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# taz.de -- Nachhaltige Fischerei in der Ostsee: Mehr Fisch, weniger Klimawandel
> Eine gesunde Ostsee und gleichzeitig mehr Hering und Dorsch auf dem
> Teller? Das ist möglich. Doch dafür müsste erst mal weniger gefischt
> werden.
Bild: Frische Fische am Strand des Ostseebads Laboe
Berlin taz | Der Bestand von Dorsch, Hering und Schweinswal könnte gerettet
werden – und die Ostsee deutlich mehr CO2 speichern. Zu diesem Schluss
kommt [1][eine neue Studie] des Geomar Helmholtz-Zentrums für
Ozeanforschung in Kiel, die mögliche Zukunftsszenarien für das Leben in der
westlichen Ostsee aufzeigt.
Die Forscher:innen haben Unmengen an Daten über alle relevanten
Lebewesen in der Ostsee aus vielen Dutzenden wissenschaftlicher und
behördlicher Datensätze zusammengetragen. Erfasst haben sie über hundert
Fisch- und 50 Vogelarten, Wale, Robben, Quallen, Plankton und Algen.
Gezählt wurde in dieser Metastudie unter anderem, wie viele Individuen es
von welcher Art gibt, welchen Platz in der Nahrungskette sie einnimmt und
an welchen anderen Ursachen sie sterben. Aus diesen Daten haben die
Wissenschaftler:innen das bisher vollständigste Modell dieses
Ökosystems erstellt.
Das Modell ermöglicht Vorhersagen über die Entwicklung der westlichen
Ostsee in den nächsten Jahrzehnten, je nachdem, welche Fischfangquoten
vorgegeben werden. Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass Ernährung,
Fischwirtschaft und Natur nicht in einem grundsätzlichen Konflikt
zueinander stehen müssen.
Bislang gibt es diesen Konflikt allerdings. Beispiel Hering: Heringe
fressen Plankton. Raubfische, Meeressäuger und Vögel fressen Heringe. Diese
sind also ein zentrales Bindeglied in der Nahrungskette. Doch auch Menschen
mögen Hering – und so ziehen Fischer heutzutage etwa achtmal mehr Fisch aus
dem Meer, als alle Vögel, Robben und Schweinswale zusammen fressen. In der
Konsequenz gab es 2019 schon 75 Prozent weniger Hering in der westlichen
Ostsee als noch im Jahr 1994.
## Kritische Lage beim Dorsch
Weniger Hering bedeutet weniger Nahrung für den Dorsch. Das ist nicht das
einzige Problem für diesen Fisch, der in den vergangenen Jahren traurige
Berühmtheit erlangte: Sein Bestand in der Ostsee ist praktisch
zusammengebrochen. Durch Klimaveränderungen und Überdüngung durch eine
intensive Landwirtschaft werden die Bedingungen für die Fortpflanzung der
Fische immer schlechter. Es gibt zu wenig Nachwuchs, gleichzeitig holen die
Fischer noch immer viel zu viel Fisch aus dem Meer. „Der Dorsch ist
kaputtgefischt worden“, sagt der Meeresbiologe Rainer Froese, Mitautor der
Studie. Die Fangquoten wurden zu langsam gesenkt. Und so schrumpfen die
Bestände weiter. Die Fangquoten müssen weiter gesenkt werden. Ein
Teufelskreis.
Noch ist es möglich, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Die Berechnungen
der Forscher:innen zeigen: Würde ein sogenanntes ökosystembasiertes
Fischereimanagement angewendet, könnten sich die Bestände erholen. Bis 2050
würden die Erträge gegenüber dem Referenzzeitraum von 2015 bis 2019 beim
Dorsch um 70 Prozent und beim Hering um 50 Prozent steigen.
Doch dafür müssten die Fangmengen vorübergehend massiv gesenkt und für
einige Arten sogar ganz auf null gesetzt werden. Froese spricht von drei
bis vier Jahren Pause, die der Hering bräuchte.
In der Zwischenzeit dürften nur Schollen und andere Plattfische gefischt
werden. Aber geht das überhaupt, ohne dass andauernd Dorsch im Netz landet?
Froese meint: „Ja. Die Fischer wissen sehr genau, was man machen muss, um
den Beifang an Dorsch möglichst gering zu halten. Völlig auf null kann man
ihn nicht bringen, aber man kann ihn weit herunterfahren.“ Die
Einnahmeausfälle müssten nicht die Fischer:innen tragen, findet er: „Die
Fischer tragen ja jetzt schon den Schaden, und sie haben die Fangmengen
nicht festgelegt, sie müssten entsprechend entschädigt werden.“ Notwendig
seien dafür zweistellige, vielleicht knapp dreistellige
Millionenbeträge, schätzt der Forscher, „dann haben wir wieder eine
gesunde Fischerei“.
