# taz.de -- Fischfang in der Ostsee: Kummer an der Küste | |
> Klimawandel, Überdüngung und Überfischung bedrohen Fischbestände in der | |
> Ostsee – vor allem Hering und Dorsch. Welchen Fisch sollten man noch | |
> essen? | |
Bild: Erholen sich seine Bestände bald? Frisch gefangene Heringe | |
Wenn mehr Fische gefangen werden, als nachwachsen können, gilt ein Bestand | |
als überfischt. In den europäischen Gewässern des Nordatlantiks trifft das | |
auf knapp 40 Prozent der Populationen zu. „Die meisten Ostsee-Fischbestände | |
sind in einem guten Zustand, aber dem westlichen Hering und Dorsch geht es | |
schlecht“, sagt Christopher Zimmermann, Leiter des Thünen-Instituts für | |
Ostseefischerei in Rostock. Da früher viele Ostseefischer*innen mit | |
den sogenannten Brotfischen den Großteil ihres Geldes verdient haben, steht | |
ihre Existenz auf dem Spiel. | |
Das Schrumpfen der Fischbestände hat mehrere Ursachen. Viele | |
Forscher*innen sind sich einig: Für den Zusammenbruch einiger Bestände | |
ist die Überfischung zu verantworten. „Über Jahrzehnte waren an der Ostsee | |
die von der Politik vorgegebenen Fänge höher als der jährliche Zuwachs von | |
Dorsch oder Hering“, sagt Rainer Froese, Meeresbiologe und leitender | |
Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Fangmengen | |
seien über viele Jahre nicht ausreichend angepasst worden, Fischbestände | |
kollabiert. | |
„Der Klimawandel kommt erschwerend hinzu“, sagt Froese. Zwischen 1980 und | |
2015 hat sich die Ostsee laut Bundesverkehrsministerium an der Oberfläche | |
um 1,4 Grad Celsius und in zwanzig Metern Tiefe um 1,6 Grad erwärmt, | |
deutlich schneller als die übrigen Weltmeere. Ein Forschungsteam der | |
Universität Helsinki untersuchte, wie die Erwärmung der Ostsee den | |
Entwicklungszyklus von Heringslarven verändert. [1][Sie fanden heraus], | |
dass die Larven drei Wochen zu früh schlüpfen und verhungern, weil sie vor | |
ihrer Nahrung – dem Phytoplankton – im Meer sind. | |
Eine weitere Gefährdung von Fischpopulationen sind Überdüngung und | |
Wasserverschmutzung. Durch die Produktion von Fleisch und Mais in | |
Ostseenähe geraten Abwässer über Flüsse in das Meer. Dadurch entstehen | |
Algenblüten, die in tieferen Gewässern absterben, wobei viel Sauerstoff | |
verloren geht. Die Folge: Fische können ersticken, und ihr Nachwuchs fällt | |
immer häufiger aus. | |
## Fangquoten jährlich justiert | |
Die [2][gemeinsame Fischereipolitik der EU] verpflichtet seit 2014 alle | |
Mitgliedstaaten dazu, die Überfischung der Meere zu stoppen. Die EU-Agrar- | |
und -Fischereiminister:innen entscheiden jedes Jahr im Oktober über | |
die Ostsee-Fangquoten für das kommende Jahr. Sie verhandeln dabei die | |
Vorschläge der EU-Kommission, die sich wiederum an den wissenschaftlichen | |
Empfehlungen des Internationalen Rats für Meeresforschung (ICES) | |
orientiert. | |
In den vergangenen Jahren hat der Ministerrat die Fangquoten drastisch | |
heruntergesetzt. Seit 2022 ist der gerichtete Fang von Dorsch verboten. Er | |
darf nur als Beifang gefischt werden und in geringen Mengen im Netz von | |
kleineren Fischerbooten landen, die unter zwölf Meter lang sind. Die | |
erlaubte Fangmenge beim Hering in der westlichen Ostsee hat sich im | |
Vergleich zu 2017 um 97 Prozent verringert. Während Anfang der neunziger | |
Jahre in der westlichen Ostsee noch der jährliche Fang von knapp 50.000 | |
Tonnen des Brotfischs erlaubt war, sind es 2022 nur noch 788 Tonnen. | |
Nach der starken Senkung der Fangquoten für 2022 sagte der Präsident des | |
deutschen Fischereiverbandes Gero Hocker: „Damit hat praktisch kaum ein | |
Haupterwerbsfischer noch eine Überlebenschance.“ Die Küstenfischerei an | |
der Ostsee ist ein gefährdetes Traditionshandwerk: In | |
Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein wurden zuletzt rund 400 | |
hauptberufliche Ostseefischer:innen gezählt. Anfang der neunziger | |
Jahre waren es noch mehr als 1.300. [3][Beide Bundesländer bieten | |
