# taz.de -- Steffi Lemke über Naturschutz im Krieg: „Wir holen die Austern z… | |
> Intakte Ökosysteme sind die zweitgrößte Stellschraube für den Klimaschutz | |
> nach dem Ausbau der Erneuerbaren, sagt Umweltministerin Steffi Lemke. | |
Bild: Im Koalitionsvertrag ist eine verbindliche Meeresstrategie verabredet | |
taz: Frau Lemke, jahrelang haben Sie Meeresschutzpolitik aus der Opposition | |
heraus verfolgt. Wenn Sie jetzt endlich als Ministerin zu einer wichtigen | |
UN-Konferenz dazu fahren können, haben wir Krieg, Energiemangel – niemand | |
interessiert sich mehr für Naturschutz. Wie frustrierend ist das? | |
Steffi Lemke: Das ist gar nicht frustrierend. Es gibt durch den furchtbaren | |
Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gerade eine andere | |
Schwerpunktsetzung in der Regierung. Die Hilfe und die Unterstützung für | |
die Ukraine stehen jetzt im Vordergrund, das unterstütze ich natürlich. | |
Das Thema Klima- und Naturkrise steht trotzdem ganz oben auf der Agenda. | |
Sie brauchen nur Nachrichten schauen, dann sehen Sie einen verheerenden | |
Waldbrand in Brandenburg. In meiner Heimat Sachsen-Anhalt herrscht erneut | |
eine Dürre, die auch ein paar Regenfälle nicht mehr ausgleichen können. Die | |
Menschen liegen am Badesee und beobachten, wie Löschhubschrauber Wasser | |
schöpfen, um Waldbrände zu löschen. Es merkt doch inzwischen jeder, dass | |
sich die ökologischen Krisen häufen. | |
Insofern habe ich nicht den Eindruck, dass diese Themen niemanden mehr | |
interessieren, aber sie werden aktuell vom Krieg und der daraus folgenden | |
Energie- und Ernährungskrise überlagert. | |
Sie hatten sich im Koalitionsvertrag sehr ambitionierte Meeresschutzziele | |
gesetzt. Was davon haben Sie schon aufgegriffen? | |
Zentrales Instrument ist eine verbindliche Meeresstrategie, die den Schutz | |
und die natur- und umweltverträgliche Nutzung miteinander in Einklang | |
bringt. Um das gezielt voranzubringen, stärken wir gerade unsere Strukturen | |
im Umweltministerium, dazu gehört auch ein Meeresbeauftragter der | |
Bundesregierung. Wir packen das Thema Munitionsaltlasten auf dem | |
Meeresboden an. | |
Das Wichtigste ist, unsere guten Ziele und Strategien in die Praxis zu | |
übersetzen. Zum Beispiel werden wir die Maßnahmen des Aktionsprogramms | |
Natürlicher Klimaschutz noch im September vorstellen und schon in diesem | |
Jahr konkrete Projekte anschieben, etwa zum Aufbau und Schutz von | |
Salzwiesen. | |
Auf der UN-Konferenz wird ja nur geredet, nichts beschlossen. Wieso ist die | |
wichtig für uns? | |
Beschlüsse fallen nicht vom Himmel. Wenn wir starke Beschlüsse und | |
demokratisch legitimiertes politisches Handeln haben wollen, müssen wir das | |
durch Gespräche und das Abwägen der unterschiedlichen Positionen | |
vorbereiten. Auf der Konferenz in Lissabon treffen sich die | |
Verantwortlichen für den Meeresschutz aus aller Welt das erste Mal seit | |
2017. Seitdem hat sich der Zustand der Meere leider weiter verschlechtert. | |
In den nächsten Monaten stehen die letzten Verhandlungsrunden für wichtige | |
internationale Abkommen an, die wir jetzt beschließen müssen: Das globale | |
Abkommen zum Schutz der Biodiversität auf hoher See, das wir im August | |
verhandeln, den neuen globalen Rahmen für die biologische Vielfalt im | |
Dezember. Für diese Verhandlungen brauchen wir große öffentliche | |
Aufmerksamkeit, um dort starke Ziele auf globaler und europäischer Ebene | |
durchzusetzen. Wir müssen bis 2030 insgesamt 30 Prozent der Ozeane unter | |
Schutz stellen, und zwar nicht nur auf dem Papier. In Europa geht es etwa | |
um einen nachhaltigeren Fischfang. | |
Sie kommen auf diese Konferenz mit großen Zielen für die Ozeane, doch der | |
Zustand der heimischen Meere ist verheerend. Wie wollen Sie dafür sorgen, | |
dass die Schutzgebiete in der Nordsee wirken? | |
Erstens müssen die Maßnahmenpläne für die Schutzgebiete wirklich in die | |
Praxis kommen und wirksam werden. Zweitens müssen wir die Fischbestände | |
nachhaltig nutzen. Die Fischerei liegt im Ressort von Agrarminister Cem | |
Özdemir. Er plant eine Zukunftskommission Fischerei, das wird vieles | |
verbessern. Und wir behandeln das Thema auf EU-Ebene anders als in der | |
Vergangenheit. | |
In den Schutzgebieten in der Nordsee ist die Grundnetzfischerei erlaubt, es | |
dürfen dort Pipelines oder Windräder gebaut werden. Das ist so, als wenn | |
man im Nationalpark im Bayerischen Wald Gewerbegebiete planen dürfte … | |
Warum gibt es diese Unterschiede zwischen Naturschutz am Land und im Meer? | |
Das hat verschiedene Gründe. Zum einen müssen wir im Meer auch mit anderen | |
Ländern verhandeln, bei Fischerei ist das eine europäische Angelegenheit. | |
