# taz.de -- Eine Reise zum Gletscher: Mit Poesie im Gepäck | |
> Unsere Autorin forscht zu Gletscherlyrik. Sie reist zum norwegischen | |
> Jostedalsbreen, um den Eisriesen kennenzulernen – und um Abschied zu | |
> nehmen. | |
Bild: Ein Gletscherarm im Jostedalsbreen-Nationalpark: 40 Meter türmt sich d… | |
Der Gletscher ist ein Fluss aus Eis. Alles an ihm ist immerzu in Bewegung, | |
obgleich man das mit bloßem Auge selten sieht. Der Körper des Gletschers | |
schmilzt und gefriert und schmilzt erneut, walzt talabwärts, erodiert, | |
bildet neue Vermächtnisse. Das Schmelzwasser speist die Flüsse; das | |
Steinmehl, das der Gletscher beim Schürfen auf dem Grundgestein produziert, | |
düngt die Ufer. Staub, Kies und Geröll sammeln und schieben sich | |
stromabwärts, bilden neues Land. Energie verwandelt sich, leise oder laut, | |
und wieder und wieder neu. Gletscher versetzen buchstäblich Berge. | |
Ich möchte nach Jostedal in Westnorwegen fahren, um den größten | |
Festlandgletscher Europas zu erkunden. Solange es ihn noch gibt und mein | |
Körper mich hinaufträgt. Im Vergleich zum 7.000 Jahre alten Jostedalsbreen | |
bin ich mit meinen 34 Jahren jung. Aber der Gletscher schmilzt rasant, und | |
Zehntausende Eisriesen weltweit tun es ihm nach. Fast die Hälfte der | |
Gletscher wird bis 2100 verschwunden sein, selbst wenn wir die | |
Klimaerwärmung drastisch bremsen, hat eine gerade [1][veröffentlichte | |
Studie] ergeben. Und nach einer Verlangsamung der Erderwärmung sieht es | |
momentan nicht aus. | |
Nach Norwegen will ich auch deshalb reisen, um einem Gefühl auf die Spur zu | |
kommen, das als Erwachsene kaum mehr Teil meines Lebens ist: Staunen. | |
Es wird mein erstes Mal auf einem Gletscher sein. Das ist schon darum | |
komisch, weil Gletscher meinen Alltag bestimmen. Bücher über Gletscher und | |
ihnen gewidmete Gedichtbände füllen türkis-blaue Regalmeter meines Büros. | |
Ich bin freie Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der | |
Universität Augsburg, ich schreibe eine Arbeit zu Gletschern in | |
zeitgenössischer nordamerikanischer Dichtung. Je weniger Gletscher es gibt, | |
desto mehr Gedichtbände scheinen ihnen gewidmet zu sein, darum geht mir die | |
Arbeit nicht aus. | |
Selbst habe ich jedoch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, auf Hunderte | |
Meter dickem Eis zu stehen oder diesen besonderen Wind im Gesicht zu | |
spüren, der über den Gletscher streichen soll. Das will ich ändern. | |
Auf meine Reise nehme ich Gedichte mit, die von Gletschern handeln; von | |
ihrer Grausamkeit und Schönheit, ihrem Vergehen. Niemand hat ehrfürchtiger | |
über Gletscher geschrieben als der Brite Percy Shelley. In seinem Gedicht | |
„Mont Blanc“von 1816 setzt er dem Berg in den französischen Alpen und den | |
ihn umgebenden Gletschern ein Denkmal. | |
Of frozen floods, unfathomable deeps, / Blue as the overhanging heaven, | |
that spread / And wind among the accumulated steeps; / A desert peopled by | |
the storms alone | |
Und voll gefror’ner Fluten, unfasslich / Blau wie der Himmelsüberhang, der | |
fällt / Und sich um steile Wände schiebt, abgründig. / Ein wildes Land, vom | |
Sturm allein bewohnt | |
Shelley nennt die Gletscher auch „fließendes Zerstören, das sich in | |
Ewigkeit wälzt“. Auf den Menschen, der in seinem kleinen Leben kaum je eine | |
Ahnung des Sublimen, Ewigen erhascht, schaut Shelley mitleidig. „Seine | |
Bemühungen vergeh’n als Hauch“. | |
