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# taz.de -- Wanderung durch Grönland: Die Eisbrecherin
> Fast zwei Jahre lang hat Geertje Marquardt sich auf ihre
> Grönland-Expedition vorbereitet. Nun ist sie zurück. Mit Verletzungen,
> die noch heilen. Und Erfahrungen, die sie selbst noch nicht fassen kann.
Bild: Um zehn Jahre gealtert fühlt sich Geertje, 47, nach ihrer Rückkehr
Bis zum Horizont ist alles weiß. Und manchmal darüber hinaus. Dann weißt du
nicht mehr, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Du kämpfst dich
durch dieses Weiß, schläfst jede Nacht kaum mehr als fünf Stunden. Das Eis
lässt dich Jahre altern, vor Erschöpfung frieren.
Und in dem Moment, in dem du glaubst, du hast es gleich geschafft, Grönland
tatsächlich durchquert, in dem Moment steht alles auf der Kippe. Musst du
kurz vor Schluss doch noch den Rettungshubschrauber rufen? Obwohl du an
alles gedacht, Monate trainiert hast? Und selbst wenn du es schaffst,
tatsächlich schaffst, hat sich das alles hier wirklich gelohnt?
## Himmel und Hölle
Am 15. April bricht Geertje Marquardt in Grönlands Osten auf, um das
Inlandeis zu durchqueren, die zweitgrößte Eisfläche der Welt. 560 Kilometer
Strecke, auf Skiern. Mehr als einen Monat wird es dauern, bis sie wieder
den Rand des mächtigen Eisschilds sieht, auf dem sie sich täglich bis zu 12
Stunden voranschiebt.
Ich kenne Geertje schon länger, habe die Eiskünstlerin und Abenteurerin in
den Monaten vor der Abreise begleitet, um zu fassen, was sie antreibt.
Einen Tag bevor die Expedition beginnt, für die sie fast zwei Jahre hart
trainiert, Geld gespart und den ersten Kredit ihres Lebens aufgenommen hat,
[1][erscheint der Artikel in der taz].
Jetzt ist Geertje zurück, einen Monat nach ihrer Heimkehr treffen wir uns
das erste Mal wieder. Ich brauche einen kurzen Moment, um die beiden
Personen zusammenzubringen – Geertje davor und Geertje danach. Sie sieht
ausgezehrt aus, die aufgesprungene Lippe heilt noch, tiefe Falten im
sonnenverbrannten Gesicht. „10 Jahre älter, ich weiß“, sagt sie lachend.
Wir essen eine ganze Schokolade, während sie von Grönland erzählt. Die
Geschichte ihrer Expedition besteht da noch aus Fragmenten. „Zu viele
Emotionen“, sagt sie. Wenn die Leute auf der Straße fragen, wie es war,
sagt Geertje: „‚Himmel und Hölle‘, das habe ich mir vorher so
zurechtgelegt.“ Es gibt keine kurze Version dieser komplexen Erfahrung.
Anfang September hält Geertje den ersten größeren Vortrag über ihr
Abenteuer, es kommen vor allem Freund*innen. Ihre linke Hand ist da immer
noch taub, von der monotonen Bewegung im Schnee.
Am Anfang, erzählt Geertje, hat es sich angefühlt wie eine ganz normale
Urlaubsreise. Nur eine große Reisetasche hat sie am Ostersonntag in Potsdam
gepackt, bei strahlendem Sonnenschein und 14 Grad im Schatten. Den Großteil
der Ausrüstung – die zwei Schlitten, Isomatten und Schlafsäcke,
Schneeschaufel, Steigeisen, 30 Kilo Essen und Brennstoff – hatte sie schon
im Januar in großen Kisten nach Grönland geschickt. Am Abend verabschiedet
sie sich von den zwei Kindern und ihrem Mann. Ein letztes Zweifeln, kann
ich hier jetzt wirklich weg?
Als sich Geertje am Morgen des Ostermontags aus dem Haus schleicht,
schlafen die anderen noch. Sie trägt die Hose, die sie die ganze Reise
tragen wird – jedes Gramm will wohlüberlegt sein, wenn du es einen Monat im
Schlitten hinter dir herziehen musst.
Wer nach Grönland fliegen will, musst erst nach Dänemark oder Island.
