| # taz.de -- Lyriker Nico Bleutge: Der Klang der Ränder | |
| > Als wäre man selbst ein Kind, das die Welt entdeckt: Nico Bleutges | |
| > Gedichtband „schlafbaum-variationen“ spannt einen Bogen von der Geburt | |
| > bis zum Tod. | |
| Bild: Der Schlafbaum wird zum Symbol einer Lyrik, die sich mit den Rändern des… | |
| Der Anfang dieses Gedichtbandes widmet sich dem Lebensbeginn, nähert sich | |
| dem Babydasein auf lautmalerische Weise. Ein „quappiges“, also | |
| wohlgenährtes Kind bringt die Erwachsenen mit neugierigen Blicken und | |
| urwüchsigen Tönen zum Staunen, jedenfalls reichen bekannte Begriffe nicht | |
| aus, um die Laute des jungen Menschen zu beschreiben. | |
| Da wird nicht nur geschmatzt und gegluckst, sondern sich „plitschernd“ der | |
| Mutterbrust genähert; „kommt das fieber in schwärmen?“, fragt die | |
| Vaterstimme, und wir meinen, die hohe Temperatur des Kindes in der | |
| Vogelschar zu hören. Nico Bleutges Lyrik erschließt sich im ersten Teil | |
| seiner „schlafbaum-variationen“ vor allem dann, wenn man dem Klang der | |
| Wortneuschöpfungen folgt. | |
| Nach dem großen Gähnen der Tochter, das als „gäumlings“ beschrieben wird, | |
| folgt der Schlaf mit vielen Fragezeichen: Was das Kind wohl erlebt beim | |
| nächtlichen Murmeln? Gibt es Träume mit Zootieren, die nicht zum Kuscheln | |
| taugen? Ein Gorilla? Ein Elefant? Wann setzt überhaupt die Erinnerung ein, | |
| sind es Farben, Töne oder Berührungen, die bleiben? Die Finger der Kleinen | |
| gehen auf Reisen, die Fingerkuppen erkunden die sich weitende Welt. Dann | |
| kommt der Regen, „so erinnert ton um ton“. | |
| So konsequent die Kleinschreibung des Autors, so vielfältig seine | |
| Stilmittel, so variantenreich Rhythmus und Strophenstruktur. Mal sind | |
| Zweizeiler mit Enjambement, mal grafisch versetzte Verse zu lesen. Es gibt | |
| Binnenreime und wilde Wortspiele, mal tauchen Kinderlieder auf, | |
| vermeintlich bekannte und doch überraschend gesetzte Metaphern; allerlei | |
| versteckte und auch offensichtliche Verweise auf Elke Erb, Hölderlin und | |
| Ovid sind zu finden. Es lohnt sich, manche Zeile mehrfach zu lesen, weil | |
| sich stets neue Aspekte offenbaren. Als wäre man selbst das Kind, das die | |
| Welt entdeckt. | |
| Nico Bleutge verknüpft seine poetische mit der bildenden Kunst, mit Bildern | |
| von Dalí und Magritte, auch weil diese Werke dem Vater des Dichters wichtig | |
| waren. In den Anmerkungen sind die Lebensdaten von Rolf Bleutge notiert: | |
| 1941-2017. Der Tod des Vaters ist das zentrale Thema des zweiten Buchteils, | |
| der zunächst einen völlig anderen Ton anschlägt. | |
| ## Todesrondo im Klinikum | |
| Die „besuche im klinikum“ sind die Kehrseite der üppig-rätselhaften | |
| Kinderwelt. Im Krankenhaus ist alles karg und mit schrecklicher | |
| Eindeutigkeit belegt. Dementsprechend ostentativ und repetitiv die Verse, | |
| in dem nur der nasskalte Name einer Stadt großgeschrieben wird: „das ist | |
| der mann / der liegt in der klinik Regensburg // das ist der raum / für den | |
| mann, sechs tage lang / der liegt in der klinik Regensburg // das ist der | |
| plan / der den raum zeigt / und nicht den mann // der liegt in der klinik | |
| Regensburg.“ | |
| Durch dieses Todesrondo rattert eine weitere Bildspur. Ein Projektor spult | |
| einen alten Film ab, der einen Jungen mit Cowboyhut in einer Landschaft mit | |
| Wäldchen und Fluss zeigt. Die Erinnerungen auf Zelluloid rasen viel zu | |
