# taz.de -- Fotoausstellung von Ragnar Axelsson: Im nicht mehr ewigen Eis | |
> Hamburgs Deichtorhallen zeigen Fotos vom schmelzenden Rand der Welt: | |
> Ragnar Axelssons Abgesang auf Gletscher und BewohnerInnen der Arktis. | |
Bild: Momente des Glücks: Ein Moment vom schmelzenden Rand der Welt | |
Warum man in arktischer Einöde lebt? Weil man es nicht anders kennt. Weil | |
es mühsame, aber vertraute Praxis ist, unwirtlicher Natur Nahrung und | |
Behausung abzuringen. Und weil man genau die Fertigkeiten perfektioniert | |
hat, die zum [1][Überleben im bis dato „ewigen Eis“] nötig sind. So sehen | |
es jedenfalls die wenigen verbleibenden Standhaften der arktischen Völker | |
etwa Islands, Grönlands und Sibiriens. | |
Die Jugend derweil hat der Mühsal den Rücken gekehrt und ist großteils in | |
die Städte abgewandert. Aber das tat sie aus freier Entscheidung, und genau | |
hier setzt die Hamburger Retrospektive des isländischen Fotografen Ragnar | |
Axelsson an: Qua Klimawandel nimmt die Natur den Verbliebenen die | |
Entscheidung „bleiben oder gehen“ aus der Hand, indem die Eislandschaft | |
einfach wegschmilzt, sich die Gletscher in einen anderen Aggregatzustand | |
verwandeln. | |
Das Unheimliche – und zugleich wissenschaftlich Berechenbare: Das Eis | |
verschwindet langsam, und nur wer nah dran wohnt merkt, dass der Gletscher | |
von Jahr zu Jahr kleiner, die Eisdecke auf dem Meer dünner wird. Das ist | |
zwar hierzulande ähnlich, weil auch die Alpengletscher schmelzen und hier | |
wie dort schon einzelnen der Gletscherstatus aberkannt wurde – doch bleibt | |
uns das arktische Problem seltsam fern. | |
Um diese Gleichgültigkeit aufzubrechen, hat sich Axelsson, der als | |
Zehnjähriger mit einer Leica die Gletscher zu lieben und zu fotografieren | |
begann, aufgemacht, die Arktis und [2][ihre verbliebenen BewohnerInnen] zu | |
porträtieren. Heraus kam ein poetischer Abgesang auf das Leben der | |
arktischen Jäger. | |
## Dokument statt Mahnung | |
Herausgekommen sind ästhetische, virtuos komponierte Schwarz-Weiß-Porträts | |
von Landschaft, Schlittenhunden, Jägern, die sich durchs Schneetreiben | |
kämpfen, störrische Pferde bändigen, ihren Hunden zureden oder zum Fischen | |
fahren. Mal kommt ein gegerbtes Gesicht ganz nah, mal lugt ein Hund | |
seitlich ins Bild. Hauptprotagonistin bleibt immer die gigantisch weite | |
Landschaft. | |
Seit 40 Jahren bereist Axelsson die Arktis und versteht sich als | |
Botschafter einer Region, die als Gradmesser des Klimawandels gilt. Dabei | |
ist der Ausstellungstitel „Where the World is melting“ etwas irreführend, | |
denn die Gletscherschmelze ist eher eine Randnotiz. | |
Sicher, man kann sich denken, was passiert, wenn sich die breiten Risse im | |
Gletscher bis auf den Boden durchgefressen haben und große Stücke | |
abtrennen. Besorgniserregend auch die großen Wasserlachen auf dem Eis – | |
dort, wo es am kältesten sein sollte. Aus einigen Gletschern lugen gar | |
schon die Spitzen der darunter liegenden Vulkane hervor. | |
Vor allem aber dokumentiert Axelsson den Ist-Zustand einer für uns | |
MitteleuropäerInnen nur bedingt begreiflichen Lebensform: Denn letztlich | |
jagen die ArktisbewohnerInnen – wenn auch nicht im Übermaß – die | |
aussterbenden Eisbären und Wale. Auch fällt es schwer, jenes Foto zu | |
schätzen, auf dem Jäger gerade eine Robbe mit einem Stock getötet haben. | |