Geertje trifft in Kopenhagen auf den Rest des kleinen Teams, mit dem sie
sich seit Monaten vorbereitet hat: eine Frau aus der Schweiz und ein Mann
vom Bodensee, der die Expedition leiten wird. Sie nehmen einen letzten
Drink an der dänischen Hotelbar, verbringen dann noch zwei Tage in
Grönlands Hauptstadt Nuuk. So richtig los geht die Expedition aber erst in
Tasilaq, Ostgrönland. Bei einer Legende.
Tasilaq ist ein kleiner Ort mit bunten Holzhäusern, in dem die Winter so
hart sind, wie wir es uns in Mitteleuropa nicht vorstellen können. Und in
den ab dem Frühjahr Extremreisende pilgern. Hier lebt Robert Peroni, eine
Ikone der Abenteurerszene. 1983 hat der gebürtige Südtiroler das
grönländische Inlandeis an seiner breitesten Stelle durchquert, ein
Weltrekord, den er bis heute hält.
## Ihr erster Schuss – auf ein Pappwildschwein
Inzwischen ist er fast 80 und betreibt seit drei Jahrzehnten mit
einheimischen Inuit das Hotel Redhouse in Tasilaq, in dem fast alle
Grönlandexpeditionen beginnen oder enden. Es heißt, Peroni, der
Extremsportler, habe ans Ende der Welt gehen müssen, um sich selbst und
seinen Frieden zu finden.
Auch für Geertje und die anderen beiden wird das Redhouse zum Basecamp. Die
Expeditionssaison hat Mitte April gerade erst begonnen. Sonst ist es zu
gefährlich da draußen auf dem Eis, und zu kalt.
Von Peroni lässt sich Geertje noch einmal erklären, wie man einen Eisbären
mit einem Schuss über den Kopf verschreckt. Mit einer Waffe, die man hier
einfach ausleihen kann wie in Deutschland Skier oder Paddelboote. Daheim in
Potsdam, im März, stand Geertje am Schießstand und hat das erste Mal
überhaupt geschossen, auf ein Pappwildschwein in 50 Metern Entfernung. „Das
geht durch und durch.“ Hier in Tasilaq, am Rand des Inlandeises, haben
Einheimische tatsächlich in den Tagen zuvor Eisbären gesichtet.
Auf der Terrasse vom Redhouse packen die drei die Kunststoffschlitten, von
denen jeder zwei hinter sich herziehen wird. Am Himmel erscheinen noch
einmal die schönsten Nordlichter und Geertje telefoniert ein letztes Mal
mit Deutschland. Dann kommt ein Hubschrauber und setzt sie auf dem Rand des
Inlandeises ab. Es ist ein sonniger Nachmittag. Der Hubschrauber wird
kleiner und kleiner, das Geräusch der Rotoren verstummt. Die Zivilisation
ist verschwunden.
## An die Stille gewöhnen
Und dann läufst du rein in diese Welt, in der der Horizont weiß ist. In der
die Monotonie Schönheit und Zumutung zugleich ist. Du läufst bis zu 12
Stunden am Tag. Jeden Tag, außer wenn der Sturm dich ins Zelt zwingt und es
umbraust, als wäre da draußen nichts anderes mehr außer Schnee. Es gibt die
Momente großen Staunens, über das Glitzern dieser unendlichen weißen
Fläche, über den leuchtenden Ring um die Sonne, den man nur in der Eiswelt
sehen kann. Öfter noch gibt es die Momente, in denen für jedes Staunen die
Kraft fehlt.
„Am Anfang hatte ich so ein Fiepen im Ohr“, erzählt Geertje. Eine Woche
dauert es, bis sich das Gehirn daran gewöhnt, dass es die meiste Zeit still
ist. Keine Maschinen, Motoren, Straßenbahnen, Schlagen von Türen,
Stimmengewirr. Kein Rauschen von Bäumen, kein Knistern von Blättern, kein
Vogelzwitschern. Keine ferne Autobahn knapp über der Wahrnehmungsschwelle.
Hier auf dem Inlandeis ist nur der Wind und der Schnee, der die eigenen
Schritte verschluckt.
Die drei steigen auf die Skier und laufen los, nach GPS-Daten vergangener
Expeditionen. Wer vorn läuft, hat den Kompass vor die Brust geschnallt, um
die Richtung zu halten. Was du lernst in Grönland: Norden ist nicht gleich
Norden. Je näher an den Polen, desto mehr zeigt die Kompassnadel auf den
magnetischen Nordpol, nicht auf den geografischen. Missweisend nennen das
die Geograf*innen.
