| # taz.de -- Wanderung durch Grönland: Die Eisbrecherin | |
| > Fast zwei Jahre lang hat Geertje Marquardt sich auf ihre | |
| > Grönland-Expedition vorbereitet. Nun ist sie zurück. Mit Verletzungen, | |
| > die noch heilen. Und Erfahrungen, die sie selbst noch nicht fassen kann. | |
| Bild: Um zehn Jahre gealtert fühlt sich Geertje, 47, nach ihrer Rückkehr | |
| Bis zum Horizont ist alles weiß. Und manchmal darüber hinaus. Dann weißt du | |
| nicht mehr, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Du kämpfst dich | |
| durch dieses Weiß, schläfst jede Nacht kaum mehr als fünf Stunden. Das Eis | |
| lässt dich Jahre altern, vor Erschöpfung frieren. | |
| Und in dem Moment, in dem du glaubst, du hast es gleich geschafft, Grönland | |
| tatsächlich durchquert, in dem Moment steht alles auf der Kippe. Musst du | |
| kurz vor Schluss doch noch den Rettungshubschrauber rufen? Obwohl du an | |
| alles gedacht, Monate trainiert hast? Und selbst wenn du es schaffst, | |
| tatsächlich schaffst, hat sich das alles hier wirklich gelohnt? | |
| ## Himmel und Hölle | |
| Am 15. April bricht Geertje Marquardt in Grönlands Osten auf, um das | |
| Inlandeis zu durchqueren, die zweitgrößte Eisfläche der Welt. 560 Kilometer | |
| Strecke, auf Skiern. Mehr als einen Monat wird es dauern, bis sie wieder | |
| den Rand des mächtigen Eisschilds sieht, auf dem sie sich täglich bis zu 12 | |
| Stunden voranschiebt. | |
| Ich kenne Geertje schon länger, habe die Eiskünstlerin und Abenteurerin in | |
| den Monaten vor der Abreise begleitet, um zu fassen, was sie antreibt. | |
| Einen Tag bevor die Expedition beginnt, für die sie fast zwei Jahre hart | |
| trainiert, Geld gespart und den ersten Kredit ihres Lebens aufgenommen hat, | |
| [1][erscheint der Artikel in der taz]. | |
| Jetzt ist Geertje zurück, einen Monat nach ihrer Heimkehr treffen wir uns | |
| das erste Mal wieder. Ich brauche einen kurzen Moment, um die beiden | |
| Personen zusammenzubringen – Geertje davor und Geertje danach. Sie sieht | |
| ausgezehrt aus, die aufgesprungene Lippe heilt noch, tiefe Falten im | |
| sonnenverbrannten Gesicht. „10 Jahre älter, ich weiß“, sagt sie lachend. | |
| Wir essen eine ganze Schokolade, während sie von Grönland erzählt. Die | |
| Geschichte ihrer Expedition besteht da noch aus Fragmenten. „Zu viele | |
| Emotionen“, sagt sie. Wenn die Leute auf der Straße fragen, wie es war, | |
| sagt Geertje: „‚Himmel und Hölle‘, das habe ich mir vorher so | |
| zurechtgelegt.“ Es gibt keine kurze Version dieser komplexen Erfahrung. | |
| Anfang September hält Geertje den ersten größeren Vortrag über ihr | |
| Abenteuer, es kommen vor allem Freund*innen. Ihre linke Hand ist da immer | |
| noch taub, von der monotonen Bewegung im Schnee. | |
| Am Anfang, erzählt Geertje, hat es sich angefühlt wie eine ganz normale | |
| Urlaubsreise. Nur eine große Reisetasche hat sie am Ostersonntag in Potsdam | |
| gepackt, bei strahlendem Sonnenschein und 14 Grad im Schatten. Den Großteil | |
| der Ausrüstung – die zwei Schlitten, Isomatten und Schlafsäcke, | |
| Schneeschaufel, Steigeisen, 30 Kilo Essen und Brennstoff – hatte sie schon | |
| im Januar in großen Kisten nach Grönland geschickt. Am Abend verabschiedet | |
