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# taz.de -- Zwangssterilisationen in Grönland: „Als wären Messer in mir dri…
> Weil der Kolonialmacht Dänemark der Geburtenanstieg zu teuer wurde,
> setzte sie Frauen in Grönland bis in die 70er Jahre zwangsweise die
> Spirale ein.
Bild: Inuitfamilie eilt mit ihrem Kind zu einer Hochzeit in der Kirche des ostg…
Stockholm taz | Als „schlimmstes Trauma meines Lebens“ schilderte Naja
Lyberth in einer letztes Jahr ausgestrahlten Dokumentation des dänischen
Rundfunks, was sie Jahrzehnte lang verheimlicht hatte. An einem Tag im Jahr
1976, sie war damals 14 Jahre alt, habe ihr der Klassenlehrer im
südwestgrönländischem Maniitsoq mitgeteilt, dass sie und alle anderen
Mädchen zu einer Gesundheitsuntersuchung müssten.
Von einem dänischen Arzt seien ihr und den anderen dann eine Spirale
eingesetzt worden. Über deren genauen Zweck seien sie nicht informiert
worden, auch die Eltern hätten nie zugestimmt.
„Ich hatte Angst, wollte mich eigentlich wehren, war aber wie gelähmt“,
erinnert sie sich: „Es wurde auch gar nicht gefragt, ob wir das wollten
oder nicht. Wir hatten gar keine Gelegenheit, uns zu äußern.“ Die
verwendeten Spiralen waren größer als die modernen und nicht für Frauen
gedacht, die noch kein Kind geboren hatten.
„Es fühlte sich an, als wären Messer in mir drin. Jedes Mal wenn ich meine
Periode hatte, hatte ich wahnsinnige Schmerzen“, berichtet sie. Ihren
Eltern habe sie nie etwas erzählt, auch in ihrer Klasse war das Thema tabu:
„Ich habe den Eingriff jahrzehntelang verdrängt.Erst als ich
Wechseljahrbeschwerden hatte, die an die Schmerzen von damals erinnerten,
kam das Ganze wieder hoch und traumatisierte mich erneut.“
## Klage wegen „Verletzung der Menschenrechte“
Lyberth und 66 andere Grönländerinnen mit ähnlichen Erfahrungen verklagen
nun den dänischen Staat wegen Verletzung ihrer Menschenrechte auf
Schadenersatz und Schmerzensgeld. Das „Familienplanungsprogramm“, wie es
offiziell genannt wurde, zählt zu den dunkelsten Kapiteln der dänischen
Kolonialgeschichte in Grönland.
Allein zwischen 1966 und 1970 waren rund 4.500 jungen grönländischen
Mädchen und Frauen Spiralen eingesetzt worden. Das entsprach dort damals
der Hälfte der fruchtbaren Frauen. Wie bei Lyberth geschah es meist gegen
ihren Willen und oft ohne ihr Wissen.
Wachsender Lebensstandard auf Grönland hatte zu sinkender
Kindersterblichkeit geführt. Das bedeutete aber einen Bedarf für mehr
Plätze in Kindergärten und Schulen und damit höhere Kosten für Dänemark.
Als Folge der Spiralkampagne halbierte sich binnen sieben Jahren die
Geburtenrate. In manchen Teilen der Insel wurde sogar zehn Jahre lang kein
Kind geboren.
Im dänischen Parlament rühmte Grönlandminister Arnold Norman damals den
Erfolg der Kampagne: Schließlich gehe es ja um dänische Kronen und Öre,
betonte er. Auch Rassismus spielte eine Rolle.
## Kopenhagen legalisierte Zwangssterilisierung in Grönland
1970 legalisierte das Parlament auch, was bis dahin ohnehin schon
praktiziert wurde: Bei minderjährigen Mädchen konnten Maßnahmen zur
Empfängnisverhütung ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten erfolgen.
In Frage gestellt wurde das Programm erst 1974, als Dänemarks Vorgehen auf
einer UN-Konferenz in Bukarest kritisiert und erzwungene Familienplanung in
früheren Kolonien als menschenrechtswidrig verurteilt wurde. Offiziell
wurde das Programm darauf beendet, aber offenbar kam es auch in der
Folgezeit noch zu Übergriffen.
So berichtete die jetzt 57-jährige Arnaq Johansen kürzlich im
grönländischen Rundfunk, wie ihr 1978 als 12-Jähriger eine Spirale
eingesetzt worden war. Sie wusste weder warum, „schließlich hatte ich nicht
einmal meine Menstruation bekommen“, noch welche Funktion die hatte.
## Dänischer Staat auf Schadensersatz verklagt
Ihren Kinderwunsch konnte sie später wie viele andere betroffene Frauen nie
erfüllen: „Ich glaube die Spirale hat meine Gebärmutter zerstört.“ Auch …
klagt nun gegen den dänischen Staat.
Mads Pramming, der Rechtsanwalt der Frauen, stellte das
Schadenersatzbegehren kürzlich Dänemarks Regierungschefin Mette Frederiksen
zu. Lehnt sie es ab, landet die Klage vor Gericht.
Die Begründung stützt sich auf drei Artikel der Menschenrechtskonvention:
dem Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung, dem Recht auf Respekt
des Privat- und Familienlebens und dem Diskriminierungsverbot.
Jede der momentan 67 Frauen – die Zahl könnte sich noch mehr als
verdoppeln, weil sich weitere Frauen der Klage anschließen wollen – fordert
pauschal eine Summe von umgerechnet 40.000 Euro, insgesamt sind das derzeit
umgerechnet rund 2,7 Millionen Euro.
## Dänische Regierung setzt auf langsame Kommission
Bei der Höhe der Forderung hat man sich laut Pramming an der Praxis des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, bei dem die Klage
letztlich landen könnte. Natürlich sei weder eine Entschuldigung, zu der
Kopenhagen bisher nicht bereit war, noch eine Entschädigung eine
Kompensation für die Kinder, welche die Betroffenen nie bekommen konnten,
sagt Johansen: „Aber vielleicht könnte sie zumindest das Gefühl des mir
gegenüber begangenen Unrechts etwas lindern.“
Regierungschefin Frederiksen äußerte sich noch nicht, aber
Gesundheitsministerin Sophie Løhde sagte, die ganze Geschichte sei
„zutiefst unglücklich“. Deshalb habe die Regierung ja auch eine
Untersuchungskommission eingesetzt.
Diese von der grönländischen und dänischen Regierung bestellte
[1][Kommission] will ihren Bericht aber nicht vor Mai 2025 vorlegen. Darauf
könne man nicht warten, begründet Lyberth den jetzigen Schritt, schließlich
näherten sich einige der Frauen schon dem 80. Lebensjahr.
Und müsse man wirklich mehr wissen, als was schon bekannt sei? „War mein
Unterleib denn Eigentum des Staates? Kann sich irgendjemand vorstellen,
dass so etwas in Dänemark und mit dänischen Frauen hätte passieren
können?“
26 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.regeringen.dk/nyheder/2023/danmark-og-groenland-saetter-uvildig…
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Schwerpunkt Klimawandel
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