„Beim Losgehen hat man das erste Mal so richtig das Gewicht der Schlitten
gespürt“, sagt Geertje. In Potsdam hat sie Autoreifen durch den Wald
gezerrt, um zu trainieren. Das war schwer genug. Hier auf dem Inlandeis
geht es leicht bergauf. So wenig, dass du es nicht siehst. So viel, dass
die Schlitten, die in einem Geschirr an Geertjes Hüften und Schultern
hängen, nach hinten zerren. Das ist kein Gleiten über den Schnee, mehr ein
Stapfen.
## Ski, eat, sleep, repeat
Geertje fällt zurück. Die Schwächste in der Gruppe zu sein, war schon in
der Vorbereitung ein großes Thema. Die anderen beiden sind erfahren in
schweren Bergtouren, auf Skiern. Geertje hat in den vergangenen anderthalb
Jahren versucht, sich an sie heranzutrainieren. Der Expeditionsleiter
übernimmt den schweren Benzinkanister, den sie sich in Tasilaq noch auf den
Schlitten geladen hatte, dann wird es leichter. Vier Kilometer schaffen sie
an diesem ersten Tag. Alle kämpfen mit der Anstrengung. Dass irgendwann
Geertje immer schneller wird, ahnt da noch niemand.
Die Gleichförmigkeit der Tage beginnt: „Ski, eat, sleep, repeat.“ 4.30 Uhr
aufstehen. Trinkwasser zubereiten: Wenn du einen Topf voll Schnee schmilzt,
bleibt darin nur eine Pfütze. Das Wasser fürs Frühstück, für die
Thermoskannen, für das Abendessen zu schmelzen, dauert allein 2 Stunden pro
Tag. Zum Frühstück gibt es Müsli mit Milchpulver, Erdnussbutter, Kakao oder
Blaubeersuppe. Dann das Zelt zusammenbauen, Schlitten packen.
Gegen 7 Uhr brechen sie auf. In den ersten Tagen mit der Waffe um die
Schulter. Eine Stunde laufen, dann ein Schluck aus der Thermoskanne mit
Gemüsebrühe oder süßem Tee, ein Haferflockenriegel. Weiter. Wieder eine
Stunde, wieder eine Pause. Wieder eine Stunde, wieder eine Pause. Sechs bis
zwölf Etappen am Tag.
Und was siehst du, wenn du läufst? Abstufungen von Weiß, Schneeformationen,
Lichtreflexe am Himmel. Manchmal überall nur Weiß, das sogenannte Whiteout,
bei dem diffuses Sonnenlicht alle Kontraste und den Horizont verschluckt.
„Die Schönheit der Monotonie“ hat es Wilfried Korth genannt, ein Potsdamer
Polarforscher, mit dem Geertje eigentlich nach Grönland reisen wollte und
der 2019 kurz vor der damals geplanten Tour verunglückte.
## Tosende Stürme
Jeden Abend bauen sie gegen 19 Uhr die zwei Zelte auf, eins für die beiden
Frauen, eines für den Mann. In den ersten Nächten umspannt eine dünne
Schnur das Camp, die bei Berührung einen schrillen Alarm auslöst. Doch es
kommt kein Eisbär, nicht einmal Spuren sind zu sehen. Eine Sorge, die in
den Hintergrund tritt.
Je nach Wettervorhersage schaufeln die Reisenden eine Schneemauer um die
Zelte als Windschutz, heben im Vorzelt einen Graben aus, um beim Kochen gut
sitzen zu können. Es sind Stunden schwerer Arbeit, die am Tag darauf der
Wind verwehen wird.
Es gibt ein Video, das Geertje aus dem halb geöffneten Zelt aufnimmt und
das erahnen lässt, was ein Sturm auf dem flachen Eisschild bedeutet. Es
braust und zerrt am doppelten Zeltgestänge. Die Schlitten sind so
eingeschneit, dass sie am Morgen kaum zu finden sind. An manchen Tagen
erzwingt so ein Sturm einen Ruhetag für die kleine Expedition.
Keinem einzigen Lebewesen begegnen die drei in den ersten Wochen.
