| # taz.de -- Neues Buch „Fleischers Blues“: Kohlenheizung in der Mauerstadt | |
| > Volker Hauptvogel zeichnet ein Sittengemälde der späten 1970er Jahre in | |
| > Westberlin. Er erzählt alles und nichts – so muss es damals gewesen sein. | |
| Bild: Der eigene Horizont endete für die Personen in Hauptvogels Roman an der … | |
| Würde Fleischer, der Held aus Volker Hauptvogels Roman „Fleischers Blues“, | |
| heute aus der Provinz nach Berlin ziehen, sein Lebensentwurf sähe wohl | |
| anders aus als in diesem Buch. Darin zeichnet Hauptvogel ein Sittengemälde | |
| der späten Siebziger im Mauerstadtberlin. Den Alltag und das Leben | |
| permanent zu improvisieren, ohne groß an Morgen zu denken, wie das die | |
| Romanfigur Fleischer tut – rein zeitgeistmäßig ist das heute nicht mehr so | |
| angesagt und wird immer schwieriger in der deutschen Hauptstadt. | |
| Fleischer kommt nicht nach Berlin, um einer geregelten Arbeit nachzugehen, | |
| sondern um sich irgendwie durchzuschlagen. Da das Geld zunächst knapp ist, | |
| reicht ihm auch ein billiges Loch mit Kohlenheizung in Kreuzberg. Eine | |
| solche Möglichkeit zu sparen würde sich ihm in diesem Kiez heute wohl kaum | |
| mehr bieten. | |
| Wie Wolfgang Müller in seinem Sachbuch „Subkultur Westberlin 1979–1989“ … | |
| Mark Reeder in der Filmdoku „B-Movie“ bietet auch der Roman „Fleischers | |
| Blues“ einen autobiografisch gefärbten Blick auf das untergegangene Biotop | |
| Westberlin und führt ein in die Welt der Freaks und Lebenskünstler, die | |
| sich damals, Ende der Siebziger, in der Mauerstadt einrichteten, in der | |
| Zeit der RAF, des Kalten Kriegs und von Punk. | |
| Wie Sven Regeners Herr Lehmann ist auch Fleischer eher daran interessiert, | |
| sich in der Kneipe volllaufen zu lassen, als sein Leben ernsthaft zu | |
| regeln, allein den Fall der Mauer wird er, anders als Herr Lehmann, nicht | |
| mehr mitbekommen, die Geschichte von Fleischer lässt Volker Hauptmann | |
| bereits 1981 enden. Allerdings hat der Autor bereits angekündigt, er könne | |
| sich gut vorstellen, das Leben von Fleischer fortzuerzählen, auch die | |
| gesammelten Abenteuer des Herrn Lehmann liegen ja immerhin als Buchtrilogie | |
| vor. | |
| ## Kiffen, saufen | |
| Fleischer ist natürlich Volker Hauptvogel selbst. Es ist sein Leben, von | |
| dem er da in Romanform berichtet, und es ist interessant genug, erzählt zu | |
| werden. Punkmusiker, Kneipier, Gastronom, Schauspieler, Hauptvogel hat so | |
| einiges ausprobiert, um sich über Wasser zu halten. Dauerhafter Erfolg | |
| scheint dabei nie sein Ziel gewesen zu sein, dafür fehlte ihm wohl die | |
| Anpassungsfähigkeit. Auch heute, im Alter von 60 Jahren, nennt er sich | |
| selbst immer noch einen hedonistischen Anarcho-Syndikalisten, keinen der | |
| reinen Lehre, sondern dem guten Essen und Vergnügungen aller Art ziemlich | |
| zugetan. | |
| Unter all den Szenegestalten dieser Ära, die spätestens seit dem | |
| Oral-History-Buch „Verschwende Deine Jugend“ in allerlei Rückbetrachtungen | |
| verkultet werden, steht er eher in zweiter oder dritter Reihe oder kommt | |
| gleich gar nicht vor. Blixa Bargeld, Ratten-Jenny und Martin Kippenberger | |
| fehlen in keiner Erinnerung an die Zeit, in der man noch im „Dschungel“ | |
| verkehrte, der eigene Horizont an der Berliner Mauer endete und David Bowie | |
| mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr – auch in „Fleischers Blues“ tritt | |
| dieses Personal natürlich wieder auf. Derweil aber schien Volker Hauptvogel | |
| vergessen, auch wenn man ihn heute gelegentlich den ersten echten Punk | |
| Berlins nennt. Das Desinteresse liegt wohl darin begründet, dass seine Band | |
| Mekanïk Destruktïw Kommandöh so gut wie unbekannt blieb, auch wenn | |
| Hauptvogel seit Kurzem wieder mit dieser Konzerte gibt. | |
| In seiner eigenen Biografie gibt es keine Verstetigung von irgendwas, | |
| dementsprechend hat er seinen Fleischer auch angelegt. Der wird Mitte der | |
| Siebziger nach Berlin gespült, weil er der Wehrpflicht entgehen möchte. | |
| Zwischen Kreuzberg und Schöneberg verkehrt er in der subkulturellen Szene | |
| der Stadt, kifft und säuft viel, um am nächsten Tag den Kater zu kurieren. | |
| Zwischendurch geht er allerlei krummen Geschäften nach und versucht, | |
| jemanden zum Vögeln klarzumachen. Außerdem muss er sich mit den Bullen | |
| herumprügeln, und wenn ihm danach ist, mischt er eine Feministinnenrunde | |
| mit seinem Macho-Getue auf. | |
| ## Irgendwann passiert Punk | |
| Eine wirklich stringente Handlung muss man in „Fleischers Blues“ nicht | |
| erwarten, alles geht schön durcheinander, atemlos, ohne Klimax und roten | |
| Faden. Irgendwann sucht sich Fleischer einen bürgerlichen Job als Drucker, | |
| was jedoch nicht bedeutet, dass er dadurch weniger seinem Erlebnishunger | |
| nachgehen würde. | |
| Irgendwann passiert Punk; nichts scheint mehr wie vorher, die langen Haare | |
| müssen ab, der Bluesrock gehört in die Mülltonne, ein paar neue Platten aus | |
| England verändern ganz Westberlin. Hauptvogel beschreibt den Moment, in dem | |
| der Punk in Fleischers Leben tritt wie eine Epiphanie. Nun muss erst mal | |
| eine Band gegründet werden. Aber auch diese Euphorie geht schnell wieder | |
| vorüber, der Ton in Hauptvogels Roman bleibt bis zum Schluss eher grau als | |
| bunt, so bahnbrechend hat Punk das Leben von Fleischer dann auch wieder | |
| nicht verändert. | |
| Und irgendwann ist der Roman dann einfach zu Ende. Ohne Cliffhänger, aber | |
| doch so, dass er geradezu nach einer Fortsetzung verlangt. Erzählt wurde | |
| bis dahin alles und nichts, ohne echte Struktur, ohne Plan. Aber genauso | |
| muss es eben damals gewesen sein in Westberlin. | |
| 16 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hartmann | |
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