| sie sich von den zwei Kindern und ihrem Mann. Ein letztes Zweifeln, kann | |
| ich hier jetzt wirklich weg? | |
| Als sich Geertje am Morgen des Ostermontags aus dem Haus schleicht, | |
| schlafen die anderen noch. Sie trägt die Hose, die sie die ganze Reise | |
| tragen wird – jedes Gramm will wohlüberlegt sein, wenn du es einen Monat im | |
| Schlitten hinter dir herziehen musst. | |
| Wer nach Grönland fliegen will, musst erst nach Dänemark oder Island. | |
| Geertje trifft in Kopenhagen auf den Rest des kleinen Teams, mit dem sie | |
| sich seit Monaten vorbereitet hat: eine Frau aus der Schweiz und ein Mann | |
| vom Bodensee, der die Expedition leiten wird. Sie nehmen einen letzten | |
| Drink an der dänischen Hotelbar, verbringen dann noch zwei Tage in | |
| Grönlands Hauptstadt Nuuk. So richtig los geht die Expedition aber erst in | |
| Tasiilaq, Ostgrönland. Bei einer Legende. | |
| Tasiilaq ist ein kleiner Ort mit bunten Holzhäusern, in dem die Winter so | |
| hart sind, wie wir es uns in Mitteleuropa nicht vorstellen können. Und in | |
| den ab dem Frühjahr Extremreisende pilgern. Hier lebt Robert Peroni, eine | |
| Ikone der Abenteurerszene. 1983 hat der gebürtige Südtiroler das | |
| grönländische Inlandeis an seiner breitesten Stelle durchquert, ein | |
| Weltrekord, den er bis heute hält. | |
| ## Ihr erster Schuss – auf ein Pappwildschwein | |
| Inzwischen ist er fast 80 und betreibt seit drei Jahrzehnten mit | |
| einheimischen Inuit das Hotel Redhouse in Tasiilaq, in dem fast alle | |
| Grönlandexpeditionen beginnen oder enden. Es heißt, Peroni, der | |
| Extremsportler, habe ans Ende der Welt gehen müssen, um sich selbst und | |
| seinen Frieden zu finden. | |
| Auch für Geertje und die anderen beiden wird das Redhouse zum Basecamp. Die | |
| Expeditionssaison hat Mitte April gerade erst begonnen. Sonst ist es zu | |
| gefährlich da draußen auf dem Eis, und zu kalt. | |
| Von Peroni lässt sich Geertje noch einmal erklären, wie man einen Eisbären | |
| mit einem Schuss über den Kopf verschreckt. Mit einer Waffe, die man hier | |
| einfach ausleihen kann wie in Deutschland Skier oder Paddelboote. Daheim in | |
| Potsdam, im März, stand Geertje am Schießstand und hat das erste Mal | |
| überhaupt geschossen, auf ein Pappwildschwein in 50 Metern Entfernung. „Das | |
| geht durch und durch.“ Hier in Tasiilaq, am Rand des Inlandeises, haben | |
| Einheimische tatsächlich in den Tagen zuvor Eisbären gesichtet. | |
| Auf der Terrasse vom Redhouse packen die drei die Kunststoffschlitten, von | |
| denen jeder zwei hinter sich herziehen wird. Am Himmel erscheinen noch | |
| einmal die schönsten Nordlichter und Geertje telefoniert ein letztes Mal | |
| mit Deutschland. Dann kommt ein Hubschrauber und setzt sie auf dem Rand des | |
| Inlandeises ab. Es ist ein sonniger Nachmittag. Der Hubschrauber wird | |
| kleiner und kleiner, das Geräusch der Rotoren verstummt. Die Zivilisation | |
| ist verschwunden. | |
| ## An die Stille gewöhnen | |
| Und dann läufst du rein in diese Welt, in der der Horizont weiß ist. In der | |
| die Monotonie Schönheit und Zumutung zugleich ist. Du läufst bis zu 12 | |
| Stunden am Tag. Jeden Tag, außer wenn der Sturm dich ins Zelt zwingt und es | |
