# taz.de -- Roman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck: Nachhaltige Blindheit | |
> Die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck hat den International Booker Prize | |
> gewonnen. Ihren Roman „Kairos“ hat die taz 2021 rezensiert. | |
Bild: Jenny Erpenbeck: Die Liebenden in ihrem Roman „Kairos“ sind mit Blind… | |
Diese Rezension zu Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ ist erstmals 2021 in der | |
taz erschienen. Am 21. Mai 2024 wurde sie für den Roman mit dem | |
Internationalen Booker Prize ausgezeichnet. Wir haben daher diesen Text | |
nochmals auf taz.de publiziert. | |
Die Liebe, so heißt es ja, mache blind. Gemeint ist damit gemeinhin, dass | |
die hormonelle Überwältigung die Liebenden allzu leicht die Mängel des | |
geliebten Menschen übersehen lässt. Oder anders: Dass da jemand aus dem | |
Mund stinkt, merkt man bisweilen erst, wenn es zu spät ist. | |
Auch die Liebenden in [1][Jenny Erpenbecks] neuem Roman „Kairos“ sind mit | |
dieser Blindheit geschlagen, einer überaus nachhaltigen Blindheit, die sehr | |
viel länger anhält als bei gewöhnlichen Liebesbeziehungen und nicht nur den | |
Liebesgegenstand selbst betrifft, sondern auch die die Liebenden umgebende | |
Welt, in der gewaltige politische Umwälzungen geschehen, während Katharina | |
und Hans beschäftigt sind mit ihrer Liebe. | |
Beginnt die Geschichte der Liebe zwischen Katharina und Hans doch im Sommer | |
des Jahres 1986 unter einer Ost-Berliner S-Bahn-Brücke und endet keine | |
sechs Jahre später am gleichen Ort, aber in einem anderen Land. Katharina | |
ist kaum volljährig, steht vorm Studium oder doch einer Lehre, auf jeden | |
Fall vor großen Entscheidungen – ein unbeschriebenes Blatt. | |
## Vom Hitlerjungen zum Kommunisten | |
Hans ist 34 Jahre älter, er hat noch den Weltkrieg erlebt als Kind, hat die | |
DDR mit aufgebaut, verwandelte sich vom überzeugten Hitlerjungen über den | |
glühenden Kommunisten zum praktizierenden Zyniker, ist Schriftsteller und | |
Radiojournalist, seit 30 Jahren verheiratet und mit wechselnden Geliebten | |
im Bett – er hat schon eine Menge Blätter beschrieben. Die beiden sind ein | |
denkbar ungleiches Paar, als sie sich kennenlernen: „Nie wieder wird es so | |
sein wie heute, denkt Hans. So wird es nun sein für immer, denkt | |
Katharina.“ | |
Im steten, bisweilen kurzfristigen Wechsel der beiden Perspektiven erzählt | |
Erpenbeck vom heiligen Ernst der Liebe. Katharina ist „so jung wie er in | |
seiner besten Zeit“ und besitzt „ein Gesicht aus Biskuitporzellan“. Hans | |
hat die Biermann-Resolution nur „beinahe unterschrieben“, pfeift aber | |
unwillkürlich die „Ballade vom preußischen Ikarus“ des ausgebürgerten | |
Liedermachers, sobald er einen eisernen Adler sieht. | |
Er hält ihr dieselben Vorträge, die seinen pubertierenden Sohn anöden. Sie | |
denkt, mit ihm „an ihrer Seite wird sie sich nie wieder im Leben langweilen | |
müssen“. Er spielt ihr Ernst Busch vor und Hanns Eisler, sie küsst die | |
Widmung in dem Buch, das er ihr geschenkt hat. | |
Er ist einer, der Haydn „wirklich gute Musik“ findet und weiß, welche drei | |
Skizzen Pablo Picasso an dem Tag, an dem er selbst zur Welt kam, zeichnete, | |
aber seine Ehefrau legt ihm „jeden Tag Hose, Hemd und Socken hin, die er | |
anziehen soll“. Sie stellt fest, dass er zehn Jahre älter ist als sogar ihr | |
eigener Vater, und schreibt in ihr Tagebuch: „Ich habe nicht gewusst, dass | |