Theoretisch kommt ihnen eine Frauenexpedition entgegen. „Berechne mal mit
dem Satz des Pythagoras, wie weit man hier schauen kann“, schreibt Geertje
in einer der kurzen Nachrichten, die sie via Satellit nach Hause schicken
kann. Es sind kaum 5 Kilometer, rechnet die 16-jährige Tochter daheim in
Potsdam aus.
Die beiden Gruppen begegnen sich nicht. Nur ein kleiner Vogel verirrt sich
irgendwann in das Camp der drei. Vielleicht ein Polarfink. Wahrscheinlich
hat ihn der Wind hierhergetragen. Er inspiziert die bunte Ausrüstung, bevor
er wieder im Weiß verschwindet.
Nach 20 Tagen erreichen Geertje und die anderen den höchsten Punkt ihrer
Reise. 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Es wird eine der schwersten und
kältesten Etappen.
Du kennst diese Kälte, davor hast du keine Angst. Aber dann sitzt du da,
nachts um 10, am Rande deiner Isomatte, völlig erschöpft. Und dieser
verdammte Kocher, den du schon ein Dutzend Mal auseinander und wieder
zusammengefummelt hast, funktioniert nicht. Eigentlich willst du nur in den
Schlafsack, aber du musst vernünftig sein, alles auf die Reihe kriegen, was
du für den nächsten Tag brauchst. Den Kocher reparieren, Schnee schmelzen.
Mit diesen zerschundenen, aufgeplatzten Fingern.
## „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“
Die Tochter hat der Mutter einen Kalender aus zusammengefalteten kleinen
Zetteln mit auf die Reise gegeben, für jeden Tag der Expedition einen.
Geertje öffnet sie am Morgen und schreibt die Sprüche in ihr Tagebuch.
„Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“, steht auf einem. Am Abend
notiert Geertje daneben: „Ich schaffe es vor Erschöpfung kaum in meinen
Schlafsack.“
Die Nacht auf 2.500 Meter Höhe, mit dem kaputten Kocher, physisch und
mental verausgabt, bei minus 33 Grad, „das war eine Situation, die so hart
ist, das konnte ich mir vorher nicht vorstellen“, erzählt Geertje. „Das war
das einzige Mal, das ich gefroren habe, vor Erschöpfung.“
Die Expedition zehrt an den Kräften aller. Immer die kurzen Nächte, weil
das Tagespensum sonst nicht zu schaffen ist. Die Kälte greift die Haut im
Gesicht und an den Fingern an. Zwei von ihnen laufen sich einen Wolf,
offene Stellen zwischen den Oberschenkeln. Hier auf dem Eis heilt nichts,
die Wunden werden sie alle mit nach Hause nehmen.
Und der Hunger. Zu Hause kommt Geertje auf 2.500 Kalorien am Tag, hier
schaufelt sie 4.500 in sich hinein. Mit Riegeln, Maltodextrin, Schokolade,
Nüssen, hochkalorischer Expeditionsnahrung, Pudding zum Dessert. „Aber du
kannst nicht so viel essen, wie du verbrauchst, du hast immer Hunger.“ Bis
zu 10 Kilo werden sie am Ende alle abgenommen haben.
## Sie fühlt sich „wie beschenkt“
Auch den Monstern des Inlandeises ist Geertje begegnet. Alle sind
übermüdet, die Probleme mit der Ausrüstung, die Wunden, unterschiedliche
Vorstellungen von Gemeinschaft, die Monotonie der Landschaft – Es gibt in
diesen Wochen nur diese drei Menschen auf dem Inlandeis, kaum Ablenkung,
kein aus dem Weg gehen. „Vielleicht ist es besser, sich noch intensiver zu
kennen, bevor man auf so eine extreme Tour geht“, sagt Geertje heute.
Bei ihr kommt irgendwann der Punkt, „da habe ich mich reintrainiert. Obwohl
mein Freund Wilfried immer gesagt hat, ab 30 geht das nicht mehr.“ Geertje
ist 47. Und muss sich plötzlich bremsen, wenn sie vorne läuft – damit die
anderen noch hinterherkommen.