| umbraust, als wäre da draußen nichts anderes mehr außer Schnee. Es gibt die | |
| Momente großen Staunens, über das Glitzern dieser unendlichen weißen | |
| Fläche, über den leuchtenden Ring um die Sonne, den man nur in der Eiswelt | |
| sehen kann. Öfter noch gibt es die Momente, in denen für jedes Staunen die | |
| Kraft fehlt. | |
| „Am Anfang hatte ich so ein Fiepen im Ohr“, erzählt Geertje. Eine Woche | |
| dauert es, bis sich das Gehirn daran gewöhnt, dass es die meiste Zeit still | |
| ist. Keine Maschinen, Motoren, Straßenbahnen, Schlagen von Türen, | |
| Stimmengewirr. Kein Rauschen von Bäumen, kein Knistern von Blättern, kein | |
| Vogelzwitschern. Keine ferne Autobahn knapp über der Wahrnehmungsschwelle. | |
| Hier auf dem Inlandeis ist nur der Wind und der Schnee, der die eigenen | |
| Schritte verschluckt. | |
| Die drei steigen auf die Skier und laufen los, nach GPS-Daten vergangener | |
| Expeditionen. Wer vorn läuft, hat den Kompass vor die Brust geschnallt, um | |
| die Richtung zu halten. Was du lernst in Grönland: Norden ist nicht gleich | |
| Norden. Je näher an den Polen, desto mehr zeigt die Kompassnadel auf den | |
| magnetischen Nordpol, nicht auf den geografischen. Missweisend nennen das | |
| die Geograf*innen. | |
| „Beim Losgehen hat man das erste Mal so richtig das Gewicht der Schlitten | |
| gespürt“, sagt Geertje. In Potsdam hat sie Autoreifen durch den Wald | |
| gezerrt, um zu trainieren. Das war schwer genug. Hier auf dem Inlandeis | |
| geht es leicht bergauf. So wenig, dass du es nicht siehst. So viel, dass | |
| die Schlitten, die in einem Geschirr an Geertjes Hüften und Schultern | |
| hängen, nach hinten zerren. Das ist kein Gleiten über den Schnee, mehr ein | |
| Stapfen. | |
| ## Ski, eat, sleep, repeat | |
| Geertje fällt zurück. Die Schwächste in der Gruppe zu sein, war schon in | |
| der Vorbereitung ein großes Thema. Die anderen beiden sind erfahren in | |
| schweren Bergtouren, auf Skiern. Geertje hat in den vergangenen anderthalb | |
| Jahren versucht, sich an sie heranzutrainieren. Der Expeditionsleiter | |
| übernimmt den schweren Benzinkanister, den sie sich in Tasiilaq noch auf | |
| den Schlitten geladen hatte, dann wird es leichter. Vier Kilometer schaffen | |
| sie an diesem ersten Tag. Alle kämpfen mit der Anstrengung. Dass irgendwann | |
| Geertje immer schneller wird, ahnt da noch niemand. | |
| Die Gleichförmigkeit der Tage beginnt: „Ski, eat, sleep, repeat.“ 4.30 Uhr | |
| aufstehen. Trinkwasser zubereiten: Wenn du einen Topf voll Schnee schmilzt, | |
| bleibt darin nur eine Pfütze. Das Wasser fürs Frühstück, für die | |
| Thermoskannen, für das Abendessen zu schmelzen, dauert allein 2 Stunden pro | |
| Tag. Zum Frühstück gibt es Müsli mit Milchpulver, Erdnussbutter, Kakao oder | |
| Blaubeersuppe. Dann das Zelt zusammenbauen, Schlitten packen. | |
| Gegen 7 Uhr brechen sie auf. In den ersten Tagen mit der Waffe um die | |
| Schulter. Eine Stunde laufen, dann ein Schluck aus der Thermoskanne mit | |
| Gemüsebrühe oder süßem Tee, ein Haferflockenriegel. Weiter. Wieder eine | |
| Stunde, wieder eine Pause. Wieder eine Stunde, wieder eine Pause. Sechs bis | |
| zwölf Etappen am Tag. | |