Abwrackprämien für Fischkutter und wickeln Fischereigenossenschaften ab]. | |
Der Landesverband der Kutter- und Küstenfischer löste sich im vergangenen | |
Jahr auf, weil er nicht mehr genügend Mitglieder hatte. | |
In der EU sorgen die Fangquoten für Streit. „Im Gegensatz zu Deutschland | |
und den skandinavischen Ländern haben sich in den letzten Jahrzehnten vor | |
allem Spanien, Portugal und Frankreich für höhere Fangquoten eingesetzt“, | |
sagt Fischereibiologe Zimmermann. Und das, obwohl im Mittelmeer über 80 | |
Prozent der Bestände überfischt sind. Den Beständen in Nordeuropa geht es | |
besser. Die Dän*innen schöpfen ihre Quote bei einigen Beständen nicht | |
aus, im Bottnischen Meerbusen zwischen Schweden und Finnland wurde die | |
Fangquote für den Hering für 2022 sogar um 71 Prozent erhöht. | |
Dass Bestände bei der Fangquotenberechnung gesondert voneinander betrachtet | |
werden, ist bei den EU-Fischereiminister*innen ebenfalls umstritten. Das | |
deutsche Landwirtschaftsministerium kritisiert, dass für die Befischung der | |
deutschen Ostsee andere Regeln gelten als für dänische Gewässer. Das mache | |
keinen Sinn, weil zum Beispiel der westliche Hering wandert und so auch | |
andere Länder von ihm fischen können. | |
## Strengere Regulierung | |
Ob sich die geschrumpften Bestände erholen werden, ist ungewiss. Der | |
Klimawandel erschwert Prognosen, und bei bestimmten Fischarten mangelt es | |
an Wissen. Für den westlichen Hering ist eine Erholung wahrscheinlich, | |
meint Zimmermann. Vermutlich brauche der Fisch dafür fünf bis sieben Jahre. | |
Für den Fischereibiologen sind die Fangquoten für den Bestandsschutz das | |
wichtigste Mittel. Sie könnten ergänzt werden mit Schonzeiten während der | |
Laichzeit. | |
Auch eine strengere Regulierung größerer Fischereibetriebe könnte Bestände | |
schonen. Die industrielle Fischerei arbeitet überwiegend mit | |
Grundschleppnetzen, die den Meeresboden aufreißen können und teils viel | |
Beifang einsammeln. In der Ostsee gibt es nur wenige große | |
Fischereifahrzeuge, die meist Sprotte und Hering fangen. Aus der Fischerei | |
mit Schleppnetzen stammen laut Zimmermann circa 60 Prozent des | |
Ostsee-Fischfangs. „Große international operierende Fischereiflotten haben | |
weniger Interesse als regional operierende Betriebe daran, nachhaltig zu | |
fischen“, sagt Meeresbiologe Froese. In der Theorie gelingt nachhaltiges | |
Fischen, wenn maximal 20 Prozent eines gesunden Bestandes abgefischt | |
werden, damit er sich erholen kann. | |
In diesem Jahr war der „[4][End of Fish Day“] bereits am 11. März, so früh | |
wie noch nie. Laut Berechnungen von Brot für die Welt, Fair Oceans und | |
Slow Food hat Deutschland bis zu diesem Tag seine eigenen Fischreserven | |
aufgebraucht und ist auf Importe angewiesen. Deutsche essen | |
durchschnittlich 14 Kilogramm Fisch pro Jahr. Dieser Bedarf kann aus | |
deutschem Fang nicht gedeckt werden, circa 80 Prozent der verspeisten | |
Fische stammen aus dem Ausland. | |
Doch welchen Fisch kann man noch mit gutem Gewissen essen? Froese rät zu | |
Scholle und Flunder: „Den Beständen geht es gut und sie wachsen.“ Wer zudem | |
deutsche Küstenfischer*innen unterstützen möchte, sollte darauf | |
achten, dass die Fische aus der Ost- oder Nordsee stammen und zum Beispiel | |
auf Rotbarsch verzichten. Obwohl der Fisch an vielen Fischbuden angeboten | |
wird, lebt er nicht in der Ostsee und wird meistens aus Island oder | |
Norwegen importiert. | |
26 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.researchgate.net/publication/349935271_Exposing_changing_phenol… | |
[2] https://ocean-summit.de/allgemein/fangquoten-2022-zahlen-hintergruende-und-… | |
[3] https://www.deutsche-flagge.de/de/aktuelles/nachrichten-archiv/nachrichten-… | |
[4] https://www.slowfood.de/was-wir-tun/projekte-aktionen-und-kampagnen/end-of-… | |
## AUTOREN | |
Marvin Wenzel | |
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