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# taz.de -- Vielfach ausgezeichnete Jenny Erpenbeck: Kein Sehnsuchtsort, sonder…
> Jenny Erpenbeck hat den renommierten Booker Prize erhalten. Obwohl nicht
> nur ihre Reden, sondern auch ihre Bücher durch Ostdeutschtümelei
> verblüffen.
Bild: Erhielt mit dem Booker Prize die wichtigste literarische Auszeichnung der…
Ich kenne ziemlich viele gute Autor*innen, die noch nie einen Preis
erhielten. Jenny Erpenbeck erhielt in Deutschland bereits sehr viele.
Dennoch jammern ihre [1][ostdeutschen] Unterstützer*innen und nun auch
sie selbst und beklagen, sie habe noch nie einen der drei großen deutschen
Buchpreise erhalten und das läge daran, dass in den Jurys keine
Ostdeutschen säßen.
Was für ein Humbug! Saßen denn in der International-Booker-Jury
Ostdeutsche? Und wer zeichnete Volker Braun, Durs Grünbein, Sarah Kirsch,
Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Elke Erb (alle Büchner-Preis), Uwe
Tellkamp, Julia Franck, Eugen Ruge, Antje Ravik Strubel (Deutscher
Buchpreis), Ingo Schulze und Clemens Meyer (Preis der Leipziger Buchmesse)
oder Lutz Seiler aus, der gleich alle drei großen Preise erhielt?
[2][Jenny Erpenbeck] gilt mittlerweile weltweit als [3][DDR]- und
Osterklärerin. Ist es zu erklären, dass in ihren Statements und Büchern nie
jene vorkommen, die 1989/90 gewonnen haben, die befreit wurden, die endlich
ankommen konnten? Bei ihr gibt es „1989“ als Freiheitsfest nicht. Sie
glaubt nämlich: „Wir haben gegen uns selbst gewonnen, deshalb sieht die
Freude darüber manchmal wie Hass aus.“
Tatsächlich haben „wir“ gegen „die“ gewonnen und es ist auch im Rückb…
für so manche Ostdeutsche nicht einfach zu sagen, zu welcher Gruppe sie
gehör(t)en – die meisten, in meiner Perspektive, waren „die“, jene also,
die das System trugen, verteidigten oder einfach nur bis zuletzt
erduldeten. Jenny Erpenbeck jedenfalls hat durch „1989“ verloren – etwa
ihre Hoffnungen, ihre Utopien, ihr Warten auf das Bessere, wie sie 2014
Abiturientinnen erzählte.
## Sehr kommunistische Herkunft
Jenny Erpenbeck kommt aus einer sehr kommunistischen Familie. Ihr Großvater
Fritz Erpenbeck kam relativ spät mit 30 zur KPD (1927), wurde aber schnell
als Journalist eine wichtige Größe im Propagandaapparat der Partei. Die
Nazi-Diktatur überlebte er in der Sowjetunion und kam als Mitglied der
berühmten „Gruppe Ulbricht“ 1945 zurück nach Deutschland. Er zählte zu d…
eifrigen Hardcore-Propagandisten des Regimes. In Berlin-Pankow ist immer
noch eine Straße nach ihm benannt – warum auch immer.
Seine Ehefrau, Hedda Zinner hinterließ als Künstlerin und Funktionärin
wenigstens ein Buch, anders als ihr Mann, das auch heute noch erwähnenswert
ist: In der 1989 erschienen „Selbstbefragung“ schaut sie auf ihr Leben
zurück und berichtet für DDR-Verhältnisse kritisch über die Exiljahre in
der Sowjetunion. Insgesamt zählte jedoch sie wie ihr Mann zu dem großen
kommunistischen Schweigekartell über die Jahre des Terrors in der
Sowjetunion.
Ihr Sohn John Erpenbeck ist 1942 in der Sowjetunion, in Ufa, wohin die
Kommunistische Internationale und das berühmte „Hotel Lux“ von Moskau aus
evakuiert worden sind, geboren worden. Er wurde in der DDR nach einem
Physikstudium ein leninistischer Philosoph, für den es trotz Mauer keine
Reisebeschränkungen gab.
Als Schriftsteller trat er in die Fußstapfen seiner Eltern, seine Bücher
waren beliebter und auch anspruchsvoller als die seiner Eltern. Einige
Jahre war er mit Doris Kilias verheiratet, der Mutter von Jenny Erpenbeck.
Sie war eine habilitierte Romanistin und übersetzte aus dem Arabischen.
## Leben mit Privilegien
Jenny Erpenbeck, geboren 1967, wuchs nicht nur in dieser kommunistischen
Parallelwelt mit allen möglichen Privilegien auf. Sie hatte sogar das
Privileg, mit ihrer Mutter vor dem Mauerfall etwa ein Jahr lang in Italien
leben zu können. Das sind Erfahrungen, die Perspektiven und Wahrnehmungen
prägen. Das DDR-Gefängnis erscheint in einer solchen Perspektive
wohlfühliger, annehmbarer.
Als sie den International Booker Prize erhielt, gab sie viele Interviews.
In einem sagte sie der „Tagesschau“: „Und die, sage ich jetzt mal, falsche
Sprache hat, glaube ich, auch einen Großteil dazu beigetragen, dass die DDR
untergegangen ist, weil es einfach keinen wirklichen Austausch mehr gegeben
hat.
