# taz.de -- Debatte um Gedicht von Amanda Gorman: Eine verpasste Gelegenheit | |
> Wer darf, kann und soll wen übersetzen und wie geht der Literaturbetrieb | |
> mit Diversität um? Ein Rückblick auf die Debatte um Amanda Gorman. | |
Bild: Die Schriftstellerin Amanda Gorman, kurz bevor sie bei Joe Bidens Inaugur… | |
Bevor [1][Amanda Gormans vielbeachtetes Inaugurationsgedicht] nun am | |
Dienstag unter dem Titel „Den Hügel hinauf“ in deutscher Übersetzung | |
erscheint, lohnt es sich, noch einmal auf den Ausgangspunkt der Debatte | |
zurückzukommen, die mit großer Heftigkeit unter der Fragestellung „Dürfen | |
Weiße Schwarze übersetzen?“ geführt worden ist und noch geführt wird, | |
nachdem die für die niederländische Gorman-Übersetzung zunächst vorgesehene | |
Schriftsteller*in Marieke Lucas Rijneveld von dem Auftrag zurückgetreten | |
ist. | |
Das Meinungsstück der niederländischen Autor*in Janice Deul, das am 25. | |
Februar in der Tageszeitung Volkskrant erschien und der große Katalysator | |
dieser Debatte war, findet sich leicht im Netz. Man kann es sich (in einer | |
Übersetzungsdebatte eine Fußnote für sich) von Google oder Windows schnell | |
ins Deutsche übersetzen lassen. | |
Das Ergebnis liest sich holperig, doch man versteht durchaus, was da steht, | |
und wenn man das liest, muss man sich einigermaßen wundern. Denn davon, | |
dass nur Schwarze Schwarze übersetzen sollen, ist in dem Stück überhaupt | |
nicht die Rede. Und davon, dass Weiße das nicht „dürfen“, schon gar nicht. | |
Vielmehr beschreibt Janice Deul den Übersetzungsauftrag an die junge, | |
weiße, nichtbinäre Autorin Rijneveld als „verpasste Gelegenheit“ dafür, … | |
Schwarzes Spoken-Word-Talent ins Rampenlicht zu schieben. Deul führt einige | |
Namen an und schreibt dann: „Wie wäre es, wenn einer von ihnen die Arbeit | |
[also die Übersetzung] erledigen würde? Würde das Gormans Botschaft nicht | |
mächtiger machen?“ | |
## Man muss Chancen nutzen | |
Deul schreibt damit, was inzwischen jedeR Diversity-Beauftragte so sagen | |
würde: Man muss solche Chancen nutzen, wie sie der Übersetzungsauftrag für | |
dieses Gedicht nun einmal bietet, wenn man Chancengleichheit und | |
Gleichberechtigung tatsächlich erreichen will. | |
Es geht hier also um eine verpasste Chance im Bemühen um Aufmerksamkeit und | |
Sichtbarkeit und keineswegs um einen identitären Kulturkampf. Das | |
festzuhalten heißt keineswegs, die Kritik an essenzialistischen | |
Kulturauffassungen zu schmälern. Es ist falsch und gefährlich, von | |
identitären Wesensgemeinschaften von Menschengruppen auszugehen und von da | |
die Forderung abzuleiten, Autor*in und Übersetzer*in müssten derselben | |
Gruppe angehören. Nur war das eben auch gar nicht Janice Deuls Punkt. | |
In einem Kommentar zu ihrem Text hat sie das noch einmal ausdrücklich | |
erklärt: „Ich behaupte keineswegs, eine Schwarze Person könne eine Weiße | |
Arbeit nicht übersetzen oder andersherum.“ Es gehe ihr allein um dieses | |
spezifische Gedicht dieser spezifischen Autor*in in diesem | |
Black-Lives-Matter-Zusammenhang. | |
Das kann man immer noch kritisieren und infrage stellen. Aber ist eine | |
Enttäuschung darüber, dass der große Impuls des Gorman-Auftritts vor dem | |
amerikanischen Kapitol nicht dazu genutzt werden sollte, auf die Diversität | |
in der niederländischen Gesellschaft hinzuweisen, nicht auch einfach | |
