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# taz.de -- Annalena Baerbock zum Klimaschutz: Sind Sie die Letzte Generation?
> Zum ersten Mal fährt Annalena Baerbock als Außenministerin zur
> Klimakonferenz. Ein Gespräch über die Frage, was wir dem Globalen Süden
> schulden.
Bild: Annalena Baerbock am 10. November im Auswärtigen Amt
wochentaz: Frau Baerbock, sind Sie Teil der letzten Generation?
Annalena Baerbock: Wenn Sie die Protestbewegung meinen, offensichtlich
nicht.
Sie haben selbst immer wieder betont, dass Sie die letzte Generation sind,
nämlich die, die das noch verhindern kann.
Was denn sonst … Die Menschen, die politische Verantwortung tragen, wir
alle als Gesellschaft entscheiden zentral darüber mit, wie Kinder, die so
alt sind wie meine Töchter, groß werden.
Was ist dann schlimmer: die Unbewohnbarkeit einer Insel oder Schaden an
einem Gemälde?
Ich halte von diesen Gegensätzen gar nichts. Ich war gerade auf einer
solchen Insel im Inselstaat Palau, wo Menschen Sorge haben, in den nächsten
zehn Jahren ihr Zuhause zu verlieren. Sehr viel Schlimmeres gibt es wohl
kaum. Aber was hat ein Gemälde damit zu tun?
Die Gruppe Letzte Generation klebt sich nicht nur an Bilderrahmen, sondern
auch auf Straßen fest. Wann kleben Sie sich auf die Straße?
Ist das ernsthaft Ihre Frage an die deutsche Außenministerin?
Würde sich die Bürgerin Annalena Baerbock, die sieht, wie dramatisch der
Klimawandel ist, auf die Straße kleben?
Ich bin Bürgerin dieses Landes: Nein.
Beeinflussen diese Proteste Ihre Klimapolitik?
2018 saß Greta Thunberg zum ersten Mal mit einem Pappschild vor dem
schwedischen Parlament. Ein Jahr später sprach sie in der
Generalversammlung der Vereinten Nationen. Ich finde es mehr als
bemerkenswert, wie eine Schülerin und die darauf folgende globale
Jugendbewegung Fridays for Future Veränderungen vorangebracht hat. Als ich
2015 als klimapolitische Sprecherin der grünen Fraktion zur Pariser
Klimakonferenz gereist bin, wurden diejenigen, die wie ich den
Kohleausstieg gefordert haben, noch belächelt. Heute habe ich als deutsche
Außenministerin den Kohleausstieg 2030 mit im Gepäck zur COP. Das zeigt,
wie wichtig der Regierungswechsel in Deutschland – und ja, auch die
Klimabewegung – war und ist.
Aber wie glaubwürdig ist das denn, wenn man aus einem Land kommt, in dem
der Klimaexpertenrat gerade gesagt hat, hier werde das für 2030 gesetzte
Ziel wohl kaum erreicht?
Die Fehler der Vergangenheit können wir nicht rückgängig machen, das gilt
für die Klimapolitik genauso wie für die Russlandpolitik. Wir bezahlen die
von der Groko vertagte Energiewende mit einem sehr teuren Preis: mit
unserer Abhängigkeit von Russland und einer noch größeren Lücke zu unseren
Klimazielen. Deswegen haben wir als neue Regierung vor einem knappen Jahr
das Ruder übernommen und sofort herumgerissen, den Ausbau der Erneuerbaren
massiv beschleunigt und eine radikale Klimawende eingeleitet.
Ihrer Formulierung „radikale Klimawende“ widersprechen auf der COP 27 (und
in Deutschland) viele Klimaaktive. Ist das radikal genug angesichts der
dramatischen Entwicklung?
