| # taz.de -- 30 Jahre Linie 1 am Grips-Theater: Sie rollt und rollt und rollt | |
| > Das legendäre Musical „Linie 1“ feiert 30. Geburtstag. Doch wie aktuell | |
| > ist der Dauerbrenner wirklich? | |
| Bild: So sah es 1986 in der Linie 1 aus | |
| Im April 1986 war in Westberlin mal wieder schwer was los: Auf die von GIs | |
| besuchte Diskothek „La Belle“ wird ein Terroranschlag verübt. Drei Berliner | |
| Senatoren, darunter Rechtsaußen Heinrich Lummer (CDU), müssen wegen des | |
| Antes-Bestechungsskandals zurücktreten. Das Atomkraftwerk in Tschernobyl | |
| explodiert, über Berlin geht radioaktiver Regen nieder. Und „Linie 1“ hat | |
| am Grips-Theater Premiere. Aber spielt das wirklich eine Rolle? | |
| Auf der kulturellen Weltbühne macht heute wohl niemand der am 30. April | |
| 1986 am Hansa-Platz gestarteten „Linie 1“ ihren Rang streitig. Die | |
| Geschichte vom naiven Landei, das seinem Rockidol nachreist und in der | |
| Kreuzberger U-Bahn-Linie 1 die irrsten Typen der Großstadt kennenlernt, | |
| „rockt“ noch immer das Publikum. Nach 30 Jahren Dauerpendeln zwischen | |
| Bahnhof Zoo und Schlesischem Tor in 1.730 Aufführungen und rund 620.000 | |
| Besuchern, mit Adaptionen in über 20 Ländern und drei Millionen Zuschauern | |
| ist das Stück von Grips-Chef Volker Ludwig und dem Komponisten Birger | |
| Heymann ein Theaterklassiker wie Brechts „Dreigroschenoper“ geworden. | |
| Dabei wäre es falsch, „Linie 1“ als Zufallsgröße in der deutschen | |
| Theatergeschichte einzuordnen. Ludwig hat 1986 sehr genau den besonderen | |
| Rhythmus Berlins, den politischen und sozialen „Spirit“ Kreuzbergs in Szene | |
| gesetzt und die Handlung als rasante, moderne Revue inszeniert. Was mit | |
| dazu beitrug, die Bühnen in Deutschland zu revolutionieren. Chapeau! | |
| Ohne diesen Erfolg schmälern zu wollen, stellt sich nach 30 Jahren die | |
| Frage der Aktualität, wo doch der schrullige Bahnhof Zoo längst vom | |
| Hauptbahnhof abgelöst und die U1-Strecke geändert wurde? Der | |
| „Orientexpress“ rumpelt heute durch Neukölln. Die Wilmersdorfer Witwen sind | |
| ausgestorben, und wer seinen Boyfriend sucht, macht das besser übers | |
| Internet statt per U-Bahn. Berlin hat sich verändert. Aber warum rollt und | |
| rollt und rollt die „Linie 1“ so weiter wie früher, als wären auf der | |
| Strecke alle Haltesignale abgeschraubt worden? | |
| Sicher, in all den Jahren hat Ludwig die Fassungen überarbeitet, hat „haste | |
| mal ne Mark“, die Mauer sowie andere historisch obsolete Szenen gestrichen | |
| und neue dazuerfunden. Der Erstbesetzung mit Janette Rauch sind – bis auf | |
| Dietrich Lehmann, der stur die Witwe Lotti, den Hermann und andere Ekel | |
| spielt – andere Schauspieler gefolgt. Ludwig meint, relevant sei die „Linie | |
| 1“, weil es „die Figuren heute noch gibt. Es gibt immer Mädchen, die von zu | |
| Hause abhauen“, in der U-Bahn hängen bleiben und dort ihr Großstadtmärchen | |
| erleben. Von diesem „Lebensgefühl“ erzähle das Stück, das Publikum könne | |
| sich bis dato damit identifizieren. | |
| Ehrlicherweise sollte man aber bekennen, dass die „Linie 1“ auch aus der | |
| Zeit gefallen daherkommt. Was nicht an Lehmann liegt. Der Anachronismus | |
| besteht darin, dass mit fast schon nostalgischem Gefühl und Charme an eine | |
| linke Geschichte der Stadt, die Skurrilität Berlins vor dem Mauerfall | |
| erinnert wird, ohne dies zu reflektieren, zu verfremden. Neuerdings gibt es | |
| sogar wieder Aufführungen im Original von 1986. „Linie 1“ ist in sich | |
| selbst verliebt – und erstarrt. Damit läuft das Stück Gefahr, selbst ein | |
| Mythos zu werden und im Theatermuseum zu enden. Es hätte sich gewissermaßen | |
| ausgerollt, was schade wäre. | |
| 29 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Rolf Lautenschläger | |
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