| Und was siehst du, wenn du läufst? Abstufungen von Weiß, Schneeformationen, | |
| Lichtreflexe am Himmel. Manchmal überall nur Weiß, das sogenannte Whiteout, | |
| bei dem diffuses Sonnenlicht alle Kontraste und den Horizont verschluckt. | |
| „Die Schönheit der Monotonie“ hat es Wilfried Korth genannt, ein Potsdamer | |
| Polarforscher, mit dem Geertje eigentlich nach Grönland reisen wollte und | |
| der 2019 kurz vor der damals geplanten Tour verunglückte. | |
| ## Tosende Stürme | |
| Jeden Abend bauen sie gegen 19 Uhr die zwei Zelte auf, eins für die beiden | |
| Frauen, eines für den Mann. In den ersten Nächten umspannt eine dünne | |
| Schnur das Camp, die bei Berührung einen schrillen Alarm auslöst. Doch es | |
| kommt kein Eisbär, nicht einmal Spuren sind zu sehen. Eine Sorge, die in | |
| den Hintergrund tritt. | |
| Je nach Wettervorhersage schaufeln die Reisenden eine Schneemauer um die | |
| Zelte als Windschutz, heben im Vorzelt einen Graben aus, um beim Kochen gut | |
| sitzen zu können. Es sind Stunden schwerer Arbeit, die am Tag darauf der | |
| Wind verwehen wird. | |
| Es gibt ein Video, das Geertje aus dem halb geöffneten Zelt aufnimmt und | |
| das erahnen lässt, was ein Sturm auf dem flachen Eisschild bedeutet. Es | |
| braust und zerrt am doppelten Zeltgestänge. Die Schlitten sind so | |
| eingeschneit, dass sie am Morgen kaum zu finden sind. An manchen Tagen | |
| erzwingt so ein Sturm einen Ruhetag für die kleine Expedition. | |
| Keinem einzigen Lebewesen begegnen die drei in den ersten Wochen. | |
| Theoretisch kommt ihnen eine Frauenexpedition entgegen. „Berechne mal mit | |
| dem Satz des Pythagoras, wie weit man hier schauen kann“, schreibt Geertje | |
| in einer der kurzen Nachrichten, die sie via Satellit nach Hause schicken | |
| kann. Es sind kaum 5 Kilometer, rechnet die 16-jährige Tochter daheim in | |
| Potsdam aus. | |
| Die beiden Gruppen begegnen sich nicht. Nur ein kleiner Vogel verirrt sich | |
| irgendwann in das Camp der drei. Vielleicht ein Polarfink. Wahrscheinlich | |
| hat ihn der Wind hierhergetragen. Er inspiziert die bunte Ausrüstung, bevor | |
| er wieder im Weiß verschwindet. | |
| Nach 20 Tagen erreichen Geertje und die anderen den höchsten Punkt ihrer | |
| Reise. 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Es wird eine der schwersten und | |
| kältesten Etappen. | |
| Du kennst diese Kälte, davor hast du keine Angst. Aber dann sitzt du da, | |
| nachts um 10, am Rande deiner Isomatte, völlig erschöpft. Und dieser | |
| verdammte Kocher, den du schon ein Dutzend Mal auseinander und wieder | |
| zusammengefummelt hast, funktioniert nicht. Eigentlich willst du nur in den | |
| Schlafsack, aber du musst vernünftig sein, alles auf die Reihe kriegen, was | |
| du für den nächsten Tag brauchst. Den Kocher reparieren, Schnee schmelzen. | |
| Mit diesen zerschundenen, aufgeplatzten Fingern. | |
| ## „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“ | |
| Die Tochter hat der Mutter einen Kalender aus zusammengefalteten kleinen | |
| Zetteln mit auf die Reise gegeben, für jeden Tag der Expedition einen. | |
| Geertje öffnet sie am Morgen und schreibt die Sprüche in ihr Tagebuch. | |
