# taz.de -- Radikale Klimaproteste: Dringend benötigte Störenfriede | |
> Die Aktionen der Letzten Generation polarisieren: Sie zwingen uns, die | |
> Komfortzone zu verlassen. Das tut weh, aber nur so hat Klimaschutz eine | |
> Chance. | |
Bild: Der Alltag geht einfach immer weiter und darf nicht gestört werden | |
Kaum saß ich im Auto und war losgefahren, wusste ich: Das war ein Fehler. | |
Ich wollte quer durch die Stadt, kam aber kaum voran. Baustellen, | |
Sperrungen, neue Fahrradstraßen bremsten mich. Je länger die Fahrt dauerte, | |
desto gereizter wurde ich. Das Schlimmste: Normalerweise lege ich die | |
Strecke mit Fahrrad und S-Bahn doppelt so schnell und doppelt so bequem | |
zurück. Ich wusste also: Ich war selbst schuld an meinem Problem. Und ich | |
kannte auch die Lösung. | |
Ähnliches gilt für die Reaktion der deutschen Politik und Gesellschaft auf | |
die Blockaden der Letzten Generation. Da wird inzwischen ganz großes | |
Geschütz aufgefahren gegen Menschen, die kurzzeitig den Verkehr stören, | |
sich widerstandslos abführen lassen und friedlich vor den zuständigen | |
Gerichten erscheinen. Als am Donnerstag AktivistInnen auf die Startbahn des | |
Berliner Flughafens vordrangen und den Betrieb für 90 Minuten lahmlegten, | |
sprach Innenministerin Nancy Faser davon, diese „neue Eskalationsstufe“ sei | |
[1][„absolut inakzeptabel“ und „zerstöre wichtige gesellschaftliche | |
Akzeptanz]“ für den Klimaschutz. Andere warnten, die „Kriminellen“ würd… | |
„immer skrupelloser“. | |
Woher stammt diese Wut aus weiten Teilen der Politik, Medien und | |
Gesellschaft gegen Menschen, die sich für ein allgemein akzeptiertes Ziel | |
einsetzen? Sie kommt aus unserem schlechten Gewissen: Die AktivistInnen | |
führen uns vor Augen, dass der liebgewordene Alltag und unsere | |
eingespielten Routinen uns immer tiefer in der Klimakrise treiben. Sie | |
machen uns deutlich, dass unser beruhigendes „Business as usual“ im | |
langsamen demokratischen Prozess potenziell katastrophal ist. Sie kleben | |
uns eine in unserem Denken und Fühlen, dass zukünftige Sicherheit darin | |
liegt, im Hier und Jetzt alles beim Alten zu belassen. | |
Diese Erkenntnis ist ja wirklich beunruhigend. Gerade in Krisensituationen | |
wie Corona oder Krieg ziehen wir uns gern aufs Altbewährte zurück. „Keine | |
Experimente“ gilt als Versicherung gegen die Verunsicherung einer sich | |
rasant verändernden Welt. Ruhe galt hierzulande schon immer als erste | |
Bürgerpflicht. Deutschland ist damit lange gut gefahren. Allerdings hat der | |
westdeutsche Konsens von „Maß und Mitte“ eine notwendige radikale Wende in | |
der Umwelt- und Klimapolitik verhindert, wie Bernd Ulrich in seinem Buch | |
„Alles wird anders“ beschrieben hat. | |
## Allianz zwischen Liberalen und Konservativen | |
Stabilität war und ist für Deutschland zentral: Mit der Absage an | |
Experimente wurde schon Konrad Adenauer zum Kanzler. Angela Merkel | |
beruhigte 16 Jahre lang das Land. Und auch Krisenkanzler Olaf Scholz tut | |
alles, um die Menschen nicht noch mehr aus der Ruhe zu bringen. | |
Die Zeiten sind aufregend genug. Und dann kommt auch noch die Letzte | |
Generation, schneidet mit einer Drahtschere ein Loch in den Flughafenzaun | |
und fordert eine radikalere Klimapolitik. Damit zeigen die AktivistInnen | |
nebenbei auch, wie gefährdet und leicht angreifbar die Infrastruktur in | |
Deutschland ist. Vor allem aber streuen sie Sand ins Getriebe einer mobilen | |
Gesellschaft oder bekleckern mit Kartoffelbrei Gemälde im Museum – also da, | |
wo auch die aufgeklärteste Bürgerin nun wirklich mal am Sonntagnachmittag | |