Zwischen der Regierung und den Leuten hat es keinen wirklichen Dialog mehr
gegeben. Das ist viel schlimmer, als man denkt. Die Wirtschaft war
natürlich auch marode, aber auch diese Sprache hat die Idee des Aufbruchs,
die es am Anfang gab, nach dem Krieg, wirklich ruiniert.“
Diese Sätze zeigen sehr gut, warum es nötig ist, auf den familiären
Hintergrund von Erpenbeck hinzuweisen. Denn hier kommen gleich mehrere
Mythen zum Tragen, die in diesem systemtragenden Milieu bis heute
wiedergekäut werden: Die Idee des Aufbruchs am Anfang sei durch die Sprache
ruiniert worden.
So erzählen die sich das und ignorieren, dass die kommunistische „Diktatur
des Proletariats“ unter Führung der „Partei neuen Typus“ keine Verheißu…
auf Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und Gleichheit darstellte, zu
keinem Zeitpunkt, sondern immer eine unfreiheitliche und antidemokratische
Herrschaftsform einer Minderheit über eine Mehrheit meinte.
## Ein Land voller Mauern
Und natürlich hat auch nicht die Sprache das System „ruiniert“, sondern
Terror, Gewalt, Unterdrückung, Militarisierung sowie die fehlende
Einhaltung der Menschenrechte, alles gebündelt im Mauersystem, haben immer
eine Mehrheit das nicht nur symbolisch eingezäunte Land – überall im Land
stieß man auf Mauern, in jeder Schule, Bibliothek, Zeitung, Universität,
LPG, auf jedem Arbeitsplatz – ablehnen lassen.
Jenny Erpenbeck ging schon vor Jahren noch einen Schritt weiter. In einem
Gespräch mit dem Tagesspiegel beklagte sie Anfang 2019, Postkarten über den
Osten würden immer nur die Mauer zeigen, aber nicht den Alltag. Ich weiß ja
nicht, wo sie lebte (na ja, ich weiß es schon), aber in dem Ostberlin, in
dem ich fast auf den Tag genauso lange lebte wie sie (nur bei mir gab es
keine Westerholungsaufenthalte), war die Mauer ein Ding, das meinen Alltag
bestimmte.
Und zwar nicht, weil ich weg wollte. Ich wuchs ja gar nicht so anders auf,
auch ich wurde kommunistisch erzogen und geprägt. Und doch erinnere ich
mich anders, denn die Mauer war täglicher Gesprächsgegenstand,
Sehnsuchtsort, Hoffnungsort, Angstort, Todesort, der Ort, der nicht nur mir
verwehrte, zu sprechen, zu lesen, zu hören, zu tun, was ich will, der mich
Tag für Tag begrenzte, einschränkte, verwundete, wütend und hoffnungslos
machte, sondern auch der Ort, der meinen Alltag wie kaum etwas anderes
bestimmte – das wurde mir erst allmählich bewusst. Auch das hing mit der
Mauer zusammen – der Mauer von alltäglicher Dummheit, Borniertheit, Gewalt,
Ideologie, Hass.
Jenny Erpenbeck hat vielbeachtete Romane vorgelegt. Mir gefällt ihre
„Schreibe“, ich lese sie nicht ungern. Aber bei mir blieb immer ein
merkwürdiger Unterton hängen. [4][In ihrem letzten Roman „Kairos“] gibt es
irgendwie nur Verlierer*innen (und einen schrecklich pervertierten
Westen). Selbst der Auflösung des verhassten DDR-Rundfunks wird hier
nachgejammert, als ginge mehr als ein Propagandaapparat verloren.
## Der Osten als Sehnsuchtsort
Bezeichnend ist eine Passage über die Umbenennung der Dimitroffstraße 1990
in Danziger Straße im Prenzlauer Berg. Das war eine unmögliche Entscheidung
– das wird auch in diesem Roman so angeprangert. Allerdings erfährt niemand
in diesem Buch, warum nun Dimitroffstraße die bessere Bezeichnung gewesen
sein soll. Dafür gibt es nämlich keine Argumente – Dimitroff war ein
blutrünstiger Diktator Bulgariens.
Sein einbalsamierter Leichnam wurde 1990 aus dem Sofioter Mausoleum
entnommen (und das Mausoleum 1999 gesprengt) – aber in Ostberlin soll
weiter eine Straße nach ihm benannt werden? Das ist ein Geschichtsumgang,
den Erpenbeck nicht nur als künstlerische Freiheit pflegt, sondern den sie
auch in ihren Interviews und Reden verbreitet.
Bei ihr erscheint der Osten als Sehnsuchts- und Hoffnungsort, als
Zukunftsverheißung, während der Westen als Gegenteil, als dumpf,
hoffnungslos, oberflächlich, ganz und gar schrecklich vorkommt. Im Kontext
der Ostdeutschlanddebatte bedient sie damit jene nostalgischen und
antifreiheitlichen Gefühle, jene blödsinnige Ostdeutschtümelei, die
historisch haltlos, politisch irrelevant sind, aber im Grunde einer
Sehnsucht nach einem Gestern Platz geben, das auch durch die damit
verbundenen Gefühle weder besser noch humaner wird: Mauer bleibt Mauer.
30 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Ilko-Sascha Kowalczuk
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