| „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“, steht auf einem. Am Abend | |
| notiert Geertje daneben: „Ich schaffe es vor Erschöpfung kaum in meinen | |
| Schlafsack.“ | |
| Die Nacht auf 2.500 Meter Höhe, mit dem kaputten Kocher, physisch und | |
| mental verausgabt, bei minus 33 Grad, „das war eine Situation, die so hart | |
| ist, das konnte ich mir vorher nicht vorstellen“, erzählt Geertje. „Das war | |
| das einzige Mal, das ich gefroren habe, vor Erschöpfung.“ | |
| Die Expedition zehrt an den Kräften aller. Immer die kurzen Nächte, weil | |
| das Tagespensum sonst nicht zu schaffen ist. Die Kälte greift die Haut im | |
| Gesicht und an den Fingern an. Zwei von ihnen laufen sich einen Wolf, | |
| offene Stellen zwischen den Oberschenkeln. Hier auf dem Eis heilt nichts, | |
| die Wunden werden sie alle mit nach Hause nehmen. | |
| Und der Hunger. Zu Hause kommt Geertje auf 2.500 Kalorien am Tag, hier | |
| schaufelt sie 4.500 in sich hinein. Mit Riegeln, Maltodextrin, Schokolade, | |
| Nüssen, hochkalorischer Expeditionsnahrung, Pudding zum Dessert. „Aber du | |
| kannst nicht so viel essen, wie du verbrauchst, du hast immer Hunger.“ Bis | |
| zu 10 Kilo werden sie am Ende alle abgenommen haben. | |
| ## Sie fühlt sich „wie beschenkt“ | |
| Auch den Monstern des Inlandeises ist Geertje begegnet. Alle sind | |
| übermüdet, die Probleme mit der Ausrüstung, die Wunden, unterschiedliche | |
| Vorstellungen von Gemeinschaft, die Monotonie der Landschaft – Es gibt in | |
| diesen Wochen nur diese drei Menschen auf dem Inlandeis, kaum Ablenkung, | |
| kein aus dem Weg gehen. „Vielleicht ist es besser, sich noch intensiver zu | |
| kennen, bevor man auf so eine extreme Tour geht“, sagt Geertje heute. | |
| Bei ihr kommt irgendwann der Punkt, „da habe ich mich reintrainiert. Obwohl | |
| mein Freund Wilfried immer gesagt hat, ab 30 geht das nicht mehr.“ Geertje | |
| ist 47. Und muss sich plötzlich bremsen, wenn sie vorne läuft – damit die | |
| anderen noch hinterherkommen. | |
| „Die Faszination, dass der Körper und der Geist das mitmachen, ist eine der | |
| größten Belohnungen. Dass durch Training und Lebenserfahrung so etwas | |
| möglich ist“, sagt Geertje. Und dass die Schönheit dadurch viel tiefer | |
| wird. Die in Schnee gepressten Verwehungen, das Licht, die Stille. „Das | |
| habe ich noch nie irgendwo so erlebt, ich fühlte mich jeden Tag beschenkt.“ | |
| Es ist eine Schönheit im Kleinen, im Reduzierten. Ein Mittagsschlaf im | |
| Biwaksack auf dem Schnee, im Windschutz des Schlittens. Die Sonne scheint | |
| gedämpft durch den Stoff. „So muss es sich im Mutterleib anfühlen“, sagt | |
| Geertje. „Ich hätte nie gedacht, dass mir ein Mittagsschlaf im Eis so viel | |
| Freude machen kann.“ | |
| Sie schaffen um die 30 Kilometer am Tag. Die Expedition neigt sich dem Ende | |
| zu. Genau wie das Essen und der Brennstoff. Und dann kommt Tag 33. | |
| Das ist der letzte Tag, so weit bist du schon gelaufen. Bald wieder Land, | |
| nach 33 Tagen auf diesem Meer aus Eis und Schnee. Irgendwo dort drüben | |
| wartet einer mit heißem Kaffee und Sandwiches und einem Fahrzeug, in dem es | |
| warm wird. Es sind doch nur noch diese paar Schritte, noch ein bisschen | |