ihre Ruhe haben will. Da geht es dann schnell, dass eine Allianz aus | |
konservativem „Ich will nicht gestört werden“ und populistischem „Was ma… | |
die sich an?“ bildet, die von „Terrorismus“ und einer „grünen RAF“ | |
schwadroniert, über verschärfte Strafen und vorbeugenden Gewahrsam wie in | |
Bayern, wo AktivistInnen gleich mal für 30 Tage in Haft genommen werden. | |
Entzündet haben sich die großen Debatten am Tod einer Radfahrerin in | |
Berlin. Durch eine Blockade der Letzten Generation kam ein Einsatzfahrzeug | |
der Feuerwehr verspätet zum Unfallort. Ob der Tod der Frau dadurch | |
mitverursacht wurde, wird juristisch geklärt. Derzeit sprechen die Indizien | |
dagegen. Aber es geht nicht um eine sachliche Debatte über die Risiken | |
dieser Aktionen. Sonst würde debattiert, wie häufig Einsätze von Polizei | |
oder Feuerwehr durch Falschparker oder Staus ohne Rettungsgasse behindert | |
werden. Aber daran haben wir uns gewöhnt. Business as usual eben. | |
## Der größte Feind: Business as usual | |
Die Gewöhnung ist das Problem. Denn die großen Feinde von Klimaschutz | |
überall auf der Welt sind nicht so sehr böser Wille, Lobbyismus, | |
Verschwörung, Dummheit oder „der Kapitalismus“. Das wirkliche Problem hei�… | |
BAU – Business as usual. Wir haben uns daran gewöhnt, unseren Wohlstand auf | |
die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zu stützten. Das hat die | |
Klimakonferenz in Ägypten wieder gezeigt: Bei allen Lippenbekenntnissen zum | |
„Change“ folgt doch die Blockade, wenn es um den schnellen Ausstieg aus | |
Kohle, Öl und Gas geht. | |
Dagegen sind die Fakten eindeutig: Weitermachen wie bisher, global und | |
national/europäisch, bedeutet den größten anzunehmenden Unfall: BAU heißt | |
GAU. Dagegen steht aber bisher nur eine minimalinvasive Umwelt- und | |
Klimapolitik: ein bisschen Effizienz hier, ein bisschen Ökostrom da, und | |
ein Förderprogramm für Wärmepumpen und Dachsanierungen. Es ist letztlich | |
das Gleiche in Grün. Eine Politik der kleinen Schritte, wie sie in einer | |
parlamentarischen Demokratie nun mal im Normalfall angesagt ist. | |
Kleine Schritte aber führen in den Abgrund. Noch bei der COP1, 1995, hätte | |
die Klimakrise verhindert werden können, wenn ab damals die globalen | |
Emissionen jährlich um 1 Prozent gesunken wären. Heute sind dafür | |
[2][schier unmögliche jährliche 7 Prozent Reduktion] nötig. Das haben wir | |
bisher nur annähernd beim Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der | |
Coronapandemie gesehen. Indirekt eine kleine Hoffnung: „Wir haben es bei | |
der Reaktion auf Covid und auf den Krieg geschafft, in den Krisenmodus zu | |
kommen“, sagte Niklas Höhne vom NewClimate Institut, [3][als er auf der | |
COP27 neue erschreckende Emissionstrends vorstellte]. „Aber wir müssen auch | |
beim Klimaschutz in diesen Krisenmodus kommen. Das schaffen wir noch | |
nicht.“ | |
## Radikal wird der Klimawandel | |
Das ist der wunde Punkt, an dem sich die Letzte Generation in der Debatte | |
festklebt. Sie symbolisiert den Krisenmodus, der dringend nötig wäre, damit | |
die dringend nötigen Veränderungen mit der dringend nötigen Geschwindigkeit | |
umgesetzt werden. Nötig ist die „Disruption“ der alten Energiesysteme, eine | |
schöpferische Zerstörung, die das dreckige Alte beseitigt und dafür das | |
nachhaltige Neue aufbaut. Aber dafür braucht es Unruhe, Unzufriedenheit, | |
Streit, Experimente, die Lust am Ausprobieren und Scheitern. Und nicht die | |
scheinbare Sicherheit des Gewohnten. | |
Man kann streiten, wie sinnvoll und zielführend die Aktionen der Letzten | |
