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# taz.de -- Das West-Berliner Café Mitropa wird 40: Die Tage und Nächte der A…
> Blixa Bargeld war da, David Bowie auch? Die grelle Coolness des Café
> Mitropa war typisch für das New-Wave-West-Berlin der Achtzigerjahre.
Bild: Blixa Bargeld mit Eltern. Hinten Esther Colton, fotografische Chronistin …
Angesichts der Kneipenschwemme, mit der uns Gastro-City Berlin verwöhnt,
wäre ein weiteres Kneipenjubiläum nicht weiter der Rede wert, ginge es
nicht um das Café Mitropa in Schöneberg. Das Mitropa gehört zu jenen
Westberliner Szenekneipen, die ihre eigene kleine Kulturgeschichte
schreiben. [1][Treffs wie Exil, Ax Bax, Paris Bar, Dschungel, SO 36, Café
Einstein und eben das Café Mitropa] waren im Westberlin der 1970er und
1980er kulturelle Keimzellen.
Wim Wenders, die Einstürzenden Neubauten, Malaria und viele mehr schlürften
im Mitropa ihren Milchkaffee, viele Berliner Szenegrößen von morgen
stärkten sich hier mit einem Katerfrühstück. Das Café machte die
Schöneberger Goltzstraße zur Flaniermeile des Undergrounds. Man brauchte
bei schönem Wetter nur zwei Stunden vor dem Café sitzen und bekam ein
Sommertheater geboten, jedes Ego ein Darsteller. Eine Handvoll Gäste aus
der Anfangszeit kommt noch heute.
Sechs Studenten, allen voran Michaela Buescher, die heute als
Allgemeinärztin in Zehlendorf praktiziert, designten 1979 ein für damalige
Verhältnisse avantgardistisches Café mit dem Charme einer italienischen
Eisdiele. „Einen Laden machen, das war das Ding. Es ging um
Selbstverwirklichung. Nicht um Geldverdienen. Unsere Kasse war eine
Holzschublade. Da kam der Umsatz rein, und am Ende einer Schicht nahm sich
jede/jeder den Lohn raus. Das war Kollektivdenken, wie es anfangs auch die
Leute vom Dschungel-Kollektiv umsetzten“, erinnert sich Buescher vierzig
Jahre später am Telefon beim Bergsteigen in Bayern, leicht außer Atem.
„In Italien hatte mich das Helle inspiriert, die Frische. Weg mit dem
Sumpfigen und Schlampigen“, war Bueschers ästhetisches Anliegen: kalkweiße
Wände, Metallmöbel auf schwarz-rotem Mosaikfußboden, ausgeleuchtet mit
gleißenden Neonringen unter der Decke. Nach dem Omaplüsch und den indischen
Teppichen der Seventies kam die grelle Kühle des Interieurs cool rüber.
Mitropa war der Name der Speisewagengesellschaft der DDR-Reichsbahn,
berüchtigt für karge Menüs, das klang auch cool in der Mauerstadt.
Allerdings war auch die Küche des Café Mitropa nicht weit entfernt vom
Original. Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten schüttelt es
heute noch, wenn er sich an den „gefürchteten Hühnersalat“ erinnert.
Andererseits läuft ihm aber heute noch das Wasser im Munde zusammen bei der
Erinnerung an die Rumkugel-großen Energiebällchen mit Kokossplittern: „Die
konnten uns die Barmädchen unauffällig in der hohlen Hand rüberreichen,
wenn wir Hunger hatten und keine Kohle“, erzählt er weiter. Einen Steinwurf
entfernt war der Winterfeldtplatz, Kampfgebiet der Hausbesetzer, mit dem
Ur-Dschungel (heute Slumberland) und der Ruine als Nachtstationen.
## Der Zensor liefert die Platten
Ich selbst bewohnte seinerzeit mit Rio Reiser eine Ladenwohnung in der
Belziger Straße 23, direkt neben dem zur selben Zeit wie das Mitropa
eröffneten Plattenladen Zensor von Burkhardt Seiler, der mit seinen aus
Großbritannien und den USA importierten Schallplatten ein weiterer
wichtiger Anlaufplatz der Szene war. In meinem Schlafzimmer wurde ich
tagsüber oft aufgeweckt, wenn Burkhardt seine Vorspielscheiben so laut
aufdrehte, dass es durch den Hinterhof schallte. Wenn mir ein Sound gefiel,
rannte ich rüber in seinen Laden und kaufte die Platte.