Dass eine radikale Klimapolitik das neue „Realistisch“ ist, sagen Grüne ja
nicht erst seit gestern. Aber dafür brauchen wir in einer Demokratie zum
Glück parlamentarische Mehrheiten. Die haben wir jetzt endlich. Wir wissen,
dass wir uns auf unseren Vorhaben keine Minute ausruhen können. Robert
Habeck arbeitet jeden Tag an neuen Gesetzen und Verordnungen, um den
Windausbau zu beschleunigen. Cem Özdemir macht dasselbe für die Emissionen
in der Landwirtschaft, Steffi Lemke gerade bei den Mooren, die wichtige
CO2-Senken sind. Svenja Schulze als Entwicklungsministerin und ich als
Außenministerin schließen internationale Klimapartnerschaften ab, um auch
weltweit gemeinsam auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Wir wissen, dass wir
noch längst nicht am Ziel sind.
Sind wir in Deutschland auf dem 1,5-Grad-Pfad?
Noch nicht, und mit nationaler Denke allein kommen wir auch niemals darauf.
Wir tun daher alles, um so schnell wie möglich als europäische Klimaunion
dahinzukommen. Wir haben in der EU darauf gedrängt, rechtzeitig zur COP
unsere eigenen CO2-Minderungsziele bis 2030 nochmal deutlich
nachzuschärfen, das ist gerade noch gelungen. Wir haben mit Blick auf
unsere Energie- und Stromerzeugung in Deutschland die richtigen Weichen
gestellt. Aber auch künftig werden wir Energie importieren müssen. Ein
wichtiger Teil von Klimaaußenpolitik ist deshalb, heute die Voraussetzungen
zu schaffen, dass wir auch bei den Importen auf diesen Pfad gelangen.
Auf der Konferenz hört man die Angst, Deutschland könne sich wieder in eine
fossile Abhängigkeit begeben. Wie kann es sein, dass Bundeskanzler Olaf
Scholz mit dem Senegal Pläne zum Ausbau von Gas-Infrastruktur verfolgt, von
denen keiner versteht, wozu das gut sein soll und wie sie mit dem Pariser
Abkommen zu vereinbaren sind?
Gas ist eine Brücke, aber jede Brücke hat auch ein Ende. Allerspätestens
Mitte der 2040er Jahre darf nur noch grüner Wasserstoff transportiert
werden. Bei neuen Investitionen jetzt darf es daher nur darum gehen,
kurzfristig den Ausfall der russischen Gaslieferungen zu ersetzen.
Wenn also der Kanzler sagt, wir unterstützen den Ausbau von neuen
Gasfeldern im Senegal, dann geht das nur, wenn diese Infrastruktur zur
grünen Infrastruktur werden kann?
Das ist unser Prinzip, auf das wir uns im Koalitionsvertrag verständigt
haben. Entsprechend hat der Bundeskanzler bei der Klimakonferenz
unterstrichen, dass wir ohne Wenn und Aber aus den Fossilen aussteigen.
In Deutschland schwankt die Stimmung bei jenen, die für Klimaschutz aktiv
sind, zwischen Verzweiflung und Lethargie. Wie nehmen Sie die Stimmung bei
Ihren Reisen etwa nach Niger oder in die Südsee wahr?
Klimaschutz ist in Niger, im Südpazifik, aber auch in Chile oder nach den
Überflutungen in Pakistan das wichtigste Thema. Diese Staaten erleben, dass
die Klimakrise nicht nur ihre Ernte, ihre Lebensgrundlage, sondern ihre
Heimat und Sicherheit bedroht. Viele hatten bei uns in Deutschland vor
einem Jahr ja etwas verwundert gefragt, warum wir jetzt so aktiv
Klimaaußenpolitik machen. In so gut wie allen meinen Gesprächen als
Außenministerin spüre ich eine Erleichterung, dass wir als deutsche
Regierung endlich das Klima als Sicherheitsthema sehen. In Regionen, wo das
Vieh der Hirten stirbt und Menschen kein Einkommen haben, haben Terroristen
gute Chancen, Anhänger zu rekrutieren.
Für diese Perspektivlosigkeit ist auch die mangelhafte deutsche
Klimapolitik der Vergangenheit verantwortlich.
