# taz.de -- Mauerfall-Roman „Kaltes Wasser“: Sex, Geld und Lügen | |
> In seinem neuen Roman erzählt Jakob Hein den sagenhaften Aufstieg und | |
> Fall eines fantasievollen Ostberliner Hochstaplers. | |
Bild: Der Fall der Mauer – ein wichtiger Wendepunkt für den Protagonisten in… | |
Eigentlich wollten die Ossis nur Bananen und Marlboros. Deshalb fiel die | |
Mauer. | |
Mein Deutschlehrer hatte so seine Theorien über die ehemalige Zone, wie das | |
damals bei uns, im früheren Zonenrandgebiet, auf den Lippen das Lächeln der | |
Verschontgebliebenen, manchmal genannt wurde. Und bei aller | |
jugendlich-idealistischen DDR-Phantomnostalgie und gar zeitweiligen | |
Nordkorea-Sehnsucht erschien mir diese These eigentlich recht schlüssig. | |
Jakob Heins neuer Roman „Kaltes Wasser“ spielt vor allem während dieser | |
Zeit des Umbruchs nach dem Mauerfall. Sein Protagonist Friedrich Bender ist | |
ein gewitzter Lügner, Fantast und Wendehals. Wie der Autor wird „Fritz“ | |
Anfang der 1970er geboren. Kurz darauf zieht seine linientreue Familie (die | |
Mutter VEB-Kaderleiterin; der Vater bald Professor für | |
Marxismus-Leninismus; Pia, die Schwester, Musterschülerin) von Halle in die | |
Hauptstadt Ostberlin. Was als Leben folgt, passiert ihm mehr, als dass er | |
es steuern würde, und wird dabei stetig skurriler, von Episode zu Episode. | |
Nicht, dass Friedrich anecken würde – dafür ist er zu klug und hat zu wenig | |
Überzeugungen; nämlich eigentlich nur die eine: dass ihn die graue | |
Langeweile in der DDR anödet. | |
Diesem alles durchdringenden Zustand, den Heidegger unter anderem mit dem | |
schön-schrecklichen Begriff der „Hingehaltenheit“ charakterisiert, | |
entflieht er durch seine Einbildungskraft: Die Meldungen im Neuen | |
Deutschland klingen immer gleich, also denkt er sich zu ihrer Ausschmückung | |
Held*innengeschichten aus exotischen „Bruderstaaten“ aus. Er wünscht sich | |
die perfekte Freundin, also erfindet er sie (Emily aus Bristol) und | |
staffiert seine Lüge so geschickt aus, dass alle seine Freund*innen ihm | |
glauben. Was er sagt, wird Wahrheit; selbst, als er seiner Familie | |
gegenüber behauptet, schwimmen zu können, obwohl er nie zuvor geschwommen | |
war: „Kopfüber warf ich mich in das Schwimmerbecken, selbst gespannt, was | |
passieren würde. Sekundenbruchteile war ich unter Wasser, dann paddelte ich | |
mich hoch und sah meine Familie da stehen.“ | |
Als die Mauer fällt, wird ihm schnell klar, was er im großen, bunten Westen | |
anrichten kann. Ihm laufen die richtigen Leute über den Weg, er hat die | |
richtigen Ideen, er sagt die richtigen Dinge – ob als Student, Lover, | |
illegaler Geldwechsler, Kneipenbesitzer oder Partnerschaftsvermittler der | |
Adeligen. | |
Sofort durchschaut er, anders als die anderen, noch völlig überforderten | |
„Ostler“, worauf es in der neuen Welt ankommt. Die Hierarchien kehren sich | |
um; seine Eltern verteidigen die DDR und verfallen in kindliche | |
Schockstarre. Bender hingegen steigt unaufhaltbar auf. Er wird reich. Ihm | |
liegt die Welt zu Füßen. | |
Das Problem an Geschichten über Lügen ist ja ihre (reizvolle) Nähe zu | |
Geschichten aus Lügen, und in der Tat klappt für den Helden in dieser | |
Nachwende-Fabel alles so verdächtig perfekt, dass man sie genauso gut als | |
Satire auf das Gelingen lesen kann. Wundersamer Zufall folgt auf | |
wundersamen Zufall: Dieses Konzept von Unvorhersehbarkeiten ist so | |
überraschend wie vorhersehbar und birgt die Gefahr der Beliebigkeit. Aber | |
während der Roman zu Beginn noch seltsam lose, passiv und antriebslos | |
wirkt, gewinnt er bald an Dichte und Tempo in dieser Beobachtung der | |
Beobachtung des sich scheinbar nur selber zuschauenden Bender, die Heins | |
Buch konstituiert – und zwar durch das, was da zu sehen ist: Sex, Geld, | |
Lügen. Im Hintergrund schwebt, wie prekär Friedrichs Erfolg ist. | |
Denn natürlich scheitert er am Ende, und wieder kehren sich die | |
Verhältnisse um, zumindest innerhalb seiner Familie. Die zentrale Grenze | |
verläuft hier nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Anders- und | |
Angepasstsein, Identität und Verwechselbarkeit. Und „Fritz“, der geniale, | |
immer Heimatlose, nähert sich diesem vergangenen Staat, mit dem nun selbst | |
die früheren Funktionäre nichts mehr zu tun gehabt haben wollen, am Ende | |
doch wieder an. | |
Dieser Hein’sche Erzähler treibt, dazu noch für einen Hochstapler, | |
sprachlich irgendwie immer im merkwürdig zu Vertrauten und Klischeehaften. | |
Doch so ist es ihm umso höher anzurechnen, über solche Umwege allzu häufig | |
gerade Originelles und Witziges zu heben: „… in den Vorlesungen hatte ich | |
mich immer nur gelangweilt, nichts verstanden und Gesichter und | |
Förderbänder für Südfrüchte in meinen Block gekritzelt.“ | |
Ich habe außerdem gelernt, dass das Wort „Peng-Schüssel“ so was wie eine | |
Tupperdose bezeichnet, und musste mehrmals laut lachen. Die Gnade meiner | |
(sehr) späten Geburt, irgendwie hat sie nur Vorteile. | |
23 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Adrian Schulz | |
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