Denn nachts legte ich als DJ im Moon auf (heute Rickenbacker’s an der
Bundesallee), wo Mania D. und die Einstürzenden Neubauten zum ersten Mal
auftraten. Seiler war auch der Lieferant für die Mucke, die im Mitropa
lief.
## Die Barschlampen waren die Kings
Kassetten waren das Ding. Nicht nur John Peels Sendungen schnitten wir mit,
die man im britischen Soldatensender BFBS hören konnte. Auch überspielten
wir Zensors Singles und mixten uns unsere eigenen Tapes zusammen. „Die
jeweiligen Barschlampen waren ja immer die Kings in unseren Kneipen“,
erzählt Hacke im Café M, „weil sie die Hoheit über den Kassettenrekorder
hatten.“ Jeder Barkeeper war eine anerkannte Persönlichkeit, die sie oder
er nicht nur durch das eigene Outfit, sondern auch mit dem Abspielen
eigener Kassetten in Szene setzte.
Dutzende von Barfrauen-Persönlichkeiten wie die Französin Dinah Leipzig
haben im Mitropa Schichten geschoben. Therese, Gunda, Wee Flowers,
Patrizia, Ulla, Bea, Mo Asumang. „Abends haben wir ihnen geholfen, die
Stühle reinzuholen, das war unser Kavaliersdienst“, sagt Alexander Hacke.
## Ein Sandkasten für junge New Waver
Das gestylte Mitropa zog alle sofort an. Es war unser Wohnzimmer, ein
Spielzimmer für Selbstverwirklicher, ein Sandkasten für junge New Waver,
die noch etwas weiterspielen wollten, und für viele Familienersatz. Die
Künstlerkandidaten saßen im Startloch, es war ein kreatives Abhängen, bei
dem im Rausch Pläne geschmiedet, Ideen geboren – und umgesetzt wurden.
Das Café war auch Künstlergarderobe. Experimentelle Kostümierungen führten
wir coram publico vor. Plastik in allen Ausführungen war das Material der
Stunde. Hacke schreibt in seiner Autobiografie „Krach“ darüber: „Ein Herr
namens Blixa Bargeld machte aus jedem Erscheinen im Café eine Performance,
indem er mit einer Schweißerbrille auf der Nase verkündete: ‚Ich bin eine
Fliege.‘ Oder indem er eine Cola mit Vanille-Eis mit einem Croissant zum
Stippen bestellte.“
## Flirts, Amouren, Trennungen
Die Lauten und die Stillen checkten einander ab, Flirts, Amouren,
Trennungen, Dramen spielten sich ab – das ganze Programm. Poser hatten ihre
kleinen und großen Auftritte, fuhren auf dicken Maschinen vor.
Zeitgenossen, die bereits ein paar Sprossen ihrer Karriereleiter
erklommen hatten, parkten ihre Oldtimer vorm Mitropa. Wie schick war doch
der alte rote Volvo vom ZDF-Kollegen Bernd Kungel. „Den fahr ich heute
noch“, sagt er bescheiden.
„Es war die Stimmung ‚Kalter Krieg‘ und niemand wusste so recht ob es doch
noch knallt, sodass immer eine Endzeitstimmung in der Luft lag“, schrieb
die Künstlerin Betty Stürmer über die West-Berliner Szenerie in ihrem
autobiographischen Buch „Szenegirl“, das im vergangenen Jahr erschienen
ist.
## Milchkaffee aus weißen Porzellanschalen
Im Mitropa begannen wir die Tage der achtziger Jahre und beendeten sie auch
– bevor wir weiter in die Nacht zogen. Jede Nacht. Um dann morgens nach
durchzechten Dschungel-Nächten vor der Mitropa-Tür zu warten, bis endlich
aufgeschlossen wurde: Milchkaffee! Aus weißen Porzellanschalen.
Die Mitteleuropäische Reisegesellschaft erhob bald Einspruch gegen die
Verwendung ihres Namens, der auf den Speisewagen der Reichsbahnen prankte.