Darum habe ich früher als Abgeordnete darauf gedrungen, dass wir den | |
anderen Ländern mit starken Positionen gegenübertreten. Wenn man selbst | |
keine Einschränkungen der schädlichen Fischerei in den Schutzgebieten | |
vorschlägt, dann kann man das schlecht von anderen Ländern, die bei uns | |
fischen, verlangen. | |
Außerdem ist das Thema Meeresschutz bislang nicht mit starken politischen | |
Entscheidungen verbunden gewesen. Die [1][Meere sind jahrzehntelang als | |
Müllkippe benutzt worden], ohne dass uns das in Europa groß aufgefallen | |
wäre. Das ist nämlich der dritte Punkt: Die Ozeane sind weiter weg von uns | |
als etwa Wälder. Ihre Versauerung durch die Klimakrise, die Verschmutzung, | |
das spielt sich meist auf hoher See ab und ist nur bedingt sichtbar. Das | |
ändert sich gerade. Wenn etwas gefährdet ist, wird es wichtiger. Wenn Dürre | |
herrscht, merken die Menschen, wie wichtig gesunde Gewässer und eben auch | |
Meere sind. | |
Kommen Sie mit dieser Argumentation gegen Ihren Wirtschaftsminister an? | |
Muss ich gar nicht. Wir haben das gemeinsame Ziel, die Erneuerbaren | |
auszubauen. Wie man das jetzt schneller hinbekommt, ohne den Artenschutz | |
überzustrapazieren, dazu haben wir mit der Novelle des | |
Bundesnaturschutzgesetzes und parallel mit dem Wind-an-Land-Gesetz einen | |
guten Vorschlag vorgelegt. Mit den Artenhilfsprogrammen wird es einen | |
weiteren Fortschritt für den Naturschutz geben. | |
Sie weichen den Naturschutz auf, um der Energiekrise zu begegnen … | |
Nein. Wir erreichen einen schnelleren Ausbau durch Entbürokratisierung der | |
Planungsverfahren. Der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC sagt uns | |
doch, dass intakte Ökosysteme die zweitgrößte Stellschraube für den | |
Klimaschutz sind. Sie speichern Kohlenstoff und regulieren den | |
Wasserhaushalt. Ihre Bedeutung ist genauso groß wie der Ausbau der | |
erneuerbaren Energien. Auf Ebene der EU ist die Idee des natürlichen | |
Klimaschutzes angekommen, mit dem Renaturierungsgesetz, das die | |
EU-Kommission vergangene Woche vorgestellt hat. Vielleicht ist das Thema | |
noch nicht überall so präsent, und natürlich gibt es Zielkonflikte. Gesunde | |
Wälder bedeuten Mischwald, und das heißt, mehr Holz im Wald zu lassen. | |
Wir brauchen Holz aber auch als Rohstoff, etwa im Bau, für den Klimaschutz. | |
Diese Zielkonflikte liegen seit Jahren offen, wir müssen sie jetzt lösen. | |
Sie zu benennen ist leicht, sie konkret zu lösen ist schwer. Wir versuchen | |
das zum Beispiel mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz, das ich | |
in den Bundeshaushalt gebracht habe. Vier Milliarden Euro für den | |
Naturschutz in den nächsten vier Jahren, das hat es in Deutschland noch | |
nicht gegeben. | |
Wofür wollen Sie das Geld ausgeben? | |
Wir werden Moore und Auen renaturieren, artenreiches Grünland und alte | |
Wälder unterstützen. Im Meer wollen wir die Seegraswiesen erhalten und | |
wiederaufbauen, sie sind eine Kinderstube für viele Arten und ein großer | |
Kohlenstoffspeicher. Dazu wollen wir unter anderem das Bundesamt für | |
Naturschutz besser ausstatten, etwa, um Riffe wiederaufzubauen. Und wir | |
holen die Austern zurück! Viele haben vergessen, dass wir hier mal eine | |
Austernfischerei hatten. Manchmal kann Renaturierung aber auch heißen, dass | |
man etwas unterlässt. | |
Zum Beispiel Offshore-Windräder zu bauen? | |
Wir müssen Windkraft auch offshore bauen, um aus den Fossilen aussteigen | |
und die Klimakrise bekämpfen zu können. Wir diskutieren jetzt, wie wir das | |
auch mit einem Ausgleich für die Natur hinbekommen. [2][Man kann nicht die | |
überbelasteten Meere Ost- und Nordsee mit einer weiteren zusätzlichen | |
Nutzung belasten], ohne an anderer Stelle Entlastung zu schaffen. Das ist | |
keine leichte Diskussion. | |
Was könnte man denn zurückfahren? | |
Da gibt es verschiedene Diskussionen. Wichtig ist auch hier das | |
Artenhilfsprogramm. Wir werden gezielt Populationen bedrohter Arten | |
schützen und wiederaufbauen und dafür sehr gezielte Schutzmaßnahmen haben. | |
Die zuständigen Naturschutzverwaltungen in Ländern und Kommunen sind für | |
solche Schutzmaßnahmen nicht ausreichend ausgestattet. Können Sie als | |
Bundesregierung helfen? | |
Wir werden mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz Entlastung | |
schaffen können, indem wir über Förderungen gemeinsam mit den Ländern, mit | |
Projektträgern Fortschritte für den Naturschutz bringen. Natürlich bleibt | |
der Naturschutz Ländersache, das ist in unserem föderalen System | |
festgelegt. Wir können mit den vier Milliarden nicht die | |
Naturschutzverwaltungen der Länder finanzieren, aber wir können | |
unterstützen. | |
27 Jun 2022 | |
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