen und wollen | |
so die Klimakrise greifbarer machen. Klimabildung ist auch durch das | |
Aktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten | |
Nationen in den Lehrplänen der Bundesländer verankert – für Baumeister ist | |
sie eine Lebensaufgabe. | |
„Die Schüler sind die Entscheidungsträger von morgen und die Betroffenen | |
des Klimawandels“, sagt er. Man müsse sie aber nicht nur für die Klimakrise | |
sensibilisieren, sondern ihnen auch Zusammenhänge aufzeigen. | |
Exkursionsdidaktik nimmt für ihn dabei eine zentrale Rolle ein. Am | |
Beispiel der Almwirtschaft lasse sich der Begriff Nachhaltigkeit | |
tatsächlich mit Inhalt füllen, und auch die Veränderung der Vegetation | |
durch den Klimawandel sei in den Alpen deutlich zu sehen. Man könne mit den | |
Schülern zwar auch auf einen Demeter-Hof fahren und nachhaltige | |
Landwirtschaft erklären – dort sähen sie aber nicht ganz unmittelbar die | |
Auswirkungen der Klimakrise. Dafür brauche man dann Graphen und Tabellen. | |
Und die findet Baumeister nicht sehr greifbar. „Eine Exkursion in die Alpen | |
erzeugt Erlebnisse. Dadurch können sich die Schüler Dinge viel besser | |
merken als im Unterricht“, sagt er. | |
## Das beste Symbol für den Klimawandel | |
Baumeisters Vorhaben ist wichtig: In der Schweiz und in Österreich [1][war | |
der Eisverlust in diesem Sommer extrem], manche Gletscher schmelzen so | |
schnell wie nie zuvor. Fünf Gymnasien aus Nordrhein-Westfalen und Berlin | |
nehmen an der Exkursion teil. „Piefkes“ würde man hier in Österreich zu d… | |
Schüler:innen sagen, denn Bergerfahrung besitzt keine:r von ihnen. | |
Unterstützt wird das Projekt teilweise von Exkursionsfonds der Schulen. | |
Einer der Lehrer habe auch bei Kommune und Land nach finanzieller | |
Unterstützung gefragt, sogar eine Bundestagsabgeordnete habe sich daraufhin | |
um das Projekt bemüht, jedoch leider ohne Erfolg. | |
Bei Tagesanbruch ist das Gewitter vorübergezogen. Die Jugendlichen stehen | |
mit großen Augen vor dem Gurgler Ferner. Zwischen den von Schleierwolken | |
gesäumten Gipfeln glänzt der drittgrößte Gletscher Tirols in der | |
Morgensonne. Die Berge, die ihn umgeben, sind von roten, grünen und braunen | |
Schichten durchzogen. Hier und da sieht man türkisblaue Teiche, die vom | |
Schmelzwasser gespeist werden. | |
Bis ins Jahr 1850 hat Baumeister die Ausdehnung des Gletschers | |
zurückverfolgt. „Es gibt kein besseres Symbol für den menschengemachten | |
Klimawandel als Gletscher“, betont er, „denen kann man beim Schmelzen | |
tatsächlich zuschauen.“ Anhand der glazialen Formen wie Grund-, Seiten- und | |
Endmoräne erkennt er, wie groß der Gurgler Ferner einmal war. „Durch seine | |
Bewegung hat der Gletscher das Gestein zerkleinert und aus dem Weg | |
geräumt“, erklärt der Geologe. Unterhalb von uns liegen gelbliche | |
Marmorblöcke: „Die stammen eigentlich aus dem angrenzenden | |
Schneeberg-Komplex und können nur durch den Gletscher hierherverfrachtet | |
worden sein.“ | |
Die Schüler:innen werden jetzt selbst zu Forschenden und bekommen ein | |
GPS-Gerät, um die heutige Ausprägung des Gurgler Ferners aufzuzeichnen. Das | |
Eis knarrt und knackt dumpf unter ihren Füßen, als sie mit dem kleinen | |
grauen Kasten in der Hand die zerklüftete Gletscherzunge entlangstapfen. Um | |
sie herum gluckert und sprudelt es, überall fließt Wasser aus dem Eis. | |
Aus einiger Entfernung winkt Baumeister ihnen zu. „Hier war der Gletscher | |
vor drei Jahren“, ruft er. 45 Meter ist er von dieser Stelle seitdem | |
zurückgegangen. „Krass, wie viel in so kurzer Zeit geschmolzen ist“, sagt | |
Nick, einer der Schüler. An der Front ist der vermessene Seitenarm des | |
Gletschers in den letzten fünf Jahren sogar um 120 Meter zurückgegangen. | |
Das könne man sich gar nicht vorstellen, findet Nick. Aber hier vor Ort | |
immer noch viel besser als im normalen Unterricht. Der Abstieg führt über | |
einen Kamm aus Geröll. Luisa fragt, ob wir uns jetzt auf der Seitenmoräne | |