| Kraft … Und dann bricht das Eis. | |
| Es gab Ereignisse auf dieser Expedition, die hätten den Abbruch bedeuten | |
| können. Die Probleme mit dem Brennstoff und den Kochern. Der Husten, der | |
| eine der Mitreisenden plagt und sie tagelang schwächt. „Wenn einer | |
| abbricht, hätten wir bei so einer kleinen Gruppe alle abbrechen müssen. Ich | |
| finde das auch richtig so, für die Gruppe wäre alles andere schlecht“, sagt | |
| Geertje. | |
| Abbrechen, das bedeutet: Den Rettungshubschrauber rufen. Es nicht bis zum | |
| Ende schaffen. „Klar gab es das Ziel, das zu schaffen. Aber für mich war | |
| die Expedition im Geiste immer erfolgreich, auch wenn wir vor dem Ende des | |
| Eisrandes hätten aufhören müssen.“ | |
| An Tag 33 sieht es so aus, als liegen diese Überlegungen hinter ihnen. Es | |
| ist Mitte Mai und inzwischen geht die Sonne über dem Inlandeis gar nicht | |
| mehr unter. Es gibt die Vereinbarung, dass sie abends um 22 Uhr an einem | |
| festen Punkt von einem Gletscherfahrzeug abgeholt werden. | |
| ## Der letzte Tag bricht an | |
| 4.30 Uhr aufstehen, ein letztes Mal Schnee schmelzen, frühstücken, die | |
| Thermoskannen für den Tag vorbereiten. Ein winziger Rest Brennstoff bleibt | |
| noch übrig. Ein letztes Mal das Camp zusammenpacken und auf die Schlitten | |
| laden. Geertje hat inzwischen rund 30 Kilo weniger zu schleppen, so viel | |
| ist an Brennstoff und Essen verbraucht. Ein letztes Mal Aufbrechen auf dem | |
| Eisschild. Die letzten 20 Kilometer. Das muss zu schaffen sein. | |
| Die Landschaft verändert sich. Meterhoch ist der Schnee aufgeworfen und | |
| bildet ein dichtes Labyrinth. Blankeis wird sichtbar, das magischerweise | |
| vom gleichen tiefen Blau ist wie das Meer der Karibik. Endlich etwas | |
| Abwechslung fürs Auge und mehr als einfach nur geradeaus gehen. Aber das | |
| Durchnavigieren kostet Zeit, immer wieder steigt der Leiter der Expedition | |
| auf einen der Hügel, um zu sehen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. | |
| Gegen 20 Uhr gehen ihnen die Reserven aus, kein Tee mehr in den | |
| Thermoskannen. Es wird klar: Bis 22 Uhr werden sie es nicht schaffen. Die | |
| Firma, die den Fahrer schickt, ist nicht zu erreichen. Das Gelände wird | |
| noch unübersichtlicher. Immer wieder müssen sie die Skier abschnallen und | |
| die Schlitten einzeln über die Hügel heben. „Die Kraft ging mir aus und da | |
| war so eine Hoffnungslosigkeit.“ | |
| Dann endlich wird es flach, gegen 22 Uhr verlassen sie das unwegsame | |
| Gelände. Hoffentlich wartet der Fahrer noch ein bisschen. Da blitzt es aus | |
| der dunklen Moränenlandschaft vor ihnen hell auf. Der Fahrer sendet | |
| Lichtsignale – hier müsst ihr lang. | |
| Vor ihnen liegt nun nur noch diese zugeschneite Ebene mit einigen | |
| Bachläufen. Kurz vor Mitternacht sind es keine 100 Meter mehr, bis sie das | |
| feste Land erreicht haben werden. Endlich wieder einen Stein anfassen. | |
| ## Die Kraft war aufgebraucht | |
| Dann bricht Geertjes Mitreisende ein. Sekunden später auch der Mann. Bis | |
| zur Brust versinken sie in dem See, der unter dünnem Eis und Schnee | |
| verborgen lag. Der Mann kommt selbst wieder raus. Bei der Frau bricht immer | |