In den Ländern, die heute schon – in unserer 1,2-Grad-Welt – so massiv
unter der Klimakrise leiden, erlebe ich vielerorts eine Mischung aus dem
Vorwurf „Ihr habt uns das eingebrockt“ und der Erwartung „Ihr müsst auch
hier bei uns vor allem technologisch handeln“. Und darin liegt auch die
globale Chance: bei der wirtschaftlichen Entwicklung nicht die Fehler der
Industriestaaten zu wiederholen, sondern sofort in saubere Industrien
einzusteigen. Ich selbst stand im Niger bei 48 Grad ohne Schatten auf
Felsbrocken in staubiger Landschaft, wo früher Baumwolle angebaut wurde. Da
ist die Bekämpfung der Klimakrise eine Existenzfrage. Aber was mir dort
begegnete, war keine Verzweiflung, sondern der eindringliche Appell,
endlich etwas zu tun. Man weiß auch dort, dass man eigentlich alle sauberen
Technologien in der Hand hält. Wir müssen sie endlich weltweit einsetzen.
Nicht nur zum Klimaschutz, sondern auch zur vielerorts in Afrika noch
fehlenden Elektrifizierung, zur Tröpfchenbewässerung, zur Entsalzung von
Böden, um sie wieder fruchtbar zu machen.
Auf der Weltklimakonferenz wurde gegen einigen Widerstand das Thema loss
and damage, also Schadenersatz bei Klimaschäden, auf die Tagesordnung
gesetzt. Wird da nur geredet oder ist man tatsächlich bereit, relativ
schnell eine Umsetzung, im Konferenzsprech heißt das Fazilität,
einzurichten?
Das war tatsächlich nicht ohne loss and damage auf die Tagesordnung der
Klimakonferenz zu setzen. Dass jene Staaten, die besonders unter den
Auswirkungen der Klimakrise leiden und am wenigsten dazu beigetragen haben,
ihre Probleme nicht prominent auf der Klimakonferenz verhandeln konnten,
war immer ein Hindernis bei den Klimaverhandlungen. Daher hatte ich auf dem
Petersberger Klimadialog im Berlin im Juli erstmals als Industrieland offen
gesagt: Wir müssen unsere bisherige Haltung ändern und loss and damage auf
die Tagesordnung nehmen. Das haben wir nun hinbekommen, und das zeigt, wie
wichtig es ist, dass wir als EU mit Inselstaaten oder Ländern wie Chile und
Mexiko zusammenarbeiten, die gemeinsam bei der Finanzierung und der
CO2-Minderung vorangehen wollen.
Aber ganz konkret: Sind Sie dafür, dass auf dieser COP entschieden wird: Es
gibt diese Fazilität?
Der Tagesordnungspunkt ist der Türöffner für alles Weitere. Als
Bundesregierung haben wir mit der Global-Shield-Initiative der G7 und der
V20 – dem Bündnis der verletztlichsten Staaten – auch einen ersten Baustein
geliefert, wie die Umsetzung aussehen kann.
Also wird es keine Beschlüsse auf dieser Konferenz dazu geben, obwohl die
Frage so dringlich ist?
Bevor ich überhaupt da bin, maße ich mir nicht an, die Dynamik einer
Konferenz vorherzusagen, zumal bei einem Thema, das viele Jahre so
umstritten war. Dass wir uns gleich am Anfang einigen konnten, das Thema
auf die Agenda zu setzen, zeigt immerhin, dass multilaterale Verhandlungen
trotz aller geopolitischen Spannungen möglich sind. Wenn sich die
Industriestaaten, die wirklich aus vollem Herzen alles für den Klimaschutz
tun wollen, und die Länder, die am meisten davon betroffen sind,
zusammentun, können wir auch Ergebnisse erzielen.
Ist das nicht ein gutes Beispiel dafür, was seit 30 Jahren in der
Klimapolitik falsch läuft? Dass wir froh sind, wenn über ein Thema geredet
wird.
Klar kann man sich zu jeder Klimakonferenz darüber beklagen, wie schlecht
und viel zu spät alles gelaufen ist. Das erleben wir und erst recht die
Menschen im Globalen Süden jeden Tag: wie viel Zeit wir verspielt haben und
wie dramatisch die Situation ist. Die Vergangenheit können wir aber nicht
ändern. Ich verstehe meinen Job so, alles dafür zu tun, damit wir es in
Zukunft besser machen, und zwar so schnell wie möglich. Ehrlich gesagt ist
offen, wie das bei dieser COP gelingt, denn ob es einem gefällt oder nicht:
Die Realität ist, dass wir uns mit über 190 Staaten einigen müssen, wenn
wir Ergebnisse wollen. Und wenn man nicht bereit ist, darüber zu reden,
werden wir auch niemals Beschlüsse fassen.
