# taz.de -- Gesammelte Gedichte von Jürgen Becker: Mit jedem Satz eine neue Ze… | |
> An Jürgen Becker orientieren sich derzeit viele bekannte jüngere Lyriker. | |
> Nun erscheinen zu seinem 90. Geburtstag die „Gesammelten Gedichte“. | |
Bild: Fluxus, Kriegsjugend, Gruppe 47: Jürgen Becker wurde am 10. Juli 90 Jahr… | |
Jürgen Becker wurde im Lauf seines Werks immer jünger. Einige der | |
interessantesten neuen Lyriker beziehen sich ausdrücklich auf ihn. Das | |
unterscheidet den am 10. Juli 1932 geborenen Schriftsteller von den meisten | |
seiner Generationskollegen. Becker scheint unmittelbar anschlussfähig an | |
die Gegenwart zu sein. | |
Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass er sein erstes Buch 1960 | |
zusammen mit dem Happening- und Fluxusaktivisten Wolf Vostell bei einer | |
Kölner Galerie veröffentlichte. Es hieß „Phasen“ und entsprach der damals | |
aufbrechenden Suche nach neuen Ausdrucksformen. Becker fand in den | |
Installationen der Bildenden Kunst, in der Abkehr von einem überkommenen | |
bürgerlichen Kunstbegriff die Maßstäbe, um sich auszudrücken. Am ehesten | |
entsprachen ihm die Vorstellungen der „Fluxus“-Bewegung (Fluss, fließen). | |
Für einen Schriftsteller, der in die frühe Bundesrepublik hineinwuchs, war | |
das ziemlich ungewöhnlich. | |
Dass sein Verlag zu seinem 90. Geburtstag „Gesammelte Gedichte“ von ihm | |
vorlegt, ist naheliegend: Gedichte stehen im Zentrum seines Werks. Jürgen | |
Becker hat vergleichsweise spät begonnen, Prosa zu schreiben. Und doch ist | |
die Sache komplizierter. | |
Als er 1971 seinen ersten nominellen Gedichtband „Schnee“ herausbrachte, | |
war er schon ein renommierter Autor, und diese langen Gedichte knüpften | |
unverkennbar an seine Bücher aus den 60er Jahren an, die die Titel „Felder“ | |
und „Ränder“ trugen und programmatisch mit keiner Gattungsbezeichnung | |
versehen waren. Das „Fragment aus Rom“, das „Schnee“ eröffnet, hatte b… | |
Erstdruck noch die Überschrift „Momente – Ränder – Erzähltes – Zitat… | |
verweist damit auf das Prinzip der Collage, der visuellen Techniken, mit | |
denen Becker begonnen hatte. | |
„Schnee“ bezeichnet dennoch einen Neuanfang. 1966 war er bei der | |
repräsentativen Auslandstagung der Gruppe 47 in Princeton von den Kritikern | |
noch entgeistert verrissen worden – zu postmodern, zu uneigentlich | |
erschien ihnen seine Sprache, die sich auf keinen abgestandenen | |
„Realismus“-Begriff mehr einließ und lustvoll stromernd die Wahrnehmung | |
einer Stadt abbildeten, eine Art Bewusstseinstreiben. Ein Jahr später | |
jedoch, auf der letzten Tagung der Gruppe 47, wurde ihm mit ähnlich | |
gelagerten Texten bereits der begehrte Preis der Gruppe zugesprochen, und | |
man konnte das so lesen: Die Gruppe 47 ging, und Jürgen Becker kam. | |
## 70er Jahre als Inkubationszeit | |
„Schnee“ markiert den Beginn dessen, was Becker selbst im Klappentext zu | |
seinem Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“ von 1974 seine Phase | |
der „Entflechtung“ nannte. Er trennte nun die in seinen ersten Büchern noch | |
zusammenschießenden visuellen, akustischen und szenischen Passagen, und das | |
Ergebnis davon waren diese Gedichte. | |
Die 70er Jahre sind für ihn dabei so etwas wie eine Inkubationszeit. Er | |
setzt sich mit dem „multiplen Ich“ auseinander, mit dem seine | |
Schreibbewegungen eingesetzt hatten, er zeigt das Material vor, aus denen | |
seine Gedichte entstehen: das Alltägliche und Zufällige. Charakteristisch | |
für Becker ist, dass die Schrift immer in Zusammenhang mit sinnlichen | |
Reizen steht. Seine Gedichte haben visuelle oder akustische Auslöser, und | |
in dem jeweiligen Augenblick konstituiert sich das konkrete schreibende Ich | |
neu. | |
„Das Ende der Landschaftsmalerei“ setzt ein mit dem „Berliner | |
Programm-Gedicht; 1971“: eine an die Langgedichte der amerikanischen | |
Pop-Art anschließende Wahrnehmungsassoziation, die von der Gegenwart und | |
den Ruinen Westberlins ausgeht. | |
## Büchnerpreis 2014 | |
Es gibt keinen roten Faden, Widersprüchliches steht scheinbar unverbunden | |