## Wenn das Meer noch seltener zufriert | |
Zudem thematisiert die Ausstellung nicht, dass sie eine Minderheit | |
präsentiert: Es sind nur wenige Menschen, die ihre Dörfer aufgeben müssen, | |
wenn das Meer noch seltener zufriert, das Eis noch dünner wird und die für | |
die Jagd so wichtigen Schlittenhunde nicht mehr trägt. | |
Axelsson ist also weniger Mahner als Dokumentar einer verschwindenden Welt, | |
die er aus der Innensicht der Betroffenen zeigt: Bewusst hat er den harten | |
Alltag dieser Menschen geteilt, um ihr Vertrauen zu gewinnen, ihre | |
Geschichten zu hören. Zum Beispiel diejenige vom Riesen, der bei | |
Schneesturm einschlief und bis heute nicht erwachte. | |
Und tatsächlich sieht die aufgeplatzte Schneedecke auf einem der Fotos aus | |
wie ein grimmiger Urzeit-Riese. Und der Kreis aus schlafenden | |
Schlittenhunden auf dem Schnee erinnert an ein Iglu, an das Rund der Welt, | |
ein Sternbild vielleicht. In solchen Momenten beginnt man zu begreifen, | |
welch spirituelle Vorstellungen in dieser Extremst-Natur entstehen. | |
Das ist bereichernd und weckt Empathie für eine schwindende Kultur. | |
Politisch allerdings löst die Ausstellung ihr Versprechen nur sehr bedingt | |
ein: Zwar ist erfreulich, dass sie nur wenige Klischee-Bilder auseinander | |
driftender Eisschollen und einsam im Meer schwimmender Gletscher zeigt, die | |
den Anschluss an den Pol verloren haben. | |
Trotzdem wäre es zumindest am Rande erwähnenswert gewesen, dass Gletscher – | |
bzw. ihr Schmelzwasser – einen Großteil des weltweiten Süßwasserreservoirs | |
bergen. [3][Dass der auftauende Permafrost] alte Bakterien und Umweltgifte | |
freisetzt und dass mit den Gletschern wichtige Sonnenlicht-Reflektoren | |
verschwinden, die vor Hitze schützen. Und dass der in der Schau zitierte | |
Satz eines Arktisbewohners „Dem großen Eis geht es schlecht“ weit mehr ist | |
als das von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) kürzlich diagnostizierte | |
„Klima-Blabla“. | |
16 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fotografie-der-Industrie-in-der-Arktis/!5914015 | |
[2] /Foto-Ausstellung-Stars-of-Polar-Night/!5913724 | |
[3] /Eine-Reise-zum-Gletscher/!5908973 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Deichtorhallen Hamburg | |
Hamburg | |
Arktis | |
Kunst | |
Fotografie | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Fotografie | |
Klimaforschung | |
Gletscher | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klimawandel in Fotos festgehalten: Fantastisch schöne Eisberge | |
Auch überhaupt nicht gute Dinge können ein ästhetisches Ereignis sein. Im | |
Deutschen Technikmuseum Berlin sind die Folgen des Klimawandels zu sehen. | |
Fotografie der Industrie in der Arktis: Abschmelzende Ewigkeit | |
Die Landschaft der Arktis verändert sich. Gregor Sailer fotografierte dort | |
die Spuren des Menschen. Zu sehen ist seine Ausstellung in Berlin. | |
Foto-Ausstellung „Stars of Polar Night“: Frauen am Rand der Welt | |
Spitzbergen ist mittlerweile ein Zentrum der Klimaforschung. Die Fotografin | |
Esther Horvath richtet einen Blick auf die Frauen, die dort arbeiten. | |
Eine Reise zum Gletscher: Mit Poesie im Gepäck | |
Unsere Autorin forscht zu Gletscherlyrik. Sie reist zum norwegischen | |
Jostedalsbreen, um den Eisriesen kennenzulernen – und um Abschied zu | |
nehmen. |