nachvollziehbar? | |
## Schwere Geschütze in der Debatte | |
Jedenfalls wirken die schweren Geschütze, die in der Debatte aufgefahren | |
wurden – die Gefahr einer „Apartheid im Bücherregal“ wurde beschworen, | |
Rijnevelds Rückgabe des Auftrags erinnerte Beobachter an die | |
Selbstbezichtigungen in stalinistischen Schauprozessen, ein Rassismus gegen | |
Weiße wurde vielerorts attestiert – reichlich dick aufgetragen, wenn man | |
Deuls Text tatsächlich liest. | |
Der katalanische Übersetzer Victor Obiols, der anders als Rijneveld | |
keinesfalls freiwillig vom Übersetzungsauftrag zurücktrat, sondern dem der | |
Auftrag nachträglich vom amerikanischen Agenten Amanda Gormans entzogen | |
wurde, äußert sich da differenzierter. „Wenn ich eine Dichterin nicht | |
übersetzen kann, weil sie eine junge schwarze Frau ist, eine Amerikanerin | |
des 21. Jahrhunderts, kann ich Homer auch nicht übersetzen, weil ich kein | |
Grieche des 8. Jahrhunderts vor Christus bin“, sagt er einerseits. | |
Andererseits meint Obiols aber auch: Die Übersetzung in Zeiten von | |
Identitätspolitik sei „ein sehr kompliziertes Thema, das nicht leichtfertig | |
behandelt werden kann“. Und dem Spiegel sagte er, er sei enttäuscht, aber | |
respektiere die „symbolische Geste“, ihm die Übersetzung wieder abzusagen. | |
Auch aus der deutschen Übersetzerszene, die gut untereinander vernetzt ist | |
und in der die Debatte zum Beispiel auf der Website des Übersetzerprogramms | |
Toledo breit diskutiert wird, hört man differenzierte Stimmen, etwa von | |
Frank Heibert. Wir telefonieren, nachdem der Übersetzer solcher | |
literarischer Größen wie Don DeLillo, Raymond Queneau und [2][Richard | |
Ford], gerade eben ist seine Neuübersetzung von George Orwells Klassiker | |
„1984“ herausgekommen, eine eingehende Auseinandersetzung in der Sache | |
Gorman/Rijneveld im Onlinefeuilleton von Tell-Review veröffentlicht hat. | |
## Nicht reflexhaft nach Identität vergeben | |
In dem Telefonat ist Frank Heibert sehr klar: „Übersetzungen sollten nicht | |
nach Identität vergeben werden, schon gar nicht reflexhaft.“ Das würde der | |
Arbeitserfahrung von Übersetzer*innen, die gerade darin besteht, sich | |
in fremde Perspektiven hineinzuversetzen, diametral entgegenstehen. | |
Jedoch – und bei diesem Jedoch könnten nun die interessanten Debatten | |
anfangen – gilt es von beiden Seiten, also sowohl der Seite des Verlags wie | |
auch der der jeweiligen Übersetzer*in selbst, sehr genau zu überlegen, | |
welche Übersetzer*in für den jeweiligen Text am besten geeignet ist, und | |
bei dieser Entscheidung sind viele Faktoren zu berücksichtigen. | |
Heibert zählt auf: Expertise im jeweiligen Genre ist wichtig. Die Neugier | |
auf den gedanklichen Hintergrund des Textes ebenso. Biografische | |
Hintergründe, die Frage des Geschlechts, das alles kann hineinspielen, | |
und geteilte Erfahrungshintergründe können es eben auch. Frank Heibert | |
spricht in diesem Zusammenhang von „kurzen Einfühlungswegen“. Sie können | |
bei einer Übersetzung helfen. Wobei für Heibert am Schluss die sprachlichen | |
und stilistischen Fertigkeiten und die übersetzerische Kompetenz die | |
ausschlaggebenden Kriterien sind. | |
Alle diese Punkte sind keineswegs neu, und sie haben gar nichts mit | |
Identitätspolitik zu tun, sondern sind das Schwarzbrot sorgfältiger | |
Verlagsarbeit, wie sie im deutschsprachigen Übersetzerwesen – trotz | |