ich so lieben kann.“ | |
## Keine sympathischen Protagonisten | |
Wirklich sympathisch sind die beiden Protagonist*innen nicht. Sie nicht | |
in ihrer backfischartigen Hingebung, er nicht in seiner selbstherrlichen | |
Männlichkeit, die schon nach wenigen Tagen darüber nachdenkt, wie er den | |
Kummer bekämpfen soll, falls sie ihn verlässt: „Sich eine andere ins Bett | |
holen, so schnell wie möglich.“ | |
Denn die Zweifel sind früh da: „Sieh dir an, sagt Hans, wie ähnlich sich | |
Liebe und Hass sehen.“ Der nette, schlaue Hans entpuppt sich als | |
ausgewachsenes Arschloch, und aus der vermeintlich vollkommen reinen Liebe | |
wird ein Machtspiel, in dem sie alles offenlegen muss, Kalender, Briefe, | |
Notizen, keine Geheimnisse, kein eigenes Leben mehr haben darf und | |
degradiert wird zum Anhängsel des älteren Mannes: „Nur eine Außenstelle ist | |
sie von seinem Leben.“ | |
Er schreibt ihr, er hätte ihren Körper „in Besitz genommen“ und dass sie | |
nun in seinen Augen „entschieden wertgemindert“ sei. Er unterstellt ihr | |
wegen eines einmaligen, unschuldigen Fehltritts „mieseste, spießbürgerliche | |
Doppelmoral“ und ist doch so blind, dass er die eigene Doppelmoral nicht | |
erkennt, während er doch wieder mit seiner Ehefrau lebt. | |
Er züchtigt sie, missbraucht sie körperlich und emotional, richtet sie ab | |
wie ein Hündchen, bis sie „weiß, was er will, dass sie wollen soll“. Er | |
macht sie systematisch klein, und sie hält sich fortan für ein „Ungeheuer�… | |
Bis sie tatsächlich glaubt: „Hans ist sie und sie ist Hans.“ | |
Diesen Prozess beschreibt Erpenbeck streng aus der Innensicht der | |
Protagonist*innen in einer quälend detaillierten, aber immer höchst | |
eleganten und damit umso schmerzenderen Sprache: „So nah ist sein Mund ihr | |
beim Sprechen, dass er sie mit den Worten berührt.“ Als Katharina mit einer | |
Freundin nach Ungarn aufbricht, als sie das erste Mal von Hans getrennt | |
ist, werden ihre Urlaubserlebnisse augenblicklich unter „Löschsand“ | |
begraben. | |
## Zeitgeschichte und Liebesgeschichte | |
Die frisch Verliebten und die sich Quälenden können alles, aber wirklich | |
alles nur mehr durch die Brille ihrer Liebe und später ihrer Qual sehen. | |
Deshalb sickert nur langsam die Zeitgeschichte in die Liebesgeschichte ein. | |
Irgendwann taucht der Name Gorbatschow auf, dann die Milliardenkredite, die | |
Honecker aus dem Westen erbetteln konnte, Christoph Hein fordert die | |
Abschaffung der Zensur. | |
Katharina ist eher zufällig bei dem Punk-Konzert in der Zionskirche dabei, | |
das von Neonazis gestürmt wird. Hans schreibt einen Text für das | |
Programmheft von Heiner Müllers „Lohndrücker“-Inszenierung am Deutschen | |
Theater 1988. Dann, an einem 7. Mai, wird die Volkskammer gewählt und | |
Katharina streicht alle Namen auf dem Wahlzettel genüsslich durch, und im | |
Westfernsehen öffnet sich später die ungarische Grenze, Katharina verirrt | |
sich auf eine Veranstaltung der Opposition in einer Kirche und Hans | |
unterschreibt die Resolution der Künstler. Und als die Mauer fällt, holt | |
keiner der beiden das „Begrüßungsgeld“ ab. Über ihn heißt es: „Die He… | |
verlässt ihn, während er sich nicht von der Stelle rührt.“ | |
Trotzdem, das ist ziemlich offensichtlich, will Erpenbeck die | |
Liebesgeschichte nicht bloß als Parabel auf den Aufstieg und Niedergang | |
eines kleinen Landes hinter dem Eisernen Vorhang verstanden wissen. | |