Die Studenten, die den Laden eröffnet hatten, übergaben nach drei Jahren an
die Wirte Erwin und Werner, und fortan hieß das Mitropa „Café M“, bis
heute. „‚itropa‘ hätte ich witziger gefunden“, findet Alexander Hacke
rückblickend.
## Werner fickt Anna
„Einmal hatte jemand ‚Werner fickt Anna‘ auf den Zigarettenautomaten
gesprayt. Wirt Werner beauftragte Thierry Noir, Kiddy Citny, Oliver Schunt
und mich damit, mehr Graffiti auf die Wände zu sprühen, damit besagter
Spruch darin untergehe. Unsere Aktion entglitt uns zu einem Desaster, wir
warfen Farben, ich hatte Angst um meine Cowboystiefel und riss barfuß
Mosaike aus dem Boden. Wir haben den ganzen Laden versaut. Jedenfalls
musste danach der Laden komplett renoviert werden. Aber Thierry bekam dabei
vermutlich auf LSD seine Idee für sein späteres Markenzeichen, die
Schwulstlippen auf der Berliner Mauer“, erzählt Hacke weiter.
Der Schriftsteller Bernd Cailloux vertrat als Stammgast die schreibende
Zunft im Mitropa. Die angehenden Maler, Musiker und Filme saßen alle je
nach Fakultät getrennt an den Tischen, hat er beobachtet. Dass er selbst im
Intro der Café-Speisekarte Erwähnung gefunden hat, freut den Autor „fast so
wie ein Literaturpreis“.
## War Bowie da?
Padeluun, der es bis in den Bundestag geschafft hat, organisierte 1980 das
legendäre „Alle Macht der Super 8“ im Mitropa. Mit dabei: Super-8-Pionier
Knut Hoffmeister, damals Assistent von Martin Kippenberger. Von ihm gibt’s
[2][Mitropa-Filmaufnahmen auf YouTube] zu sehen. Mitropa-Gründerin Michaela
Buescher studierte damals selbst Film und drehte mit Patienten in einer
Münchner Psychiatrie.
„Gott ist tot“, schmetterte Nina Hagen seinerzeit, „the Lord ist fort.“…
war auf David Bowie gemünzt, der einer unserer Götter war. Und auch heute,
fast vier Jahre nach Bowies Tod treibt einige junge Gäste im Café M noch
die Frage um: War Bowie Gast im Café Mitropa? „Nö“, sagt Alexander Hacke,
„nie gesehen.“ Bernd Cailloux widerspricht: „Natürlich war der da!“
## Der Blätterer nervte Gäste mit der taz
Und heute? Entspannt sitzt eine neue Generation Stammgäste im Café M.
Michael, ein Architekt, bemalt hier seit zehn Jahren weiße Blätter
kunstvoll mit Schriften, dreißigtausend sind es schon. Ein Gästeschreck
namens Falco kommt manchmal in Uniform. Als Hauptmann von Köpenick. Im
Mitropa wurden auch schräge Gestalten wie der „General“ lokalprominent.
Oder „Der Blätterer“, wie sich Ex-Kommunardin Antje Krüger erinnert. Der
Blätterer nervte Gäste mit „Windmachen“ beim Durchblättern der taz, die …
M noch heute ausliegt. Oder der freiwillige Gläserabräumer, ein hinkender
Travestie-Berber, der gut zielen konnte: Hin und wieder bewarf er aus
weiter Distanz Gäste mit Zuckerstückchen.
„Als wir vor zehn Jahren das Café übernahmen“, erzählt die derzeitige
Wirtin Lina, „klebte noch ein Zettel unterm Tresen mit den Namen dreier
Psychotherapeuten, die ich rufen sollte,wenn die- oder derjenige
durchdreht.“ Derweil versucht ihr Freund, Falco zu überreden, dem Café doch
für eine Weile fernzubleiben.
4 Sep 2019
## LINKS
[1] /Der-Zeichner-und-Wirt-Michel-Wuerthle/!5531933
[2] https://youtu.be/Cx_i2MxEBwg?t=248
## AUTOREN
Guido Schirmeyer
## TAGS
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