# taz.de -- Lutz Seilers Wenderoman „Stern 111“: Die gute alte Schwärze | |
> Woher kommt der innere Druck, das Gefühl des Nichtgenügens? Lutz Seilers | |
> großer Wenderoman „Stern 111“ entwirft ein ostdeutsches Großpanorama. | |
Bild: Zum Oranienburger, heute Meilenstein, Mai 1989. | |
So beginnt sie, die Reise des Carl Bischoff: „Es war, als würde sich die | |
Welt in einem äußerst sensiblen, schwebenden Zustand befinden, als hätte | |
man gerade begonnen zu existieren.“ Und tatsächlich, zwischenweltlich | |
fühlen sie sich an, diese rasanten Jahre nach dem Fall der Mauer. In Gera, | |
wo Carl herkommt, aber vor allem in diesem Berlin, wo es ihn hinzieht. | |
Der Thüringer Carl, Mitte zwanzig, macht es wie alle anderen: Er wird | |
versuchen, Berlin zu umarmen. Doch die Stadt, in der gerade die [1][alten | |
Gesetze außer Kraft gesetzt sind und neue noch nicht wirken], sperrt sich. | |
Berlin braucht diesen Carl Bischoff nicht. Berlin kennt sich wie stets nur | |
selbst. | |
„Stern 111“, dieser große, über 500 Seiten starke Roman, greift das | |
Odysseus-Motiv der Adoleszenz auf. Sein Autor Lutz Seiler – Dichter | |
ostdeutscher Herkunft und 2014 Gewinner des Deutschen Buchpreises für | |
seinen Hiddensee-Roman „Kruso“ – lässt seinem Helden und dessen Reise vi… | |
Raum. | |
Er führt Carl Bischoff hinab zu existenziellen Abgründen, hinweg über lange | |
Ebenen des somnambul Grüblerischen und sexuell Erfahrbaren hin zu mitunter | |
euphorischem Gemüt. Er scheut nicht zurück vor großen und auch niederen | |
Gefühlen, vor sozialen Chiffren des Punk und dem politisch Unverbundenen. | |
Auch nicht vor all dem, was ein Mensch an familiärem Gepäck bei sich trägt. | |
Denn Carl Bischoff ist ein verlassenes Kind. Seine Eltern, die hier nicht | |
Mama/Papa oder Mutti/Vati heißen, sondern Inge und Walter (Jens?), haben | |
ihren halberwachsenen Sohn zurückgelassen in dem, was bis eben noch die DDR | |
war. Sie selbst wagen tapfer die „Auswanderung“ gen Westen, während sie | |
Carl-dem-Kind auftragen, im Thüringischen „die Nachhut“ zu bilden. | |
Seiler verdreht hier gekonnt die tatsächlichen Verhältnisse der Neunziger, | |
indem er die Eltern die neue, unbekannte Außenwelt erobern, sie die Insel | |
DDR verlassen lässt, während der einzige Nachkomme bleibt und dabei | |
durchlebt, was diese sogenannte Wende für jeden Dagebliebenen bedeutet hat. | |
Er formt aus Inge und Walter ein Entdeckerpaar, das tief ins Hessische, | |
sogar Transkontinentale vordringt, wo die Leben des Westens dicht | |
konserviert sind, unberührt bleibend von den Vorgängen im für sie fernen | |
Osten. | |
Die Erlebnisse der beiden Bischoff-Eltern, ihres tapferen Gleichmuts selbst | |
in Momenten von Gefahr und Demütigung, hätten ein eigenes Buch getragen. | |
Aber aus dem Wechsel der innerfamiliären Perspektive ergibt sich eine | |
enorme Spannung, die selbst über Carls langatmige Selbstbespiegelungen | |
nahezu knausgardschen Ausmaßes tragen. | |
Stets möchte man wissen, wie es weitergeht, was das bis ganz zum Schluss | |
gehütete Geheimnis von Inge und Walter ist. Man möchte dabei sein, wenn | |
Carl sich erinnert an diese, seine Familie, „die kleinste Zelle der | |
Gesellschaft“, wie es das Familiengesetzbuch der DDR einst formuliert hat. | |
## Keine Rettung in Berlin | |
Woher kommt der innere Druck, das Gefühl des Nichtgenügens, des unbedingt | |
zu erbringenden Nachweises von Zuverlässigkeit und Gesehenwerden. Lutz | |
Seiler nutzt die Gelegenheit seines ostdeutschen Großpanoramas nicht nur, | |
um Zeugnis abzulegen. Er bohrt tief in den Urgrund dieses verblichenen | |
Landes und seiner Menschen. Immer wieder tut das weh. Immer wieder fördert | |
er Verschüttetes zutage. | |
Carl, der den elterlicherseits zugewiesenen, einsamen Posten in Gera | |
alsbald räumt, macht sich also auf nach Berlin. Ihn trägt das diffuse | |
Gefühl, hier zu finden, was ihn ausmachen, tragen könnte. Schnell wird ihm | |
klar, „dass er niemanden kannte in Berlin, er kannte nur ein paar Gedichte, | |
die hier geschrieben worden waren, und nichts anderes hatte den Ausschlag | |
gegeben“. | |
Carl Bischoff, überdeutliches Alter Ego des Dichters Lutz Seiler, folgt | |
hier nichts anderem als jenem rauen Sirenenruf Berlins, den so viele seit | |
Generationen vernehmen. Diese Stadt ist so verheißungsvoll wie abstoßend, | |
so verlockend wie brutal. In jenen Nachwendejahren jedoch zeigt sie sich | |
kurz formbar – politisch wie privat. | |
Der gelernte Maurer Carl gerät an eine Bande, das „kluge Rudel“. Unschwer | |
sind reale Personen zu erkennen, die seinerzeit diese kurze freidrehende | |
Berliner Phase stadtpolitisch und habituell geprägt haben. Seiler ordnet | |