Was haben die betroffenen Länder von einer Tagesordnung?
Ich habe bei meinem Besuch auf Palau eine Erfahrung gemacht: Wenn wir als
Industriestaaten endlich sagen, wir tragen eine Verantwortung für diese
Krise und wir sehen unsere Verpflichtung, finanzielle Mittel
bereitzustellen, um auf kleinen Inselstaaten Dörfer umzusiedeln, dann
können wir zugleich darüber sprechen, dass das neue Dorf klimaneutral
aufgebaut wird: Keine Dieselgeneratoren mehr, sondern erneuerbare Energien.
Endlich können wir die Finanzfragen mit den Minderungszielen verbinden. Wir
haben gesehen, wie aus Tagesordnungspunkten ganz konkrete Projekte
entstehen. Das ist der Sinn von internationalen Konferenzen. Deshalb tun
wir uns auf der COP parallel zu den Textverhandlungen mit Staaten zusammen,
die konkret sagen: Wir fangen jetzt mit diesen Projekten an und warten
nicht darauf, bis formal alle mehr als 190 Staaten einen neuen Text
zustande gebracht haben.
Andere Länder des Globalen Südens fordern einen Schuldenerlass.
Unterstützen Sie die Idee?
Wir haben gerade erstmalig als G7-Außenminister*innen mit
Finanzakteur*innen darüber gesprochen, wie wir mit diesen massiven
Schuldenständen umgehen können. Diese Schulden tragen dazu bei, dass Länder
nicht in Zukunftsprojekte des Klimaschutzes investieren können, genauso
wenig wie in Bildung. Entsprechend wird die Schuldenfrage auch eine Rolle
bei der COP spielen. Allerdings wird es nicht einfach, zu einer gerechten
Lösung zu kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass seit der letzten
größeren Entschuldung mit China und privaten Fonds oder Banken neue
Gläubiger dazugekommen sind.
Ist ein Schuldenerlass derzeit überhaupt denkbar? Das würde die Inflation
noch höher treiben.
Für die globale Klimatransformation brauchen wir Billionen. In der jetzigen
Situation müssen wir daher unterschiedliche Dinge tun. Zum einen die schon
2009 versprochenen 100 Milliarden Dollar jährlich endlich für Klimaprojekte
bereitstellen. Aber zugleich haben die Pandemie und der russische Krieg die
Situation massiv verschärft. Daher müssen wir auch bei den globalen
Finanzbeziehungen etwas tun. Zwischen einem harten Schnitt und Maßnahmen
zur Umschuldung, zur Restrukturierung von Schulden gibt es sehr viele
Möglichkeiten. Viele Länder haben sich bei China verschuldet, um ihre
Infrastruktur zu finanzieren. Wir können nicht mehr darüber hinweggehen,
dass gewisse Länder inzwischen handlungsunfähig sind, weil sie ihre
Schulden nicht tragen können.
Die 100 Milliarden Dollar, von denen die Rede ist, sind ja fast Peanuts.
Wenn die Welt auf einen 1,5-Grad-Pfad kommen soll, geht es um
Billionen-Dollar-Programme. Die Premierministerin von Barbados tritt dafür
an, das gesamte Bretton-Woods-System, das Finanzsystem einschließlich der
Weltbank, auf den Prüfstand zu stellen.
Das globale Finanzsystem muss dringend so umgebaut werden, dass die
globalen Finanzströme in klimafreundliche Investitionen geleitet werden.
Ein Instrument könnten Klimakredite der Weltbank mit besseren Konditionen
sein. Und schon heute bietet die Weltbank Regierungen Budgetfinanzierungen
an, die an die Umsetzung von Politikreformen geknüpft sind. Warum sollte
es so etwas nicht für die Umsetzung von nationalen Klimastrategien geben?
Würden Sie in dem Zusammenhang gern den Weltbank-Chef David Malpass
loswerden, der vor Kurzem erst wieder den menschengemachten Klimawandel in
Frage gestellt hat?