Generation sind. Blockaden bringen viel Ärger und Risiko. Das Anliegen kann | |
hinter der Aktion verschwinden. Seit Wochen wird nicht mehr über die Ziele | |
der Letzten Generation debattiert, sondern nur noch über ihre Mittel. Auch | |
blockieren sie nicht die großen Klimakiller wie Kohlekraftwerke oder | |
Gaspipelines, sondern den privaten Verkehr. | |
Aber radikal sind weniger die Forderungen der Klima-AktivistInnen, radikal | |
ist eine Zukunft von 2,7 Grad in der Klimakrise, auf die wir derzeit | |
zusteuern. Und radikal müssten die großen Schritte sein, um Deutschland und | |
die EU halbwegs auf einen Pfad zu 1,5 Grad bringen: Wirklich ernsthaftes | |
Energiesparen überall, schnellerer Bau von Wind- und Solarparks auch gegen | |
Widerstände, ein sofortiges Verbot von neuen Straßen und Flughäfen, von | |
fossilen Heizungen und Dächern ohne Solaranlagen, drastisch weniger | |
Fleischkonsum und Vieh in den Ställen. | |
Dazu deutlich mehr Geld für Klimaschutz, Anpassung und Beseitigung von | |
Schäden weltweit, eine diplomatische Offensive der EU für eine permanente | |
„High Ambition Coalition“ mit Entwicklungs- und Schwellenländern statt des | |
weichgespülten und zahnlosen „Klima-Clubs“ von Olaf Scholz. So könnte man | |
auf eine Dynamik hoffen, um die Erwärmung noch irgendwo zwischen 1,5 und 2 | |
Grad zu stoppen. | |
## Von Kriminellen zu Vorreiter*innen | |
Zugegeben: Das ist für die Ampelregierung nicht leicht. Aber um den Umbau | |
zu einer klimagerechten Industriegesellschaft voranzutreiben, ist sie | |
gewählt worden. Und Unruhe, Streit, Widerstand und Experimente, die dafür | |
nötig sind, gehören dazu, wenn man die Daten der Wissenschaft ernst nimmt – | |
und die eigenen Beschlüsse: Das Pariser Abkommen, die | |
Klimaschutz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und das Versprechen, | |
Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Diese Ziele erreichen wir | |
nicht aus der sauberen und bequemen Komfortzone. | |
So nervtötend die Aktionen der Letzten Generation sein können, wenn man | |
direkt betroffen ist: Wir brauchen die Unruhe, die sie bringen, um das | |
fatale und verlockende „Weiter so“ hinter uns zu lassen. Die Geschichte von | |
politischem Widerstand lehrt: Viele vermeintliche Kriminelle werden später | |
für ihre beharrliche Arbeit ausgezeichnet. Der Aufstand für das Wahlrecht | |
der Frau oder gegen die Sklaverei, der Antiapartheidkampf in Südafrika, die | |
Bürgerrechtsbewegung in den USA und die 68er Frauen- und Umweltbewegung in | |
Deutschland galten zu ihrer Zeit vielen als Ruhestörung und Spinnerei. | |
Heute ist die große Mehrheit dankbar, wie diese AktivistInnen unsere | |
Gesellschaften positiv verändert haben. Auch die Aktionen der Letzten | |
Generation, unseren Alltag der Zerstörung infrage zu stellen, werden in der | |
Zukunft als visionärer Anstoß für eine radikale Klimawende betrachtet | |
werden. | |
Wir müssen heute raus aus der Komfortzone, damit wir morgen noch | |
Komfortzonen finden können. Das größte Problem ist nicht, dass ich bei | |
meiner Autofahrt durch die Stadt eine Stunde verliere. Sondern dass uns | |
allen die Zeit zum Handeln davonläuft. Denn auf die radikale Klimawende | |
können wir nicht noch einmal 50 Jahre warten. | |
25 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/luftverkehr-ber-aktion-der-letzten-g… | |
[2] https://www.unep.org/news-and-stories/press-release/cut-global-emissions-76… | |
[3] https://table.media/climate/professional-briefing/gasrausch-bedroht-klimazi… | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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