befinden. „Genau, gut erkannt“, lobt Baumeister. Links geht es rund 100 | |
Meter steil bergab bis zum Talgrund. „Unglaublich, dass das alles vor 150 | |
Jahren noch bis zu unseren Füßen mit Eis gefüllt war“, staunt Luisa. | |
## Vegetationskartierung und Almwirtschaft | |
Zurück im Basislager, der Langtalereckhütte, erzählt Hüttenwirt Georg | |
Gufler aus seiner Kindheit. Er ist 45 Jahre alt und hier aufgewachsen. „Vor | |
40 Jahren konnte man den Gurgler Ferner von der Hütte aus noch gut sehen. | |
200 Höhenmeter sind seitdem abgeschmolzen.“ Er zeigt auf ein | |
Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. Darauf ist die Langtalereckhütte zu sehen | |
und unter ihr eine gewaltige, zerfurchte Eismasse. „Das war 1932, da ging | |
der Gletscher noch bis zur Hütte.“ Heute liegt er etwa drei Kilometer | |
weiter hinten. | |
Am nächsten Tag geht es hoch auf den Berg, diesmal auf das 3.233 Meter hohe | |
Eiskögele. Unterwegs führen die Jugendlichen ihre Vegetationskartierung | |
fort, die sie vor dem Aufstieg ins Hochgebirge begonnen haben. Mit Stift | |
und Papier notieren sie, welche Pflanzen auf welcher Höhe zu finden sind. | |
Am Wegesrand wächst ein wild verzweigter grüner Strauch mit rosa Blüten. | |
Lea erkennt das Gewächs: „Das ist eine Rostblättrige Alpenrose, eine | |
Zeigerpflanze des Klimas.“ Mit zunehmender Erderwärmung findet man sie in | |
immer größerer Höhe, weil die Höhenstufen der Vegetation weiter nach oben | |
wandern. Neben der Gletscherschmelze ist diese Verschiebung der | |
Pflanzenwelt Richtung Gipfel die deutlichste Veränderung durch den | |
Klimawandel in den Alpen. | |
Neben der Schülergruppe klettert eine Schafherde leichtfüßig den Berg | |
hinauf. Diese Form der Landwirtschaft, die Almwirtschaft, haben die Schüler | |
bereits kennengelernt. Auf der Gleirschalm hat Baumeister ihnen einen Tag | |
vorm Aufbruch ins Hochgebirge gezeigt, wie nachhaltige Almwirtschaft | |
funktioniert. Die Kühe grasen den Sommer über wechselnde Almwiesen ab, | |
anstatt im Stall mit extra für sie angebauter Nahrung gefüttert zu werden. | |
Dadurch werden die Böden nicht ausgelaugt und sogar die Artenvielfalt auf | |
den Almwiesen erhöht. „Almwirtschaft findet innerhalb der Grenzen der | |
nachhaltig zur Verfügung stehenden Ressourcen statt.“ Da so aber nicht alle | |
Menschen täglich mit Fleisch versorgt werden können, müsse man auch mal | |
darauf verzichten. „In Zukunft werde ich zweimal überlegen, ob ich etwas | |
wirklich brauche beziehungsweise ob es eine klimafreundlichere Alternative | |
gibt“, nimmt sich Hugo vor. | |
Zurück im Forschungszentrum der Universität Innsbruck in Obergurgl | |
reflektieren die Schüler über die Erlebnisse der vergangenen Woche. „In der | |
kurzen Zeit hier habe ich mehr über Nachhaltigkeit und den Klimawandel | |
gelernt als in mehreren Wochen Unterricht“, sagt Timo. Auch Nick findet es | |
„viel effektiver, so etwas praktisch vor Ort zu erleben“, und Luisa geht es | |
ähnlich, „weil man hier mit eigenen Augen sehen kann, was der Klimawandel | |
bewirkt. Das macht es einem sehr bewusst.“ Sie habe dabei auch gelernt, wie | |
wichtig die Kommunikation des Klimawandels sei, damit mehr Menschen das | |
Problem begreifen. „Deswegen wollen wir das Projekt auch den anderen | |
Schülern unserer Schule präsentieren“, sagt Hugo. Die Schüler wollen | |
weitergeben, was sie gelernt haben. „Wir müssen alle überlegen, was wir | |
dazu beitragen können, dass sich die Situation nicht weiter verschlimmert“, | |
sagt Nick. | |
André Baumeister ist stolz, dass die Jugendlichen die Message verstanden | |
haben. Für das nächste Jahr ist wieder ein Alpine Climate Summit geplant, | |
für den er weiterhin nach Unterstützern sucht. | |
11 Sep 2022 | |
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[1] /Dramatischer-Eisverlust-in-den-Alpen/!5876249 | |
## AUTOREN | |
Denis Pscheidl | |
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