# taz.de -- Marieke Lucas Rijnevelds Gedichtbände: Komm, wir streicheln uns | |
> Zwischenräume, Übergänge, Metamorphosen und viele Tiere: „Kalbskummer“ | |
> und „Phantomstute“ heißen zwei furiose Gedichtbände von Marieke Lucas | |
> Rijneveld. | |
Bild: Freie Rhythmen: Marieke Lucas Rijneveld | |
Als [1][Marieke Lucas Rijneveld] im Frühjahr 2021 beauftragt wurde, Amanda | |
Gormans Inaugurationsgedicht [2][„The Hill We Climb“] ins Niederländische | |
zu übertragen, gab es Protest etwa von der schwarzen Aktivistin Janice | |
Deul, die in einem Artikel in der Tageszeitung De Volkskrant fragte, „warum | |
wählt man nicht eine Autorin aus, die – wie Gorman – Spoken-Word-Künstler… | |
ist, jung, eine Frau und: unapologetically black?“ | |
Die Diskussion, wer welche auch ethnischen Eigenschaften mitzubringen hat, | |
um angemessen übersetzen zu können, wurde bald nicht nur in den | |
Niederlanden, sondern weltweit geführt. Rijneveld zog sich zurück, und | |
spätestens mit diesem Eklat sprachen auch notorische Ignoranten des | |
Feuilletons über die Folgen rigider Identitätspolitik. | |
Dass ausgerechnet eine geplante Arbeit Rijnevelds diese weltweit geführte | |
Diskussion auslöste, war grotesk, weil in diesem Fall sowohl Biografie als | |
auch Werk immer wieder das Nichtbinäre umkreisen: 2010 nahm die damalige | |
Autorin mit Lucas einen zweiten Vornamen an und nutzte fortan das | |
geschlechtsneutrale Pronomen they. | |
## Fluide Identitäten | |
Seit Januar 2022 möchte Rijneveld als Autor adressiert werden. In seinen | |
Texten geht es stets um fluide Identitäten, um den Versuch, familiäre und | |
gesellschaftliche Normen zu befragen, persönliche Übergänge und politische | |
Befreiungsakte sprachlich sichtbar zu machen. | |
Sein Werk, das mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, besteht aus | |
Gedichtbänden und Romanen gleichermaßen; 2020 erhielt Rijneveld mit nur 29 | |
Jahren den International Booker Prize. Tatsächlich ist seine Ästhetik so | |
artifiziell wie umgangssprachlich. Seine Texte entziehen sich solchen | |
Kategorien ohnehin, und gerade deshalb wäre der in Utrecht lebende | |
Schriftsteller die Idealbesetzung für eine Übertragung der Werke Amanda | |
Gormans ins Niederländische gewesen. | |
Selbst die Frage, ob Rijneveld eher Prosaautor oder doch vor allem Lyriker | |
ist, geht an seinen Arbeiten vorbei. Seine biografisch grundierten Romane | |
„Was man sät“ und „Das Prachttier“, die in einem strenggläubigen und | |
ländlichen Umfeld spielen, leben von einer äußerst poetischen Bildsprache, | |
und die Lyrik in den beiden Bänden „Kalbskummer“ und „Phantomstute“ | |
enthalten vor allem erzählerische Gedichte mit eindrücklichen und furios | |
ausgedachten Szenen, in denen die Einsamkeit in der bäuerlichen Provinz, | |
die Maßgaben der Erwachsenen und die Erkundung des eigenen Körpers eine | |
wichtige Rolle spielen. | |
Diese sowohl stilistischen wie motivischen Übergänge gehören zur genuinen | |
Textästhetik Rijnevelds, unabhängig von der formalen Etikettierung handeln | |
sie eben auch inhaltlich von Zwischenräumen und Metamorphosen. Die Gedichte | |
vor allem in „Kalbskummer“ zeigen dabei ein lyrisches Ich, das selbst | |
verwirrende Coming-of-Age-Erfahrungen ironisch zu beschreiben weiß. | |
## „Kribbeln im Unterleib“ | |
Im siebenstrophigen „Kummerfresser“ heißt es: „mein erster Kuss mit einem | |