Mein liebstes zeitgenössisches Gletschergedicht ist Craig Santos Perez’ | |
„Thirteen Ways of Looking at a Glacier“ aus dem Jahr 2020. Der indigene | |
US-amerikanische Dichter dreht und wendet den Gletscher, betrachtet ihn von | |
allen Seiten, bis er ihm am Ende in der warmen Hand zerrinnt. | |
Humans and animals / are kin. / Humans and animals and glaciers / are kin | |
Menschen und Tiere / sind verwandt. / Menschen und Tiere und Gletscher / | |
sind verwandt | |
Diese Verwandtschaft möchte ich erkunden. Außer den Gedichten kommt noch | |
Raphael mit auf die Reise nach Westnorwegen, ein Freund und Fotograf. Rapha | |
ist Schwede und lebt in Oslo. Wir kennen uns von der Arbeit auf einer Farm | |
in der Nähe von Norwegens Hauptstadt. Mit seinem blonden Pferdeschwanz, dem | |
Bart und der Outdoorhose mit zahllosen Taschen sieht Rapha aus wie ein | |
Fjællräven-Katalog-Model, nur etwas zotteliger. Er hat ein Faible für | |
Rituale, und so machen wir auf der Fahrt zum Gletscher Rast und prosten mit | |
einem Kaffee vom Spirituskocher unserem Gletscherabenteuer entgegen. Skål. | |
Unser Gefährt ist ein blauer Sprinter, den ich von einem Freund geliehen | |
habe. Auf engen Talstraßen westwärts rutschen vorne auf der Ablage meine | |
Gletscherbücher hin und her. Abends, kurz vor unserem Ziel, dem kleinen Ort | |
Fjærland, schlafen wir in unserem unausgebauten Sprinter. Es riecht nach | |
Diesel und Schrottplatz. Wir liegen auf dünnen Isomatten und fragen uns, ob | |
wir nicht in einem Alter sind, in dem man sich mehr Komfort gönnen sollte. | |
Gletscher faszinieren Menschen seit Jahrhunderten. Spätestens in der | |
Romantik gab es in Europa einen regelrechten Run aufs Eis. Aus ganz Europa | |
brachen in den 1840er und 1850er Jahren wohlhabende Schichten zu den | |
alpinen Gletschern auf; in die Schweiz, nach Italien und Frankreich. Unter | |
ihnen waren Künstler und Schriftsteller:innen wie John Ruskin, Goethe, | |
Mark Twain, Samuel Coleridge sowie Percy und Mary Shelley. | |
Mit Reifröcken, Spazierstöcken und ungeeignetem Schuhwerk schlitterten die | |
Tourist:innen über das Eis und verbrannten sich jeden Zentimeter Haut, | |
der nicht von Stoff bedeckt war; das Innere der Nasenflügel etwa und die | |
Unterseite der Augenlider. Wer es heil zurück ins Hotel schaffte, spann in | |
der Wärme des Kaminfeuers eisige Gruselgeschichten. Eine der damals | |
verbreiteten Gänsehaut-Theorien war die Rückkehr einer baldigen Eiszeit. | |
Von wissenschaftlichen Größen wie dem britischen Physiker Lord Kelvin | |
verbreitet, wurde sie von Dichter:innen bereitwillig aufgenommen. | |
Neben Shelley widmeten sich auch andere Romantiker:innen dem „ewigen | |
Eis“, etwa Lord Byron, William Wordsworth und Adalbert Stifter. | |
Angsteinflößend und unheimlich kommen die literarischen Gletscher in | |
dieser Zeit daher. | |
The glaciers creep / Like snakes that watch their prey | |
Die Gletscher schwingen / Sich wie auf Raubzug sei’nde Schlangen ein | |
heißt es bei Shelley. Auch Friederike Brun betrachtet 1791 mit Unwohlsein | |
die „Zackenströme“, die mit „Donnergetös“ aus „des ewigen Winters R… | |
herabgeschossen kommen. Oft über Nacht wälzen sich die Gletscher der | |
Gedichte ins Tal und begraben ganze Dörfer unter sich. Unvorstellbar heute, | |
dass Menschen sich einst so vor Gletschern fürchteten. | |
Literatur hält ihrer Zeit stets den Spiegel vor, und wie sehr sich das | |
Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den letzten 200 Jahren verändert | |
hat, lässt sich anhand der Gedichte beobachten. Von um sich greifenden | |
Ungeheuern sind die Gletscher zu einem aussterbenden Tier geworden. „Maybe | |
the ice is starving“ – „Vielleicht ist das Eis am Verhungern“, schreibt… | |
indigene Dichterin Vivian Faith Prescott aus Alaska in „Die-Off“. Unter | |
großen Anstrengungen decken heute Forscher:innen einige wenige Gletscher | |
im Sommer mit Vlies zu, riesigen weißen Stoffbahnen, die das Eis vor der | |
UV-Strahlung schützen sollen. Ein Vorhaben, das beinahe zärtlich wirkt – | |
und hilflos. Den Rest der immer schneller schmelzenden Eismassen müssen sie | |
sich selbst überlassen. Wer heute zu den Gletschern reist, macht deshalb | |
auch eine Art Kondolenzbesuch. | |
Bevor wir den echten Gletscher besuchen, gehen wir ins | |
[2][Gletschermuseum]. Es dient als Ausgangspunkt für Wanderungen, im Shop | |
werden aus Holz gefertigte Wandertassen, Pullis mit Norwegen-Flagge und | |
Elch-Magnete für den Kühlschrank verkauft. | |
Pål Hage Kielland arbeitet als Geograf im Museum. Er empfängt uns am | |
Eingang vor einem Miniaturgletscher. Schwarzer Granitstein ist wie ein Tal | |
ausgeschliffen, ganz oben thront ein Eisblock, dem man beim Schmelzen | |
zusehen kann. „Das Eis wird von Bauern mit dem Traktor zu uns ins Museum | |
gebracht“, erzählt Kielland. „Sie finden die Gletscherabbrüche auf ihren | |
Feldern, unser Hausmeister muss sie dann mit der Kettensäge bearbeiten.“ Es | |
sieht eher nach Kunst aus als nach einem wissenschaftlichen Modell. Was gut | |
zur Ästhetik hier passt, das Museum wurde von dem norwegischen | |
[3][Stararchitekten Sverre Fehn] gebaut. | |
Der Jostedalsbreen (dal bedeutet Tal, breen heißt Gletscher) liegt auf | |
einem Hochplateau im Westen Norwegens, in der Nähe des berühmten | |
Sognefjords. Seine Größe lässt sich unten im Tal nur erahnen. Wäre man ein | |
Vogel, ein Goldadler oder Seeadler zum Beispiel, die in dieser Gegend zu | |
Hause sind, könnte man über ein gigantisches Eismeer gleiten, 474 | |
Quadratkilometer groß. Bis zu einem halben Kilometer türmt sich das Eis an | |
der dicksten Stelle auf, das sind 7.000 Jahre lang Schneefall, | |
zusammengepresst zu Eis. | |
Menschen lernen den Jostedalsbreen durch seine zahllosen Arme kennen, die | |
er in alle Himmelsrichtungen in die Täler ausstreckt, ein feucht-kalter | |
Händedruck. Austerdalsbreen, Bøyabreen, Supphellebreen heißen sie, oder | |
Nigardsbreen, Erdalsbreen, Brenndalsbreen. Im Vergleich zu Gletschern auf | |
Island, Grönland oder Spitzbergen ist der Jostedalsbreen jung und nicht mal | |
sonderlich groß. Doch allein während der Kleinen Eiszeit zwischen 1740 und | |
1860 wuchs er vier Kilometer an. Die Temperatur war in der Region | |
durchschnittlich lediglich um 1 Grad niedriger als heute. Katastrophale | |
Ernteausfälle und Hungersnot waren die Folge. | |
Kielland sagt, eine wichtige Aufgabe des Museums sei es, den Gletscher | |
sinnlich erfahrbar zu machen. Darum gibt es hier ein Kino mit einem | |
Panoramafilm, mithilfe dessen man den Gletscher mit einer Drohne | |
überfliegen kann. Ohrenbetäubende Musik, spektakuläre Aufnahmen – der Film | |
setzt ganz auf Überwältigung und offene Münder. Gar nicht unähnlich dem, | |
wie die Romantiker:innen die Gletscher wahrnahmen. | |
Schon um 1870 kamen die ersten Tourist:innen aus Deutschland und | |