niedriger Bezahlung übrigens – auch vielfach gepflegt wird. | |
## Mangel an übersetzerischer Erfahrung | |
In seinem Text für Tell kommt Frank Heibert nach Abwägung vieler Faktoren | |
nun zu dem Ergebnis, dass Marieke Lucas Rijneveld, fachlich gesehen, | |
tatsächlich „eher nicht“ die richtige Übersetzer*in gewesen wäre: Der | |
29-jährigen niederländischen Auto|r*in, die 2020 mit der englischen | |
Übersetzung ihres Debütromans „The Discomfort of Evening“ den Internation… | |
Booker Prize gewann (Deutsch unter dem Titel „Was man sät“ bei Suhrkamp), | |
fehle es an übersetzerischer Erfahrung. | |
Zudem hat Rijneveld selbst eingeräumt, dass ihr Englisch keineswegs | |
sattelfest ist. Es war eine Promientscheidung, ihr den Übersetzungsauftrag | |
zu geben. | |
Letzteres hat auch Janice Deul gesehen und von da aus die Folgerung | |
gezogen: Wenn schon Promientscheidung, warum dann nicht eine Schwarze | |
Autor*in prominent machen? Der Punkt, den Heibert macht, ist dagegen ein | |
anderer: Gute Übersetzungen brauchen kompetente Übersetzer*innen, und was | |
Kompetenz genau bedeutet, ist im jeweiligen Einzelfall fachlich zu klären, | |
nah dran an dem Text und seinen spezifischen Umständen. | |
Das ist durchaus in Richtung identitätspolitischer Aktivist*innen | |
gesprochen. Aber gleichzeitig auch in Richtung der Mehrheitsgesellschaft. | |
Denn diesen Punkt möchte Heibert nun nicht vor die politische Debatte über | |
Gleichberechtigung und mehr Diversität in der Gesellschaft schieben. „Das | |
Bewusstsein für Diskriminierung ist stärker geworden“, sagt Heibert im | |
Telefongespräch, „es ist wichtig, das umzusetzen.“ Und bei der Frage, wer | |
für welche Übersetzung am besten geeignet ist, ist auch dieses Bewusstsein | |
zu berücksichtigen. | |
## „Mehr Diversität beim Übersetzer-Casting“ | |
Das bedeutet für ihn gleichzeitig, dass Diversität innerhalb der | |
Übersetzerszene ein Thema sein muss. Seinen Tell-Artikel schließt Heibert | |
mit der Wendung: „Gleiche Chancen nicht nur für schwarze, sondern für alle | |
bisher ausgeschlossenen Übersetzer:innen erreichen wir schlicht durch | |
mehr Diversität beim Übersetzer-Casting, und zwar unabhängig von der Frage | |
äquivalenter Identitäten.“ | |
Spätestens an dieser Wendung sieht man, dass sich im Fall Gorman/Rijkeveld | |
zwei unterschiedliche Aspekte überlagern: der konkrete Aspekt, ob die | |
Entscheidung, die Übersetzung anders zu vergeben, angemessen war, und die | |
Bemühungen um angemessene Umgangs- und Sprechweisen in einer Situation, in | |
der der Literaturbetrieb sich für eine Erweiterung der Sprecherpositionen | |
zu öffnen beginnt. | |
Übersetzungskompetenz, Einzelfallprüfung, Diversität, bei diesen | |
Stichworten landet, wer in diesem Fall diese Situation nicht aus dem Blick | |
verlieren möchte. Und womöglich sind das ja auch Punkte, auf die man sich | |
jenseits aller Identitäten einigen kann. | |
Natürlich wird manches im Literaturbetrieb nun komplizierter. Aber nur zur | |
Erinnerung: Es ist noch nicht lange her, dass breit darüber geklagt wurde, | |
dass in der deutschsprachigen Literatur vor allem weiße | |
Mittelstandsperspektiven zu Wort kommen. Da sind die Debatten, die | |
anstehen, vielleicht auch einfach fruchtbarer. | |
30 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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