# taz.de -- 1.400 Anzeigen wegen Straßenblockaden: Rechtsstaat vs. Letzte Gene… | |
> Immer mehr Verfahren gegen Klima-Aktivist*innen nach Straßenblockaden, | |
> meist wegen Nötigung: Grüne kritisieren vorschnelle | |
> Law-and-Order-Forderungen. | |
Bild: Die Letzte Generation verursacht Frust bei Autofahrern, um Druck für Kli… | |
BERLIN taz | Nächste Blockaden sind schon angekündigt, die juristische | |
Aufarbeitung der bisherigen Sitzproteste dauert unterdessen an: 1.400 | |
Anzeigen wurden in Berlin mittlerweile im Zusammenhang mit Straßenblockaden | |
der Gruppe „Aufstand der Letzten Generation“ erstattet. Der Großteil, 948 | |
der Verfahren, sind wegen Nötigung eröffnet worden – davon 616 im | |
Straßenverkehr, 330 sonstige Nötigungen, sowie 2 Fälle von Nötigung von | |
Verfassungsorganen. Wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte wurde | |
227-mal ein Verfahren eröffnet, und nur in 15 Fällen wegen gefährlichen | |
Eingriffs in den Straßenverkehr. | |
Das geht hervor aus einer der taz vorliegenden parlamentarischen Anfrage | |
der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. 29 Personen wurden im Zusammenhang | |
mit den Blockaden – teilweise mehrfach – vorübergehend festgenommen. Bei | |
298 „Gewahrsamsvorführungen“ vor einen Haftrichter wurde in 34 Fällen ein | |
Anschlussgewahrsam angeordnet. | |
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte wirft die Staatsanwaltschaft | |
Aktivist*innen vor, die sich auf dem Asphalt festgeklebt haben. [1][Im | |
ersten Gerichtsprozess] gegen einen 20-jährigen Aktivisten der Letzten | |
Generation wurde die Anklage allerdings verworfen, weil der Richter | |
Sekundenkleber als sanftes Mittel wertete und nicht als Widerstand. Am Ende | |
bekam der Aktivist 60 Stunden Freizeitarbeit nach Jugendstrafrecht | |
aufgebrummt. In weiteren Verfahren dürfte wohl auch mit Geldstrafen zu | |
rechnen sein. | |
Als die Aktivist*innen des „Aufstands der Letzten Generation“ zu Beginn | |
des Jahres und Anfang des Sommers täglich Autobahnen und Straßen | |
blockierten, war die Aufregung groß. Aufgebrachte Autofahrer, Berufspendler | |
und Boulevardmedien regten sich auf, die Law-and-Order-Fraktion von | |
Sicherheitspolitikern bis Polizeigewerkschaftern und nicht zuletzt Berlins | |
Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey sowie die Innensenatorin Iris | |
Spranger (beide SPD) forderten von der Staatsanwaltschaft schnelle Anklagen | |
und hatten [2][auch ohne Verurteilung keine Zweifel], dass es sich um | |
schwerwiegende Straftaten handele. | |
## Grüne kritisieren Law-and-Order-Fraktion | |
Das Ausmaß an Vorverurteilung war beachtlich, ebenso die Justizschelte, | |
weil die Verfahren dauerten. Schließlich beantwortete die | |
[3][Generalstaatsanwältin Margarete Koppers] die politische | |
Anspruchshaltung an die Justiz mit deutlich geäußertem Unverständnis: | |
Schließlich müssen Staatsanwaltschaften wie Gerichte in jedem Verfahren den | |
Einzelfall prüfen. | |
In dem Zusammenhang kritisierte der Grünen-Abgeordnete Vasili Franco nun | |
„teils martialische Rufe nach beschleunigten Verfahren und harten Strafen“: | |
„Vorverurteilungen von Klimaaktivist*innen unterminieren den | |
Rechtsstaat. Das halte ich für brandgefährlich“, sagte Franco der taz. Die | |
Anfrage zeige, dass der Rechtsstaat funktioniere. Polizei, | |
Staatsanwaltschaft und Gerichte arbeiteten unaufgeregt und professionell. | |
Die Autobahnblockaden seien überwiegend als Nötigungen anzusehen und „nicht | |
per se als schwerer Eingriff in den Straßenverkehr“, so der | |
Sicherheitspolitiker. | |
Franco findet es besorgniserregend, „wenn gerade viele junge Menschen | |
keinen anderen Ausweg aus der Klimakrise mehr sehen“, als zivilen | |
Ungehorsam zu leisten und sogar Straftaten zu begehen. Man werde | |
Klimaprotesten nicht alleine mit dem Strafrecht beikommen und das sei auch | |
gut so, sagte Franco: „Wer harte Strafen als Allheilmittel sieht, entfernt | |
sich vom Rechtsstaat und ignoriert die offensichtlichen Probleme. Der beste | |
Umgang mit Klimaprotesten ist schließlich mehr Klimaschutz.“ | |
Tatsächlich arbeiten Polizei, Justiz und Gerichte weiter an der Bewältigung | |
der Welle an Verfahren, die im Zuge der Blockaden aufliefen, wie die | |
Anfrage zeigt. Über Nötigung und Widerstand hinaus gibt es 99 Anzeigen | |
wegen Hausfriedensbruch und 87 Verfahren im Zusammenhang mit | |
Sachbeschädigungen. Ebenso gibt es 3 Verfahren wegen Behinderung von | |
hilfeleistenden Personen. | |
Hinzu kommen einzelne Anzeigen, die wohl auch auf gewaltsame Übergriffe | |
durch Autofahrer*innen zurückzuführen sein könnten: So gab es auch 5 | |
einfache Körperverletzungen sowie 2 gefährliche Körperverletzungen sowie | |
eine Beleidigung. Ebenso steht eine Attacke auf einen Polizisten zu Buche; | |
im Zusammenhang mit den Blockaden wurde zudem ein Totschlag zur Anzeige | |
gebracht. In welchem Zusammenhang letzterer steht, ließ die Polizei auf | |
taz-Anfrage bislang unbeantwortet. | |
Der Justiz droht nach Aussage von Gerichtssprecherin Lisa Jani im Übrigen | |
durch die Verfahren keine Überlastung, wie sie der taz auf Nachfrage sagte. | |
Bisher hat die Staatsanwaltschaft 131 Strafbefehle beantragt, 97 weitere | |
Fälle sind noch in Bearbeitung. Das Gericht sprach bisher in 66 Fällen | |
einen Strafbefehl aus. Zu Prozessen kommt es, wenn die Aktivist*innen | |
den Strafbefehlen widersprechen, [4][was sie in fast allen Fällen tun | |
wollen], um die Prozesse als Bühne zu nutzen, wie sie ankündigten. Bisher | |
liegt bei 24 Verfahren ein Einspruch vor. | |
Unterdessen erhält die Letzte Generation nach eigenen Angaben regen Zulauf | |
und blockiert weiter in mittlerweile 22 Städten. Die Aktivist*innen | |
nehmen durch zivilen Ungehorsam Strafen bewusst in Kauf, um politische | |
Maßnahmen gegen die Klimakrise zu erzwingen. Ihre Aktionen haben dabei eine | |
bundesweite Debatte über Aktionsformen und auch Klimaschutzmaßnahmen | |
ausgelöst. | |
13 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-gegen-Autobahn-Blockierer/!5875268 | |
[2] /Proteste-der-Letzten-Generation/!5868532 | |
[3] http://(https://taz.de/Ermittlungen-gegen-Strassenblockierer/!5864020/ | |
[4] /Strafen-gegen-die-Letzte-Generation/!5873746 | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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