Großbritannien mit dem Schiff nach Fjærland. Man baute ein Hotel, die | |
Bauern fuhren die Herrschaften dann zu den Gletscherarmen. Zum Gletscher | |
war es, anders als heute, nur eine kurze Kutschfahrt. Gut verdientes Geld | |
für die Bauern der Region. Schon damals hatten eine findige Hotelbesitzerin | |
und ihr Bruder, ein Glaziologe, die Idee, ein Gletschermuseum zu bauen. | |
Der Film ist zu Ende, etwas bedröppelt stehen wir neben einem ausgestopften | |
Eisbären. Nach dem ganzen Panorama-Pomp haben wir genug von | |
Gletschermodellen und Gletscherfilmen. Wir wollen endlich das Original | |
bestaunen. | |
Weit hinten im Tal beginnt der Nigardsbreen, ein Ausläufer des | |
Jostedalsbreen. Man kann ihn vom Museum aus sehen und ohne langen Zustieg | |
erreichen. Entsprechend viele Besucher:innen sind gekommen. Auf dem | |
Parkplatz am Museum zählen wir mehr als zwanzig Camper-Vans mit deutschen | |
Nummernschildern. | |
Gemeinsam mit vielen anderen gehen wir über das Steinmeer, durch die | |
„Geister der Gletscher“, wie es bei der amerikanischen Dichterin | |
Elizabeth Bishop heißt. Das steinerne Gletscherbett, auf dem der | |
Gletscher einmal lag, ist sanft gewellt, alles ist rund und abgeschliffen, | |
nirgends gibt es Ecken oder Kanten. Man möchte sich gern hineinlegen in | |
eine dieser ausgeschliffenen Kuhlen, die der Gletscher nach seinem Rückzug | |
hinterlassen hat. | |
Es beginnt zu regnen und wir gehen weiter, über glitschige Steine. Je näher | |
wir der Abbruchkante kommen, desto lauter tost der Fluss, der Schmelzwasser | |
ins Tal bringt, eine rasende Wasserwalze. Wir überqueren massive | |
Stahlbrücken, die der Fluss zum Vibrieren bringt. Ganz oben stehen wir | |
endlich an der Absperrung. Hier geht es nicht weiter, ohne Steigeisen und | |
Guide. Ich möchte so gerne hinauf auf das Eis, es berühren, still stehen | |
auf Hunderten Metern Eis. Doch bis es so weit ist, müssen wir uns noch | |
gedulden. Also mache ich wie alle anderen Tourist:innen Fotos mit dem | |
Handy, von denen ich weiß, ich werde sie wieder löschen. 1, 2, 3, Cheeeese. | |
In den Nachrichten, aber auch in der Literatur und Kunst sind die Gletscher | |
längst zur Metapher für die Klimakrise geworden, wie der Eisbär auf dem | |
viel zu kleinen Eisfloß. Ein Symbol, eine Abkürzung. Fünf Millionen | |
Menschen haben dem Pianisten Ludovico Einaudi dabei zugesehen, wie er vor | |
kalbenden Eismassen im Polarmeer Piano spielt, seine „Elegy for the | |
Arctic“, im Auftrag von Greenpeace. | |
Das damit verbundene Phänomen ist ein Endzeittourismus, der die Probleme | |
nur verstärkt. Je mehr Menschen in die Arktis reisen, um ihren Kindern ein | |
letztes Mal Eisbären in freier Natur zu zeigen, ein vielleicht letztes Mal | |
auf stabilem Packeis zu wandern, ein letztes Mal Gletscherzungen | |
hinaufzuklettern, desto mehr CO2 wird in die Atmosphäre gepumpt, desto | |
schneller verschwindet das Eis. Auch wenn ich mit Bus und Bahn nach | |
Norwegen gereist bin, hätte ich, so gesehen, besser zu Hause bleiben und | |
weiter meine Gletschergedichte studieren sollen. | |
Am nächsten Morgen treffen wir unseren Guide. Gaute (ich nenne ihn heimlich | |
Mountain-Gaute wegen der phonetischen Nähe zu mountain goat, Bergziege) ist | |
um die 30, das Gesicht von UV-Strahlen etwas versengt und kompakt gebaut. | |
Beim Aufstieg erzählt er, Norwegens Königin Sonja sei schuld an seiner | |
Berufswahl. „Einmal habe ich sie getroffen, als sie gerade von einem | |