„Die Faszination, dass der Körper und der Geist das mitmachen, ist eine der
größten Belohnungen. Dass durch Training und Lebenserfahrung so etwas
möglich ist“, sagt Geertje. Und dass die Schönheit dadurch viel tiefer
wird. Die in Schnee gepressten Verwehungen, das Licht, die Stille. „Das
habe ich noch nie irgendwo so erlebt, ich fühlte mich jeden Tag beschenkt.“
Es ist eine Schönheit im Kleinen, im Reduzierten. Ein Mittagsschlaf im
Biwaksack auf dem Schnee, im Windschutz des Schlittens. Die Sonne scheint
gedämpft durch den Stoff. „So muss es sich im Mutterleib anfühlen“, sagt
Geertje. „Ich hätte nie gedacht, dass mir ein Mittagsschlaf im Eis so viel
Freude machen kann.“
Sie schaffen um die 30 Kilometer am Tag. Die Expedition neigt sich dem Ende
zu. Genau wie das Essen und der Brennstoff. Und dann kommt Tag 33.
Das ist der letzte Tag, so weit bist du schon gelaufen. Bald wieder Land,
nach 33 Tagen auf diesem Meer aus Eis und Schnee. Irgendwo dort drüben
wartet einer mit heißem Kaffee und Sandwiches und einem Fahrzeug, in dem es
warm wird. Es sind doch nur noch diese paar Schritte, noch ein bisschen
Kraft … Und dann bricht das Eis.
Es gab Ereignisse auf dieser Expedition, die hätten den Abbruch bedeuten
können. Die Probleme mit dem Brennstoff und den Kochern. Der Husten, der
eine der Mitreisenden plagt und sie tagelang schwächt. „Wenn einer
abbricht, hätten wir bei so einer kleinen Gruppe alle abbrechen müssen. Ich
finde das auch richtig so, für die Gruppe wäre alles andere schlecht“, sagt
Geertje.
Abbrechen, das bedeutet: Den Rettungshubschrauber rufen. Es nicht bis zum
Ende schaffen. „Klar gab es das Ziel, das zu schaffen. Aber für mich war
die Expedition im Geiste immer erfolgreich, auch wenn wir vor dem Ende des
Eisrandes hätten aufhören müssen.“
An Tag 33 sieht es so aus, als liegen diese Überlegungen hinter ihnen. Es
ist Mitte Mai und inzwischen geht die Sonne über dem Inlandeis gar nicht
mehr unter. Es gibt die Vereinbarung, dass sie abends um 22 Uhr an einem
festen Punkt von einem Gletscherfahrzeug abgeholt werden.
## Der letzte Tag bricht an
4.30 Uhr aufstehen, ein letztes Mal Schnee schmelzen, frühstücken, die
Thermoskannen für den Tag vorbereiten. Ein winziger Rest Brennstoff bleibt
noch übrig. Ein letztes Mal das Camp zusammenpacken und auf die Schlitten
laden. Geertje hat inzwischen rund 30 Kilo weniger zu schleppen, so viel
ist an Brennstoff und Essen verbraucht. Ein letztes Mal Aufbrechen auf dem
Eisschild. Die letzten 20 Kilometer. Das muss zu schaffen sein.
Die Landschaft verändert sich. Meterhoch ist der Schnee aufgeworfen und
bildet ein dichtes Labyrinth. Blankeis wird sichtbar, das magischerweise
vom gleichen tiefen Blau ist wie das Meer der Karibik. Endlich etwas
Abwechslung fürs Auge und mehr als einfach nur geradeaus gehen. Aber das
Durchnavigieren kostet Zeit, immer wieder steigt der Leiter der Expedition
auf einen der Hügel, um zu sehen, ob sie auf dem richtigen Weg sind.
Gegen 20 Uhr gehen ihnen die Reserven aus, kein Tee mehr in den
Thermoskannen. Es wird klar: Bis 22 Uhr werden sie es nicht schaffen. Die
Firma, die den Fahrer schickt, ist nicht zu erreichen. Das Gelände wird
noch unübersichtlicher. Immer wieder müssen sie die Skier abschnallen und
die Schlitten einzeln über die Hügel heben. „Die Kraft ging mir aus und da
war so eine Hoffnungslosigkeit.“
Dann endlich wird es flach, gegen 22 Uhr verlassen sie das unwegsame
Gelände. Hoffentlich wartet der Fahrer noch ein bisschen. Da blitzt es aus
der dunklen Moränenlandschaft vor ihnen hell auf. Der Fahrer sendet
Lichtsignale – hier müsst ihr lang.
Vor ihnen liegt nun nur noch diese zugeschneite Ebene mit einigen
Bachläufen. Kurz vor Mitternacht sind es keine 100 Meter mehr, bis sie das
feste Land erreicht haben werden. Endlich wieder einen Stein anfassen.