echten Mann, schlagartige / Erkenntnis: knutschen ist etwas anderes als ein | |
Honiglakritz mit der Zunge umkreisen, Mamas / Wurmtrunk hilft nicht gegen | |
das Kribbeln im Unterleib.“ | |
Die Gedichte mit den gewitzten Zeilensprüngen sind in der Suhrkamp-Ausgabe | |
durchgehend zweisprachig abgedruckt, was für alle, die des Niederländischen | |
mächtig sind, gewiss interessant ist. Viel hilfreicher aber wäre ein | |
ausführliches Nachwort gewesen, in dem etwa die Übersetzerin Ruth Löbner | |
erklärt hätte, wie sie in den Nachdichtungen mit den Eigenheiten des | |
Originals, überhaupt mit den Motiven umgegangen ist, die sich nicht so | |
leicht ins Deutsche übertragen lassen. | |
Auch die sprachliche Entwicklung der beiden Gedichtbände, die in den | |
Niederlanden 2015 („Kalfsvlies“) und 2019 („Fantoommerrie“) erschienen | |
sind, hätte etwas genauer betrachtet werden können. Stattdessen wird getan, | |
als handele es sich um ein Werk mit zwei Zyklen. | |
Was allein vom Schriftbild auffällt: Im Deutschen werden die Zeilen mit | |
deutlich mehr Satzzeichen strukturiert. Kommata und Doppelpunkt sind im | |
Ausgangstext seltener zu finden, als wären Rijnevelds frei-furiose Rhythmen | |
ursprünglich noch ungebundener. Auf jeden Fall ist hier ein Dichtererzähler | |
mit einem Faible für Wortneuschöpfungen am Werk, was allein die beiden | |
skurrilen Titelbegriffe bezeugen. | |
## Kalendersprüche und Kinderperspektive | |
Außerdem setzt Rijneveld immer wieder auf Vergleiche, die mit dem | |
Kalenderspruchhaften spielen und kurioserweise doch aufgehen, weil sie | |
offensichtlich überdreht oder aus einer Kinderperspektive formuliert sind: | |
„Neun warst du, als du sagtest, du seist wie eine Badewanne, die immer | |
einen anderen / braucht, damit sie sich füllen kann, ich ließ das Wasser | |
ein und du zeigtest mir /, wo sich das Loch befand […].“ | |
Diese Zeilen stammen aus dem nahezu rührenden Gedicht „Komm, wir streicheln | |
uns“, das uns schon in der ersten Strophe mit einer erstaunlichen | |
Bilderflut überschwemmt: „Wir fangen mal damit an, dass wir näher | |
zusammenrücken, verdrängen langsam / die Luft zwischen uns wie Weckgläser | |
mit Sommergemüse, die ein Vakuum bilden, / Haltbarkeit beginnt immer mit | |
dem Anbringen eines Etiketts.“ | |
Viele Tiere bevölkern die Gedichte, nämlich Kühe, Schmetterlinge und | |
Fische, vor allem aber Schnecken, weil die eine sexuelle Doppelidentität | |
aufweisen: „Warum verwirrt es Schnecken nicht, dass sie / | |
zweigeschlechtlich sind?“, heißt es im „Kindersorgentelefon“, das mit ei… | |
bitteren Erkenntnis endet: „krumm und schief steh ich in der Welt.“ So | |
passt es auch, dass in Rijnevelds Sprachwelt ordnende und beschönigende | |
Stilmittel wie Metrum und Reim irrelevant sind. | |
Dabei sind die Gedichte über das Erwachsenwerden, über den nahenden Tod, | |
das familiäre Korsett sowie das poetische Nachdenken über Sex und Gender | |
durchaus melodiös, manchmal gar berückend schön. Wären die Debatten rund um | |
diese Themen doch immer von Rijnevelds poetischer Offenheit und einem | |
spielerischen Geist getragen, der bildreich erkundet, statt ideologisch zu | |
zementieren. | |
20 Oct 2022 | |
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[1] /Debatte-um-Gedicht-von-Amanda-Gorman/!5758644 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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