Gletscher zurück ins Tal wanderte. Sie konnte nicht glauben, dass ich noch | |
nie auf einem Gletscher war, obwohl ich doch hier aufgewachsen bin.“ Da | |
habe er sich gedacht: „Wenn die Königin auf Gletschern wandert, muss ich | |
das auch tun.“ So geht die Legende von Gaute, und nur er weiß, wie viel | |
davon der Wahrheit entspricht. Dass die Königsfamilie in Norwegen ziemlich | |
volksnah unterwegs ist und Sonja gerne wandert, spricht für seine | |
Geschichte. | |
Der Aufstieg zum Gletscherarm erfolgt auf engen, matschigen Wegen. Der | |
Sommer endet hier im August, es hat viel geregnet, gut für den Gletscher, | |
schlecht für uns. Über wackelige Brücken, umgefallene Baumstümpfe oder an | |
Seilen überqueren wir Bäche, die zu Flüssen angestiegen sind, dabei | |
schwanken und rutschen wir unter der Last unserer Rucksäcke. Nach zwei | |
Stunden erreichen wir die Gletscherzunge des Haugabreen. Die Abbruchkante | |
ist aus der Nähe betrachtet viel höher, als ich dachte. Sanft steigt der | |
Gletscher an und sieht mit seinen faltigen Spalten aus wie ein zerwühltes | |
Bett. | |
Ganz oben am Berg geht das Eis in Nebel über. Wir stülpen uns Steigeisen | |
mit stählernen Spikes an den Sohlen über, ziehen Helme auf, seilen uns an. | |
Gaute verteilt Eisäxte, ich begutachte das ungewohnte Werkzeug. Wenigstens | |
kleidungstechnisch sind wir besser ausgerüstet als die Tourist:innen im | |
Eis und Schnee der Romantik. | |
Uns angeschlossen hat sich eine vierköpfige Familie aus Berlin, die auf dem | |
Rückweg aus Nordnorwegen ist. Dieses Jahr hätten sie das Thema Gletscher | |
für sich entdeckt, erzählen sie, während wir lernen, am Seil zu gehen, ohne | |
übereinander zu stolpern. Die ersten Schritte auf dem Gletscher sind | |
ungewohnt, ich traue den scharfen Zähnen unter meinen Schuhen nicht, kann | |
nicht glauben, dass ich mit ihnen auf dem Eis gehen kann. Doch, kann ich. | |
Ich drehe mich zu meinem Freund Rapha um, er zieht sein Bergsteigergrinsen | |
und macht ein paar Tanzschritte. „Wie Stilettos auf dem Eis“. | |
Schweigend schiebt sich unsere kleine Karawane den Gletscher hinauf, | |
verbunden durch das Seil. Mit jedem Schritt beißen unsere Steigeisen | |
rhythmisch ins Eis. Die Stimmung ist andächtig. Jetzt bin ich endlich hier, | |
denke ich und versuche alles um mich herum gleichzeitig wahrzunehmen. Die | |
Mondlandschaft, den kalten Wind, meinen schweren Atem beim Aufstieg. | |
Oben angelangt, will ich mir Notizen machen. Stattdessen sitze ich einfach | |
nur auf dem Eis, während mein Hintern langsam nass wird, und schaue über | |
das Eismeer. Gaute reicht mir ein Dosenbier. Etwas hindert mich daran, mir | |
hochtrabende Gedanken zu machen über diese Erfahrung, während sie passiert. | |
Das Übel aller Autor:innen, dass sie noch inmitten des Erlebens schon einen | |
Schritt zurücktreten und abstrahieren wollen. Der Gletscher will nicht, | |
dass ich das tue. Ich sitze und schaue. | |
Beim Abstieg stürze ich, genau dann, als ich meine Steigeisen ausgezogen | |
habe und die ersten Schritte zurück auf sicherem Untergrund tue. Genau | |
dann, als Rapha und ich wieder zu zweit und auf uns allein gestellt sind. | |
Ich stürze und sehe den Gletscher in Zeitlupe und dazu Raphas erschrockenes | |
Gesicht, bevor ich mit der Wange auf einen Stein krache. Abends liege ich | |
im Zelt, mir ist elendig kalt. Mit der rechten Hand habe ich noch versucht, | |