Unser Fokus ist, die Reform der Weltbank insgesamt gemeinsam zu gestalten.
Als ein Land, das leider lange gebraucht hat, endlich mit Verve den
1,5-Grad-Pfad anzupeilen, sollte man sich nicht prioritär an anderen Leuten
abarbeiten, sondern zuerst vor seiner eigenen Haustür kehren. Dabei ist
zentral, dass man die Augen nicht vor der Realität verschließt. Das
beinhaltet den menschengemachten Klimawandel.
Aber mit einem Klimaleugner an der Spitze der Weltbank?
(Schweigen)
Okay, keine Antwort. Für Sie ist Klimapolitik die neue Geopolitik. Von
Kooperation ist in der Geopolitik derzeit wenig übrig. Im vergangenen Jahr
gab es bei der COP in Glasgow den Vorstoß, das Thema Klima aus den
weltpolitischen Spannungen herauszuhalten. Geht das?
Gerade wegen der weltpolitischen Spannungen braucht es umso mehr
Klimadiplomatie. Alles andere wäre Selbstmord für jeden einzelnen der 190
Staaten. Schließlich macht die Klimakrise wegen Russlands brutalem
Angriffskrieg keine Pause. Staaten wie Äthiopien und Somalia leiden nun
mehr als doppelt so stark unter Ernteausfällen. Nach vier Jahren ohne Regen
kommt die Inflation und Lebensmittelknappheit durch Russlands Kornkrieg
hinzu.
Sie würden über das Klima auch mit Russland verhandeln?
Als G7-Präsidentin habe ich dafür geworben, dass wir beim G20-Treffen in
Indonesien gemeinsam mit unseren indonesischen, mexikanischen,
südkoreanischen Partnern gegenüber dem russischen Außenminister, der
ebenfalls am Tisch saß, deutlich machen, welche fatalen Folgen der
russische Angriffskrieg auf die ganze Welt hat. So ist es auch mit Blick
auf die Klimafragen. Die Dramatik dieses Jahres erhöht vielleicht sogar die
Chancen auf eine Einigung, weil sie allen ihre Verwundbarkeiten gezeigt
hat: Es ist unübersehbar, dass wir globale Probleme nicht alleine lösen
können. Und wenn in Zukunft ganze Regionen durch Klimaschäden dysfunktional
werden, können Lieferketten ausfallen und die Weltwirtschaft ins Chaos
gestürzt werden. Das Gleiche gilt, wenn Regionen unbewohnbar werden. Dann
werden die Migrationsbewegungen massive Auswirkungen haben.
Viele Länder, die bei der Klimakonferenz verhandeln, sind keine lupenreinen
Demokratien. Welche dreckigen Deals muss man eingehen?
Was heißt lupenrein? Demokratie ist nie am Ziel, Gesellschaften sind immer
im Wandel. Daher halte ich auch nichts von solchen plakativen
Zuschreibungen. Zugleich ist bekannt, dass die Welt nicht nur aus
Demokratien besteht. Aufgabe von Außenpolitik ist, zu definieren, wie wir
unsere bilateralen Partnerschaften verantwortungsvoll gestalten. Das ist
fast nie schwarz-weiß, aber auch nie ein „dreckiger Deal“, sondern
verantwortungsbewusstes Abwägen: Die meisten Länder teilen trotz aller
Probleme eine gemeinsame Basis, auf der man reden kann und muss: die
Anerkennung des internationalen Rechts, das Bekenntnis zur globalen
Zusammenarbeit und im Fall der Klimaverhandlungen vor allem auch das klare
Eigeninteresse jedes Landes, seine natürlichen Lebensgrundlagen zu retten.
Die allermeisten sind auf der COP nicht auf der Suche nach Kuhhandeln.
Aber ein großer Teil der Solarpaneels kommen aus China. Ein großer Teil der
Regenwälder befinden sind in Gegenden, in denen die Regierungsführung nicht
die beste ist. Ägypten ist ein Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt.
Muss man, um beim Klima voranzukommen, bei Menschenrechten Abstriche
machen?
