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# taz.de -- Eis in Grönland schmilzt: Oh weh, es kippt
> Der Eisverlust im Nordosten Grönlands ist sechsmal höher als angenommen.
> Brisant – denn so gerät das Weltklimasystem in Gefahr.
Bild: Ein Forscher bei Untersuchungen im grönlandischen Eis im August 2022
Berlin taz | Der Zachariae Isstrøm ist ein Gletscher im hohen Nordosten
Grönlands, im größten unbewohnten Nationalpark der Welt. „2012 ist seine
Barriere zum Meer hin weggebrochen, seitdem ergießt sich ein Eisstrom ins
Meer“, sagt Angelika Humbert, Professorin für Eismodellierung. Für das
Alfred-Wegener-Institut für polare Meeresforschung war sie gerade in einem
internationalen Forschungsteam, das untersucht hat, wie schnell der
Abschmelzprozess vonstatten geht. Das Ergebnis, in dieser Woche im
Fachblatt [1][Nature] veröffentlicht, hat Humbert überrascht: „Wir
unterschätzen, was passiert!“
Bislang war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass der Zachariae-Eisstrom
den globalen Meeresspiegel um 1,5 bis 3 Millimeter bis Ende des
Jahrhunderts ansteigen lässt. Das sagten zumindest die Klimamodelle für die
Region voraus. Humbert und ihr Team werteten dagegen Daten eines Messnetzes
am [2][nordostgrönländischen Eisstrom] aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass
es 13 bis 15 Millimeter werden, allein aus diesem einen Eisstrom. „Der
Eisverlust bis zum Ende des Jahrhunderts ist also sechsmal größer, als die
Klimamodelle bislang prognostiziert haben“, sagt die Professorin.
Das ist brisant, denn der grönländische Eisschild ist eines jener
Kippelemente im Weltklimasystem, die – einmal angeschoben – nie wieder
gestoppt werden können. In den Spitzen ist der Eispanzer 3.300 Meter hoch.
Wenn er anfängt zu tauen, fällt die Oberfläche nach unten in immer wärmere
Schichten.
Ein Forscherteam des Geologischen Dienstes Dänemarks und Grönlands (GEUS)
war im August zum [3][Ergebnis] gekommen, dass der Eisschild bereits aus
dem Gleichgewicht geraten ist, selbst wenn wir sofort alle Emissionen
weltweit stoppen würden – 110.000 Kubikkilometer Eis tauen danach
unwiederbringlich ab und heben den weltweiten Meeresspiegel um mindestens
27 Zentimeter an.
## New York und Jakarta nicht mehr zu verteidigen
Der Sommer 2012 war besonders warm auf Grönland, Meteorologen gehen
davon aus, dass sich durch die Klimaerhitzung derartige Sommer häufen
werden. Die GEUS-Forscher haben einen solchen Sommer als Maßstab für die
Entwicklung genommen: Bis Ende des Jahrhunderts würden dann 10 Prozent der
grönländischen Eisfläche unumkehrbar verloren gehen, der Meeresspiegel um
78 Zentimeter steigen.
Städte wie New York mit mehr als tausend Kilometern Küstenlänge sind
dagegen genauso wenig zu verteidigen wie Bangkok, Alexandria, Basra oder
Jakarta. Taut das gesamte Gletschereis auf Grönland ab, steigt der
Meeresspiegel weltweit um mindestens 7 Meter an. Nicht nur das: Andere
Kippelemente werden ausgelöst, ein Zusammenbruch des Golfstromes etwa, also
jener Meeresströmung, die Wärme aus der Karibik nach Europa transportiert.
Auch wenn es gelänge, die globale Temperatur um nicht mehr als 1,5 Grad
über das vorindustrielle Niveau steigen zu lassen – wovon ExpertInnen
derzeit nicht ausgehen: Selbst dann würden mehrere Klima-Kippelemente
ausgelöst, wie eine neue Untersuchung zeigt.
Ein Kollaps des Grönlandeises gehört genauso dazu wie ein Zusammenbruch der
westantarktischen Eismassen und ein abrupter Verlust des arktischen
Meereises. „Wir sehen bereits Anzeichen für eine Destabilisierung“, erklä…
Hauptautor David Armstrong McKay vom Stockholm Resilience Centre.
## Bereits 1,15 Grad wärmer
Aktuell liegt die globale Durchschnittstemperatur bereits 1,15 Grad über
dem vorindustriellem Niveau; das, was die Staaten der UNO als „Freiwilligen
Klimaplan“ gemeldet haben, würde dafür sorgen, dass die Globaltemperatur um
mindestens 2,8 Grad steigen wird. Lässt sich ein Abschmelzen des
Grönlandeises also noch verhindern? Kippt es bereits?
„Ich war im Juni dort, überall taute es“, sagt Angelika Humbert. „Es war
schwierig, in dem ganzen Schneematsch eine Stelle zu finden, wo wir die
Messgeräte aufstellen konnten.“ Trotzdem ließe sich die Frage nicht
eindeutig beantworten. Im Polarwinter, wenn monatelang keine Sonne scheint,
friere es dort wieder.
„Wenn die Temperaturen weiter ansteigen, werden weitere Kipppunkte
möglich“, erklärt Forscher Armstrong McKay. Und dann sagt er etwas in
Richtung der Klimadiplomaten auf der aktuellen COP 27 in Ägypten: „Die
Wahrscheinlichkeit des Überschreitens von Kipppunkten kann durch ein
rasches Senken der Treibhausgasemissionen verringert werden, und zwar
sofort.“
11 Nov 2022
## LINKS
[1] https://www.nature.com/articles/s41586-022-05301-z
[2] /Groenlands-Eisschild-schmilzt/!5877555
[3] https://www.nature.com/articles/s41558-022-01441-2
## AUTOREN
Nick Reimer
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