| wieder der Eisrand weg, bis Geertje ihr einen Ski reicht. Beide sind | |
| klatschnass, der Schock steht allen im Gesicht. Es droht Unterkühlung. „Es | |
| hätte passieren können, dass wir da noch den Helikopter hätten rufen | |
| müssen“, sagt Geertje. | |
| Aber das realisieren sie erst viel später. Erst mal weiter, in Bewegung | |
| bleiben. Um Mitternacht kommen sie bei dem Fahrer an. Keine Zeit für | |
| Euphorie. Bevor sie sich trockene Sachen anziehen, endlich in den Truck mit | |
| der Heizung setzen, muss all die Last auf den Schlitten noch einzeln über | |
| den kleinen Berg zum Fahrzeug gewuchtet werden. | |
| Um 3 Uhr nachts sitzen sie im Auto. Auf dem Weg zurück in die Zivilisation | |
| hält der Fahrer immer wieder an. Rechts und links ziehen Moschusochsen und | |
| Rentiere durch die Landschaft Westgrönlands. So viel Leben nach all dieser | |
| Kargheit. „Das war in dem Moment verschenkt“, sagt Geertje. Es gibt nur | |
| ein verschwommenes Foto aus dem Autofenster. Die Kraft war aufgebraucht. | |
| Was ist der Lohn? Für zwei Jahre Schinderei, Tausende Euros, so viele | |
| Gedanken, all die Gefahr. Lässt sich das überhaupt aufwiegen? | |
| ## Warme Dusche und Süßspeisen am Hotelbuffet | |
| Um 5 fallen sie in die Hotelbetten in Kangerlussuaq. Nach mehr als 24 | |
| Stunden auf den Beinen. „Aber wir mussten keinen Schnee mehr schmelzen.“ | |
| Geertje lacht. „Und dann lagen wir in diesen weißen Bettlaken und mussten | |
| uns immer wieder versichern, dass das alles, die ganze Expedition wirklich | |
| passiert ist.“ Wieder und wieder erzählen sie sich einzelne Situationen. | |
| „Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das am Ende noch geschafft habe“, | |
| sagt Geertje. | |
| Am Morgen folgen: die erste warme Dusche, Rührei, Sandwiches und dänische | |
| Süßspeisen am Hotelbuffet. Vom Frühstücksraum ruft Geertje ihre Familie | |
| an, mit Video, alle brechen in Tränen aus. Die Tochter erzählt später, dass | |
| es gut war, schon mal zu sehen, wie ihre Mutter jetzt aussah. „Das hat uns | |
| auf das Wiedersehen am Flughafen vorbereitet.“ Als Geertje wieder zu Hause | |
| ist, sagt die Tochter, „hatte sie endlich mal weniger Hummeln im Hintern“. | |
| Im September, nach mehr als drei Monaten, sind noch nicht alle Wunden | |
| verheilt. Auch wenn Geertje äußerlich wieder aussieht wie vor der | |
| Expedition. „Das war keine ‚schöne Reise‘, das wäre viel zu simpel. Das… | |
| schmerzvoll und auch wundervoll.“ Zwei Jahre hat Geertje der Expedition | |
| bisher gewidmet und sie nimmt noch immer viel Raum ein – Geertje hält | |
| Vorträge, plant eine Ausstellung. „Vorbei ist es noch nicht.“ | |
| Diese extreme Reise über Grönlands Inlandeis wollte Geertje unbedingt | |
| wagen, bevor sie 50 ist. „Weil ich keine Frauen zwischen 50 und 60 Jahren | |
| kenne, die so was machen können“, hatte sie im März gesagt. Jetzt schüttelt | |
| sie den Kopf. „Auf so eine Tour kann ich mich auch wieder vorbereiten.“ | |
| Vielleicht ist es diese Selbstgewissheit, für die Geertje Marquardt 560 | |
| Kilometer übers ewige Eis gehen musste. | |
| 13 Sep 2023 | |
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| Manuela Heim | |
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