| schnell durchs klapprige Gerät, sodass der Film beinahe reißt. Das Kind von | |
| damals ist vermutlich der Mann, „der liegt in Regensburg sechs tage lang“. | |
| Bleutge wiederholt und variiert die Motivsätze, überblendet Bilder aus der | |
| Klinik mit den Aufnahmen aus dem Kindheitsfilm. Am Ende dann der schroffe | |
| Tempuswechsel: „das war in der klinik in Regensburg.“ | |
| Wie nah der Dichter seinem Vater gewesen ist, kann man erahnen, wenn in den | |
| folgenden Gedichten Kinderlieder und Abzählverse aus der gemeinsamen | |
| Vergangenheit auftauchen. Nur hat der Hut hier keine Ecken, sondern sieben | |
| Enden. Es schnürt einem förmlich die Luft ab, wenn die Sprache das schwere | |
| Atmen des Vaters aufnimmt, wenn aus dem Pfeifen ein Summen bei | |
| „lahmgelegter zunge“ wird. | |
| In dieser Situation formuliert das lyrische Ich eine so einfühlsame wie | |
| irreale Hoffnung: „was ein wunsch wäre, schlaf / zu übertragen, wärme / | |
| sich in die luftwege schleichen“ – am Ende des Gedichts blinkt ein | |
| Bildschirm im „abgedimmten licht der klinikdeckenlampe“. Wäre das doch ein | |
| Signal, dass sich Besserung einstellt! Doch der sterbende Mensch ist keine | |
| Batterie, „nichts lädt sich auf“. | |
| ## Vogelschwärme ziehen durch die Verse | |
| Die titelgebenden und abschließenden „schlafbaum-variationen“ bringen die | |
| Gedanken und Bilder der vorangehenden Teile zusammen. Vogelschwärme, | |
| nämlich Falken und Stare, ziehen durch die Verse und durchs Geäst des | |
| Mimosengewächses. Die Falken sollen die Stare vertreiben, aber noch ist das | |
| Schicksal der kleineren Vögel nicht festgeschrieben. | |
| Leben und Tod sind im Schlafbaum eng verbunden. Seinen Namen hat die | |
| Akazienart erhalten, weil sie nachts oder bei Trockenheit die Blätter | |
| zusammenklappt, also „schläft“. Der Schlafbaum ist das zentrale Symbol | |
| einer Lyrik, die sich mit den Randzonen der menschlichen Existenz befasst, | |
| mit dem Welterkennen des Kindes und dem Verschwinden des Vaters aus der | |
| Welt. | |
| Im Schlaf scheinen beide, der Moribunde und die Tochter, auf ungleiche | |
| Weise vereint. So erinnert sich das lyrische Ich beim Anblick eines | |
| Schlafbaums auch an den Vater, an „seine lust, tiere zu zeichnen / schnell | |
| gestrichelte schwarzweiße bilder auf einer halben / einer viertel seite, | |
| die wie comics aussahen.“ | |
| Es scheinen Kleinigkeiten zu sein, aus denen sich wirkmächtige Erinnerungen | |
| speisen, wobei den Bildern und Begriffen nicht immer zu trauen ist, zu | |
| markant sind die Überblendungen und Aufladungen aus vergangenen Zeiten. Was | |
| diese herausragende, weil im wahrsten und besten Sinne des Wortes nämlich | |
| schöngeistige Lyrik auch zeigt: Erinnern heißt, sich der Verluste bewusst | |
| zu werden. | |
| Nico Bleutge ist unlängst der Jean-Paul-Preis zugesprochen worden, und wie | |
| Jean Paul die Romanform zerfließen ließ, weiß auch Bleutge mit der Sprache | |
| umzugehen, nämlich empathisch und analytisch zugleich: Bleutge dreht und | |
| wendet sein Erinnerungsmaterial so lange, bis sich ein „gefühl für | |
| verplombte wörter“ einstellt. Dieses Gefühl überträgt der Lyriker | |
| tatsächlich auf uns Lesende, sodass selbst Passagen, die hermetisch wirken, | |
| auf sprachemotionale Weise verständlich werden. | |
| 21 Apr 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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