Man kann sich die Welt nicht schön zaubern. Es gibt Situationen, in denen
unsere Werte in Widerspruch zueinander stehen, und Dilemmata, die sich
nicht auflösen lassen. Aber das heißt nicht, dass ich Abstriche automatisch
bei Menschenrechten machen muss. Man muss sich bei jeder Entscheidung immer
wieder ehrlich fragen: Trägt es zum Vertuschen oder Verstärken von
Menschenrechtsverletzungen mit bei? Die COP in Ägypten hat mich nicht daran
gehindert, die Menschenrechtslage in jedem Gespräch mit Präsident Sisi
deutlich anzusprechen. Im Gegenteil: Am Rande des Petersberger Klimadialogs
in Berlin habe ich die Freilassung der politischen Gefangenen, auch von
Alaa Abdel Fattah gefordert. Und wir stellen unseren Pavillon bei der COP
ägyptischen Menschenrechtsgruppen zur Verfügung, die sonst kaum die Chance
bekommen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.
Beißt sich Klimapolitik nicht doch mit menschenrechtsbasierter
Außenpolitik, etwa bei Chinas Solarpaneels?
Würde weniger Klimaschutz zu mehr Menschenrechtsschutz in China oder
Ägypten führen? Wohl kaum. Ich habe gerade bei meinem Besuch in Kasachstan
und Usbekistan eine Zusammenarbeit bei erneuerbaren Energien in Aussicht
gestellt. Ich habe aber überall dazugesagt, dass Voraussetzung für
langfristige Investitionen die Einhaltung von Regeln ist, und dazu gehört
auch der Schutz persönlicher Freiheitsrechte. Auf diese Weise könnte
Klimaschutz dazu beitragen, auch die Bürger- und Menschenrechte zu stärken.
Aber dafür müssen wir auch unsere eigenen Regeln definieren und nicht wie
in der Vergangenheit hoffen, dass sich die Menschenrechtslage schon
irgendwie verbessert – und erst recht vor einer Verschlechterung nicht die
Augen verschließen. Deshalb planen wir in der EU ein Importverbot für
Produkte aus Zwangsarbeit – das gilt logischerweise auch für Solarpaneels,
falls sie durch Zwangsarbeit gefertigt würden.
Was muss rauskommen, dass sie sagen: Diese Weltklimakonferenz wurde nicht
gegen die Wand gefahren?
Zur Ehrlichkeit gehört: Diese COP allein wird uns nicht auf den
1,5-Grad-Pfad bringen. Alle Länder müssten ihre Klimapläne sofort drastisch
nachschärfen. Das wird bis zum 19. November nicht passieren, so realistisch
und ehrlich muss man sein. Trotzdem: Jedes in Scharm al-Scheich
angeschärfte nationale Klimaziel zählt, jedes neue Klimaprojekt, jeder
Solarpark, jede große Waldinitiative, jedes Land, das wie Kenia mit
deutscher Unterstützung erklärt, dass es seinen Strom auf 100 Prozent
Erneuerbare umstellen wird. Denn jede eingesparte Tonne C02 hilft, uns vom
derzeitigen 2,7-Pfad Richtung 2 und 1,5 Grad zu bringen. Dafür braucht es
massiven Technologietransfer und auch Technologiesprünge in den nächsten
Jahren, um schneller aus den Fossilen aussteigen zu können. Die
geopolitische Lage macht das nicht leichter. Aber wir müssen verhindern,
dass als Folge des russischen Krieges 2022 ein verlorenes Jahr für die
Klimaverhandlungen wird.
Sie waren auf vielen Klimakonferenzen, kommen aber zum ersten Mal als
Vertreterin der Regierung. Was ist das für ein Gefühl?
2015 war ich mit meiner kleinen Tochter, die ein halbes Jahr alt war, in
Paris dabei. Ich habe mir vorgestellt: Wenn sie so alt ist wie ich damals –
35 –, dann werden wir im Jahr 2050 erleben müssen, ob wir das mit der
Dekarbonisierung der Industriestaaten erreicht haben. Jetzt als Ministerin
dort zu verhandeln, das ist für mich auch etwas Persönliches.
11 Nov 2022
## AUTOREN
Barbara Junge
Bernhard Pötter
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