## Kontrolle und Missbrauch | |
Aber trotzdem lässt sich das, was Katharina und Hans miteinander erleben, | |
auch so lesen: Die erste Euphorie über die gelungene Symbiose zwischen den | |
aus dem Exil heimgekehrten Widerstandskämpfern und den jungen | |
Kriegskindern, die zusammen ein neues Deutschland aufbauen wollen, | |
verwandelt sich in Kontrolle und Missbrauch unter einem eifersüchtigen und | |
misstrauischen Regime, von dem sich die Beherrschten zwar nicht offiziell, | |
aber emotional lossagen, bis das immer teilnahmsloser werdende | |
Nebeneinanderherleben, die, wie es bei Erpenbeck heißt, „stummgewordene | |
Liebe“, zur endgültigen Trennung führt. | |
Dazu passt, dass Erpenbeck mit Hans und seinem Umfeld im etablierten Kunst- | |
und Kulturbetrieb wie nebenbei ein treffsicheres Porträt der Intelligenzija | |
der ausgehenden DDR und ihrer inneren Emigration in eine Zwischenwelt aus | |
praktischer Angepasstheit und modischer, aber ungefährlicher Dissidenz | |
gelingt. | |
Ein Umfeld, das die Autorin gut aus eigener Anschauung kennt. Ihre | |
Großeltern waren Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner, beide | |
Schriftsteller*innen, die 1945 aus dem Exil zurück nach Berlin kamen. Ihre | |
Mutter, die Literaturwissenschaftlerin Doris Kilias, übersetzte aus dem | |
Arabischen und arbeitete fürs Radio, ihr Vater John Erpenbeck ist Physiker | |
und Autor, war Professor an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften, | |
deren Abwicklung in „Kairos“ ebenso wenig unerwähnt bleibt wie die des | |
Rundfunks. | |
Womöglich erklärt „Kairos“ die seltsame Psychologie, in der die Menschen … | |
der DDR noch mehr gefangen waren als von Stacheldraht und | |
Selbstschussanlagen, besser als die allermeisten Wenderomane, die bislang | |
erschienen sind. Aber zuallererst bleibt „Kairos“ doch das, was er ist: ein | |
Roman, der von der Liebe erzählt. | |
18 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-ueber-Fluechtlingsbiografien/!5229981 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
## TAGS | |
Jenny Erpenbeck | |
Booker Prize | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Roman | |
DDR | |
Liebe | |
DDR | |
Jenny Erpenbeck | |
Literatur | |
Roman | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vielfach ausgezeichnete Jenny Erpenbeck: Kein Sehnsuchtsort, sondern Gefängnis | |
Jenny Erpenbeck hat den renommierten Booker Prize erhalten. Obwohl nicht | |
nur ihre Reden, sondern auch ihre Bücher durch Ostdeutschtümelei | |
verblüffen. | |
Auszeichnung für Autorin Jenny Erpenbeck: Ihren Figuren so nah | |
Für ihren Roman „Kairos“ bekommt Jenny Erpenbeck als erste Deutsche den | |
International Booker Prize. Die Jury spricht von „leuchtender Prosa“. | |
Debatte um Maxim Billers neuen Roman: Verlangen nach Entlastung | |
Die Feuilletons loben Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“. Doch warum | |
tun sie sich so schwer, die in ihm enthaltene Provaktion zu entschlüsseln? | |
Neuer Roman von Alexander Osang: Der Autor hat es drauf | |
Eigentlich soll es die Lebensgeschichte von Uwe aus Ostberlin sein. Doch | |
Alexander Osang schreibt in „Fast hell“ nur über sich selbst. | |
Lutz Seilers Wenderoman „Stern 111“: Die gute alte Schwärze | |
Woher kommt der innere Druck, das Gefühl des Nichtgenügens? Lutz Seilers | |
großer Wenderoman „Stern 111“ entwirft ein ostdeutsches Großpanorama. |