mich abzustützen, nun ist sie geschwollen und nutzlos. Mein Wanderfreund | |
ist besorgt, dass ich eine Gehirnerschütterung habe, weil ich mich an | |
nichts erinnern kann. | |
Ich versuche mit der linken Hand in mein Notizbuch zu schreiben, habe | |
Angst, alles zu vergessen, habe Angst, im Schlaf zu sterben. Kann das nicht | |
passieren bei Gehirnerschütterungen? Rapha zündet seine Pfeife an. Er | |
schlägt vor, den Sturz als Initiationsritus zu sehen. Der Berg habe mich | |
umarmt. | |
Gut, dass ich liege, denn mein Körper fühlt sich an wie Pudding. Auf meinem | |
Oberschenkel wächst eine gigantische Blessur. Die Mitte ist leer, während | |
außen herum versprengte grüne, gelbe, blaue und violette Muster auftreten. | |
Die Maserung des Steins hat feine Linien auf der Haut hinterlassen. | |
Mein Kopf will nicht funktionieren. Ich denke an Patti Smith, die nach | |
Paris gefahren ist, um über ihr Vorbild, den Dichter Arthur Rimbaud, zu | |
schreiben, und vor lauter Ehrfurcht genau eine Zeile zu Papier brachte: | |
irgendetwas von Blumen und Sternen am Grab ihres Helden in Charleville. | |
Vielleicht habe ich auch zu viel Ehrfurcht vor dem Gletscher? Oder doch | |
eine Gehirnerschütterung? Warum bin ich noch mal nach Norwegen gekommen, | |
habe ich Rapha gefragt. Na des Gletschers wegen, weißt du das nicht mehr? | |
Am nächsten Morgen sitze ich alleine in der Nähe des Gletschers, in | |
respektvoller Entfernung. Mein ganzer Körper schmerzt, aber wenigstens weiß | |
ich wieder, warum wir hier sind. Dass der Gletscher ein Archiv ist, | |
beschäftigt mich. Zwischen den Eismolekülen sitzen winzig klein und mit | |
zunehmenden Tiefenmetern immer stärker zusammengepresste Luftbläschen, die | |
von Temperatur, Pollenflug und Co2-Gehalt in der Atmosphäre erzählen. Von | |
einem Holozän-Sommer, Abertausende von Jahren her, von Vulkanausbrüchen und | |
vergangenen Atmosphären. Ich schaue mir die Eisschichten in Grau-, Weiß- | |
und Blauschattierungen an und versuche sie mir vorzustellen wie ein | |
gigantisches Bücherregal, eine Weltbibliothek wie in Alexandria. | |
Was passiert, wenn das Archiv verschwindet, wie meine Erinnerung gestern? | |
Während die nach und nach zurückkehrt, wird das Gletscherarchiv für immer | |
verloren sein. | |
Der Dichter Craig Santos Perez schreibt: | |
Among starving polar bears, / the only moving thing / was the edge of a | |
glacier. | |
We are of one ecology / like a planet / in which there were once 200.000 | |
glaciers. | |
Inmitten von hungernden Eisbären / war das einzig sich bewegende Ding / der | |
Rand eines Gletschers. | |
Wir sind geschaffen aus einer Umwelt / gleich einem Planeten / auf dem | |
einst 200.000 Gletscher lebten. | |
- | |
Anne-Sophie Balzer, 34, ist freie Journalistin, Literaturwissenschaftlerin | |
und Dichterin. 2020 ging sie für anderthalb Jahre nach Norwegen und | |
arbeitete auf Bauernhöfen. Die Reportage ist im Rahmen eines Stipendiums | |
der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) entstanden. | |
Übersetzung der zeitgenössischen Gedichte: Anne-Sophie Balzer; Übersetzung | |
„Mont Blanc“ von Percy Shelley: Julius Seybt. | |
2 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo1324 | |
[2] https://deutsch.bre.museum.no/ber-fjrland | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Sverre_Fehn | |
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Anne-Sophie Balzer | |
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