nebeneinander. Das aus der Tradition der Naturlyrik stammende klassische | |
Gegenüber von Ich und Welt wird aufgehoben in einer Gleichzeitigkeit | |
unterschiedlicher neuer „Landschaften“, die aus Geschichte, Architektur, | |
Stadtplanung und Straßengeräuschen bestehen. | |
Mit der Zeit drängen sich aber auch Kindheitserinnerungen dazwischen, die | |
Zerstörungen aus Kriegs- und Nachkriegszeit, das Gespür für die | |
„Wahrnehmung der Manipulationen, die sich mit der Sprache anstellen | |
lassen“. So drückte es Jürgen Becker in seiner Dankesrede [1][zum | |
Büchnerpreis 2014] aus. | |
Der Titel des Gedichtbands „Erzähl mir nichts vom Krieg“ von 1977 zeugt | |
davon: Aus den Bewusstseinsprotokollen der unablässig zerstiebenden | |
Gegenwart kristallisieren sich Erinnerungsblöcke heraus. Zunehmend tauchen | |
autobiografische Bruchstücke in Beckers Gedichten auf und treten in neue | |
ästhetische Konstellationen. | |
## Man schreibt nie allein | |
„So allein man sich mit seinen Wörtern beim Schreiben vorkommt, man | |
schreibt niemals allein, irgendeine Art von Wirklichkeit macht immer mit“, | |
sagte Becker 2014. Seine Wirklichkeit besteht unter anderem aus | |
zeitgenössischen Exkursionen in die USA, „In der Nähe von Andy Warhol“, | |
wie ein kurzes Gedicht lautet, aber gleichzeitig auch aus Kindheits- und | |
Jugendszenen. | |
Dass der Rheinländer Becker 1939 im Alter von sieben Jahren mit seiner | |
Familie von Köln nach Erfurt umzog, wo er bis 1947 blieb, bildet die | |
Grundlage für die Thüringer Motive in seinem Werk, die in den Bänden „Das | |
Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ 1988 (das rein biografisch | |
und nicht zeitpolitisch zu lesen ist) und „Foxtrott im Erfurter Stadion“ | |
von 1993 zentral werden. Die Veränderungen seines Schreibens, die sich | |
nicht abrupt, sondern organisch ergaben, entsprachen der Erkenntnis, „dass | |
der fortwährende Bruch mit der Konvention nur zu einer neuen Konvention | |
führt, dass nach aller Destruktion die Leere beginnt. Und mein Schreiben | |
suchte einen Weg, der wieder ins Offene führte.“ | |
## Eingeholt von der Zeit | |
Erst heute scheint Jürgen Becker von der Zeit eingeholt worden zu sein. Für | |
einige der wichtigsten jüngeren Lyriker ist er unverkennbar ein | |
Orientierungspunkt. Die Laudatio zum Büchnerpreis [2][für ihn hielt Lutz | |
Seiler,] das Nachwort zu den „Gesammelten Gedichten“ [3][schrieb jetzt | |
Marion Poschmann]. Beckers Form der visuellen Wahrnehmung reicherte sich im | |
Lauf der Zeit durch die technisch-digitalen Möglichkeiten an, die er | |
bereits in den 60er Jahren im Blickfeld hatte. In seinen Gedichten wird | |
mitreflektiert, wie unzuverlässig die unmittelbare Wahrnehmung ist und dass | |
man sich besser nicht auf sie allein verlassen sollte. Dieser Lyriker weiß | |
um die riesigen Räume ohne Wörter | |
Den Vorsatz, die Widersprüche und Gleichzeitigkeiten im Kopf zum Vorschein | |
zu bringen, befolgt Becker bis heute. Im Gedichtband „Dorfrand mit | |
Tankstelle“ von 2007 heißt es einmal: „Mit jedem Satz / beginnt eine andere | |
Zeit“, und in seinen „Journalgedichten“, die er mit den Jahren | |
vorangetrieben hat, wird das auf den Punkt gebracht. | |
Zu seinem 90. Geburtstag erscheint der neue Band „Die Rückkehr der | |
Gewohnheiten“, der gleichzeitig auch schon in die „Gesammelten Gedichte“ | |
mitaufgenommen wurde – ein abgründig-ironischer Blick auf Zeitgeschichte | |
und Lebensalter. Hier ist die Phase der „Entflechtung“ in etwas Anderes | |
übergegangen, die Gedichte spielen mit den Erfahrungen und den Materialien. | |
Immer wieder ist es Jürgen Becker gelungen, sich „vom Schweigen zu | |
trennen“, wie er es selbst sagt. Und es ist eine große Kunst – dieser | |
Dichter hat es konsequent bis in die Gegenwart fortgeführt –, nicht | |
„sprachlos gemacht zu sein von den Verstörungen, die der Geräuschfilm der | |
Realität im Kopf hinterlässt“. | |
11 Jul 2022 | |
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[1] /Buechner-Preis-fuer-Juergen-Becker/!5041118 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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