## Die Kraft war aufgebraucht
Dann bricht Geertjes Mitreisende ein. Sekunden später auch der Mann. Bis
zur Brust versinken sie in dem See, der unter dünnem Eis und Schnee
verborgen lag. Der Mann kommt selbst wieder raus. Bei der Frau bricht immer
wieder der Eisrand weg, bis Geertje ihr einen Ski reicht. Beide sind
klatschnass, der Schock steht allen im Gesicht. Es droht Unterkühlung. „Es
hätte passieren können, dass wir da noch den Helikopter hätten rufen
müssen“, sagt Geertje.
Aber das realisieren sie erst viel später. Erst mal weiter, in Bewegung
bleiben. Um Mitternacht kommen sie bei dem Fahrer an. Keine Zeit für
Euphorie. Bevor sie sich trockene Sachen anziehen, endlich in den Truck mit
der Heizung setzen, muss all die Last auf den Schlitten noch einzeln über
den kleinen Berg zum Fahrzeug gewuchtet werden.
Um 3 Uhr nachts sitzen sie im Auto. Auf dem Weg zurück in die Zivilisation
hält der Fahrer immer wieder an. Rechts und links ziehen Moschusochsen und
Rentiere durch die Landschaft Westgrönlands. So viel Leben nach all dieser
Kargheit. „Das war in dem Moment verschenkt“, sagt Geertje. Es gibt nur
ein verschwommenes Foto aus dem Autofenster. Die Kraft war aufgebraucht.
Was ist der Lohn? Für zwei Jahre Schinderei, Tausende Euros, so viele
Gedanken, all die Gefahr. Lässt sich das überhaupt aufwiegen?
## Warme Dusche und Süßspeisen am Hotelbuffet
Um 5 fallen sie in die Hotelbetten in Kangerlussuaq. Nach mehr als 24
Stunden auf den Beinen. „Aber wir mussten keinen Schnee mehr schmelzen.“
Geertje lacht. „Und dann lagen wir in diesen weißen Bettlaken und mussten
uns immer wieder versichern, dass das alles, die ganze Expedition wirklich
passiert ist.“ Wieder und wieder erzählen sie sich einzelne Situationen.
„Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das am Ende noch geschafft habe“,
sagt Geertje.
Am Morgen folgen: die erste warme Dusche, Rührei, Sandwiches und dänische
Süßspeisen am Hotelbuffet. Vom Frühstücksraum ruft Geertje ihre Familie
an, mit Video, alle brechen in Tränen aus. Die Tochter erzählt später, dass
es gut war, schon mal zu sehen, wie ihre Mutter jetzt aussah. „Das hat uns
auf das Wiedersehen am Flughafen vorbereitet.“ Als Geertje wieder zu Hause
ist, sagt die Tochter, „hatte sie endlich mal weniger Hummeln im Hintern“.
Im September, nach mehr als drei Monaten, sind noch nicht alle Wunden
verheilt. Auch wenn Geertje äußerlich wieder aussieht wie vor der
Expedition. „Das war keine ‚schöne Reise‘, das wäre viel zu simpel. Das…
schmerzvoll und auch wundervoll.“ Zwei Jahre hat Geertje der Expedition
bisher gewidmet und sie nimmt noch immer viel Raum ein – Geertje hält
Vorträge, plant eine Ausstellung. „Vorbei ist es noch nicht.“
Diese extreme Reise über Grönlands Inlandeis wollte Geertje unbedingt
wagen, bevor sie 50 ist. „Weil ich keine Frauen zwischen 50 und 60 Jahren
kenne, die so was machen können“, hatte sie im März gesagt. Jetzt schüttelt
sie den Kopf. „Auf so eine Tour kann ich mich auch wieder vorbereiten.“
Vielleicht ist es diese Selbstgewissheit, für die Geertje Marquardt 560
Kilometer übers ewige Eis gehen musste.
13 Sep 2023
## LINKS
[1] /Wanderung-durch-Groenland/!5924532
## AUTOREN
Manuela Heim
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Bevor sie 50 ist, will Geertje Marquardt die größte Insel der Erde
durchqueren. Seit anderthalb Jahren trainiert sie dafür. Was will sie
finden?
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dachten. Das Gletscherwasser enthüllt dabei lange Verborgenes.
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