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# taz.de -- Straßenblockaden der Letzten Generation: Seien Sie ruhig sauer
> Ein Autofahrer versucht, Klimaaktivist*innen von der Straße zu
> zerren. Warum Wut im Straßenverkehr völlig okay ist, Selbstjustiz aber
> nicht.
Bild: Nervig, so ausgebremst zu werden. Blockade-Aktion der „Letzten Generati…
Bremen, neun Uhr morgens. Auf der riesigen T-Kreuzung
Stresemannstraße/Steubenstraße, zwischen Bürgeramt, Baumarkt und Autoläden,
dort, wo Autofahrer*innen sich scheinbar manchmal so fühlen wie auf
der Landstraße, nimmt ein weißer Kleintransporter [1][beim Rechtsabbiegen
einem Radfahrer die Vorfahrt]. Die Bremsen des Rades quietschen, sein
Fahrer schreit: „Ey!“
Der Van steht schon mitten auf der Spur des Mannes, will sogar
weiterfahren, ohne das Rad vorher vorbeizulassen. Es folgt ein Stop-and-go
beider, ein Schlag das Radfahrers an die Außenwand des Autos, ein weiterer
Schrei.
Alle Menschen, die Rad fahren, kennen wohl dieses Gefühlschaos: unbändige
Wut, Dankbarkeit, noch zu leben – und den Impuls, diesen einen Gedanken
„Hätte ich doch nur …“ Aber was? „Hätte ich doch nur noch lauter
geschrien?“ „Wäre ich doch nur in die Fahrerkabine gesprungen und hätte i…
eine reingehauen?“
Bevor nun der Eindruck entsteht, dies sei eine [2][Hassrede an
Autofahrer*innen]: Ist es nicht. Es ist ein Text voller Verständnis
für alle Gefühle im Straßenverkehr.
## Sogar Autofahrende leiden
Es sind nicht nur Radler*innen, die von Rad- oder Autofahrenden bedrängt
oder von Fußgänger*innen ausgebremst werden. Auch Leute, die zu Fuß
unterwegs sind, leiden unter Unachtsamkeiten der beiden anderen Gruppen,
unter schmalen, zugeparkten Wegen, ätzenden Ampelphasen. Sogar Autofahrende
haben es nicht leicht: wenn Menschen einfach bei Rot gehen oder fahren,
andere Autos drängeln – oder wenn sich Protestierende der „[3][Letzten
Generation“ vor ihnen auf die Straße kleben].
Wer dann zu einem Arzttermin oder das kranke Kind aus der Kita abholen
muss, hat jedes Recht, wütend zu sein. So auch der Mann, der Anfang der
Woche in Göttingen mit vielen anderen vor einer blockierten Kreuzung
ausharren musste. „Ich muss arbeiten“, rief er, noch bevor die Polizei da
war, und zerrte Aktivist*innen von der Straße, wie ein Video belegt.
Diese setzten sich natürlich kurz danach wieder an ihren Platz. „Halt die
Fresse“, rief der Fahrer, und: „Ihr Wichser.“
Recht auf Wut: ja. Recht auf Selbstjustiz: ganz klar nein. Die Hannoversche
Allgemeine Zeitung (HAZ) stellt trotzdem die Frage, ob Autofahrer
„eigenhändig die Straße freiräumen dürfen“. Der zitierte Polizeisprecher
stellt dann zum Glück klar: Dürfen sie natürlich nicht. Es handele sich
schließlich um eine Versammlung. [4][Laut HAZ habe der Autofahrer sogar
gedroht]: „Setz dich wieder hin und ich breche dir die Beine.“
Dass die HAZ das Thema auf diese Art aufgreift, ist nicht nur unnötig,
sondern auch unangenehm. Denn es zeigt eine Ungerechtigkeit – Autofahrer
kann wegen der Blockade nicht zur Arbeit –, die im Vergleich zu anderen
Ungerechtigkeiten klitzeklein ist.
## Mehr verunglückte Radfahrende
Zum Beispiel, dass Menschen ohne Blechpanzer [5][bei Unfällen immer
benachteiligt] sind. Im ersten Halbjahr 2022 ist die Zahl der verunglückten
Radler*innen in Hamburg und Schleswig-Holstein gestiegen – im Stadtstaat
um fast 25 Prozent im Vergleich zu 2019, vor allem mit Pedelecs. Um die
gleiche Prozentzahl sanken die Verunglückten im Pkw oder Lkw. Weil jetzt
einfach [6][mehr Menschen Rad fahren]? Vielleicht. Das ändert aber nichts
daran, dass die absolute Zahl der Verletzten gestiegen ist.
Und da wäre noch die Ungerechtigkeit der Klimakrise, für deren Bekämpfung
sich die Aktivist*innen einsetzen. Weil sie finden, dass die Politik
immer noch viel zu wenig tut, greifen sie inzwischen zu drastischen
Mitteln. Das ist verständlich angesichts der Katastrophe, die vor allem auf
die Jüngeren zurollt.
Natürlich fühlt es sich unfair an, wenn einen so eine Blockade selbst
trifft. Trotzdem: Auf den Gedanken, sich selbst zu wehren, darf nie eine
Handlung folgen. Wenn Sie das nächste Mal in einer solchen Blockade stehen,
denken Sie dran: Diese Menschen haben jedes Recht, auf das größte Problem
aufmerksam zu machen, dass die Menschheit jemals hatte. Und Sie und Ihre
Pläne sind in diesem ganzen großen Zirkus relativ unwichtig.
8 Dec 2022
## LINKS
[1] /Getoetete-Radfahrerin-in-Berlin/!5805208
[2] /Die-Wahrheit/!5892251
[3] /Blockaden-der-Letzten-Generation/!5896676
[4] https://www.haz.de/der-norden/goettingen-autofahrer-zerrt-klimaaktivisten-v…
[5] /Getoetete-Radfahrerin-in-Berlin/!5821702
[6] /Wenn-Lastenraeder-Autos-ersetzen/!5895689
## AUTOREN
Alina Götz
## TAGS
Letzte Generation
Göttingen
Schwerpunkt Klimaproteste
Autoverkehr
Selbstjustiz
IG
Letzte Generation
Verkehrswende
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