## Mehr CO2 für die Ostsee
Das ist die erste erfreuliche Erkenntnis aus der Arbeit der Forscherinnen.
Die Bestände können sich allein durch ein nachhaltiges Fischereimanagement
erholen. Trotz der zusätzlichen Stressfaktoren wie Klimawandel und
Überdüngung, die der Ostsee zu schaffen machen. Und es gibt noch eine
zweite erfreuliche Erkenntnis, die nur entstanden ist, weil ein Gutachter
der Studie das Team dazu gedrängt hat, auch Klimaaspekte zu untersuchen.
Das Ergebnis: Gäbe es in der westlichen Ostsee wieder mehr Fische, könnte
sie dreimal mehr CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen als heute. Die
Ausscheidungen der Fische sinken auf den Meeresgrund, werden in den Boden
eingearbeitet und so langsam dem System entzogen. Forscher Froese: „Je mehr
Fische im System sind, desto mehr CO2 können sie aufnehmen und nach unten
weitergeben.“ Insgesamt absorbieren die Ozeane etwa 27 Prozent der globalen
CO2-Emissionen. Es geht also um viel.
„Gesunde Ökosysteme sind bessere CO2-Senken als Systeme, die extrem gestört
sind“, sagt Phillip Kanstinger, Meeresbiologe bei der
Naturschutzorganisation WWF. Verblüffend findet er, dass „die
Schweinswalpopulation relativ einfach zu retten ist, wenn der
Fischereidruck abnimmt“. Zurzeit sehe es für die östliche Population gar
nicht gut aus.
## Rezilienz gegen Kipppunkte
Schweinswale sind Säugetiere und müssen für ihre Jungen fetthaltige Milch
produzieren. Deshalb brauchen die Muttertiere fetthaltige Nahrung, die sie
normalerweise bekommen, indem sie Heringe fressen. Weil dessen Bestand
zurückgeht, muss der Wal auf andere Nahrungsquellen umstellen und sich mit
kleineren Fischen begnügen. Und er muss auf der Suche nach Nahrung weitere
Wege zurücklegen. Dadurch steigt auch das Risiko, unbeabsichtigt in einem
Fischernetz zu landen.
Kanstinger weist auf einen weiteren positiven Effekt einer nachhaltigen
Fischerei hin, der im Kontext der Klimaerwärmung relevant ist: Das System
würde resilienter. „Ein größerer Bestand hat eine größere genetische
Variabilität. Dadurch treten Kipppunkte weniger schnell ein und das
Gleichgewicht bleibt viel besser erhalten.“
Für die Expert:innen ist also klar, was zu tun wäre. Bisher [2][hakt es
an der politischen Umsetzung.]
Kanstinger hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die
Fischereipolitik der Europäischen Union sich am Zustand der Natur
ausrichtet. Diese Studie sei „der nächste Beweis auf dem schon riesengroßen
Haufen wissenschaftlicher Beweise, dass man mit einem nachhaltigen
Fischereimanagement mehr Gewinne rausfahren und zugleich die Natur schützen
kann“.
Studienautor Rainer Froese hingegen erwartet nicht mehr viel von der
Politik. Im Gespräch mit den Verantwortlichen höre er immer nur
Begründungen, warum sie weiter business as usual machen. Und das, obwohl
eigentlich viel Geld da sei. Doch die Mittel würden nicht für die
Bestandserhaltung eingesetzt, zum Beispiel durch Ausgleichszahlungen.
Sondern dafür, die Überfischung zu erhalten, etwa durch die
Subventionierung von Diesel. „Die politischen Entscheider:innen sind im
System gefangen“, sagt Froese.
Ganz aufgegeben hat er jedoch noch nicht. Er setzt auf „eine Allianz der
Besorgten“ und meint damit „Fischer, die auch in zehn Jahren noch fischen
wollen, Angler, die Naturschutz ernst nehmen und Köche, die wollen, dass
ihre Gäste [3][leckeren Fisch mit gutem Gewissen genießen] können“. Sie
müssten sich zusammen an einen Tisch setzen und nicht weiter auf die
Politik warten, sagt Froese: „Das ist meine Hoffnung.“
31 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.geomar.de/news/article/oekosystembasiertes-fischereimanagement-…
[2] /Fangquoten-kaum-veraendert/!5888401
[3] /Fischfang-in-der-Ostsee/!5860698
## AUTOREN
Clara Vuillemin
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