sie als Personal an, er führt seine Leser ihnen zur Seite durch Mitte und | |
Prenzlauer Berg – dorthin, wo Utopien von Selbstverwaltung und Gleichheit, | |
aber auch von Verteilungspolitik und Seelenwanderung durchgespielt werden. | |
## Frei im Limbus schweben | |
Der Westen, die große Politik, das neue Geld – nichts davon berührt Carls | |
Leben auf der Insel Ostberlin. Er nennt und schildert die einschlägigen | |
Kneipen, Klubs und Bars, die besetzten Häuser und Straßenzüge, die | |
scheinbar frei im vorkapitalistischen Limbus schweben. | |
Schon sehr bald werden sie wieder eingefangen sein, wird sich die | |
Stadtgesellschaft wieder teilen in Gewinner und Verlierer. Aber noch – eine | |
Schrecksekunde der deutschen Geschichte lang – scheint hier in den | |
verwinkelten Hinterhöfen, den Seitenstraßen und Kellerklubs schier alles | |
möglich. | |
Wie ein zufälliger Gast drückt sich Carl am Rande dieser Ereignisse | |
entlang. Vieles widerfährt ihm, vieles lässt er sich zuteilen, zu oft | |
bringt er es nicht fertig, sich zu behaupten. Etwa wenn es um seine große | |
Liebe Effi geht. Die Geschichte vom Einzelgänger Carl und der | |
alleinerziehenden Effi und deren Kind Freddy steht exemplarisch für diese | |
Jahre, in denen aus der „kleinsten Zelle der Gesellschaft“ eine Welt der | |
Optionen wird. | |
Der schrullige Carl begreift nicht, dass Elternschaft, auch | |
Co-Elternschaft, stets konkret ist. Dass ein Kind nicht zur lyrischen | |
Oberfläche taugt und dass die Mutter mit Öffnung der Grenzen mehr hat als | |
nur eine oder zwei Möglichkeiten, ihr Leben zu wenden. Die missglückende | |
Liebe dieser beiden Suchenden hat auf beiden Seiten etwas Bedürftiges, ganz | |
zart in all seiner Vergeblichkeit. | |
## Die Zeit der Träume endet | |
Mit Effis Flucht aus Berlin endet auch die Odyssee des Carl Bischoff. Die | |
Zeit der Träume, der sich öffnenden Fenster endet. Aus dem Besetzer wird | |
ein Mieter, aus dem Dichter ein Autor, aus dem Jüngling ein Mann. Der | |
Kapitalismus beendet die kurze Phase der Anarchie; Berlin, diese trotzige | |
Stadt, wird verteilt. | |
Carl beginnt das gerade erst zu begreifen, und er beschließt, „vernünftig“ | |
zu werden. In einer der letzten Szenen steht Carl Bischoff im Prenzlauer | |
Berg. Wo eben noch die Kohleöfen rauchten und die Außenklos im Winter | |
einfroren, sind die ersten sanierten Häuser zu besichtigen. „Ihre absurde, | |
im Grau der Straße surreale Helligkeit (beige, gelb oder ockerfarben) | |
blendete die Augen und überbrachte die Botschaft einer kommenden Zeit, in | |
der es keinen Platz mehr geben würde für die gute alte Schwärze.“ | |
Berührender als Lutz „Carl“ Seiler hat sehr lange niemand mehr von diesen | |
nebligen, von anderen Dichtern zig mal in grellen Farben übertünchten | |
Jahren erzählt. | |
10 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Geschichte-der-Berliner-Clubkultur/!5066854/ | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
## TAGS | |
Literatur | |
Mauerfall | |
Berlin | |
deutsche Literatur | |
Jenny Erpenbeck | |
Literatur | |
Literatur | |
Literatur | |
Westberlin | |
Hiddensee | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Georg-Büchner-Preis für Lutz Seiler: Unverwechselbare Stimme geehrt | |
Der Ostthüringer Autor Lutz Seiler wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 | |
ausgezeichnet. In seinem Werk verarbeitet er die Erfahrungen der Wendezeit. | |
Roman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck: Nachhaltige Blindheit | |
Die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck hat den International Booker Prize | |
gewonnen. Ihren Roman „Kairos“ hat die taz 2021 rezensiert. | |
Familienroman von Alena Schröder: Das emotionale Erbe | |
Alena Schröder erzählt von Müttern, Frauen, Töchtern, Wahlfamilien. Dabei | |
hakt sich ihr Roman temporeich bei Irmgard Keun und Vicky Baum unter. | |
Ostdeutsche Familiengespräche: Born in the GDR | |
Für ihr Buch „Die anderen Leben“ haben die Autorinnen ostdeutsche | |
Familiengespräche aufgezeichnet. Es geht um Erfahrungen und Brüche im | |
Leben. | |
Paula Irmschlers Roman „Superbusen“: Innenansichten aus Chemnitz | |
Paula Irmschler erzählt in ihrem Romandebüt „Superbusen“ vom Alltag mit | |
Nazis im Osten, der Waffe der Ironie – und der Kraft der Musik. | |
Das West-Berliner Café Mitropa wird 40: Die Tage und Nächte der Achtziger | |
Blixa Bargeld war da, David Bowie auch? Die grelle Coolness des Café | |
Mitropa war typisch für das New-Wave-West-Berlin der Achtzigerjahre. | |
Roman über die Wendezeit: Utopia in Seepferdchenform | |
„Kruso“ ist ein Stück Ostpoesie: Der Autor Lutz Seiler nutzt die | |
Weltliteratur als Schutzmantel und schreibt das richtige Buch zur falschen | |
Zeit. |