# taz.de -- Wie verstrickt war Ulli Blobel?: Die Liebe der Stasi zum Jazz | |
> Ulli Blobel war ein wichtiger Akteur in der Jazzszene der DDR. Doch eine | |
> Stasi-Akte wirft einen dunklen Schatten auf sein musikalisches | |
> Vermächtnis. | |
Bild: Wie weit reichte die geistige Freiheit? Peitz-Festival 1982 | |
Ulli Blobel ist in Jazzkreisen eine Legende. In Büchern und Feuilletons | |
wird der 73-Jährige als zentrale Figur [1][der DDR-Jazzgeschichte] | |
beschrieben, die nicht nur Generationen von ostdeutschen Jazzfans die | |
Bewusstseinshorizonte erweitert hat, sondern mit der Jazzwerkstatt Peitz | |
einen Ort des „Freiheitspathos“ und „Nonkonformismus“ verkörperte, wie… | |
FAZ kürzlich schrieb; eine Anomalie der antiautoritären musikalischen und | |
geistigen Freiheit mitten im repressiven Überwachungsstaat. | |
Dieses Jahr werden Blobel und die Jazzwerkstatt Peitz, die er zusammen mit | |
Peter „Jimi“ Metag gründete, von der Deutschen Nationalbibliothek zum 35. | |
Jubiläum der friedlichen Revolution geehrt, die Jazzwerkstatt habe „einen | |
[…] bislang nicht hinreichend gewürdigten Beitrag zur Geschichte des Jazz | |
in der DDR geleistet“ und „das Potenzial von Instrumentalmusik als Medium | |
des Widerstands gegen staatlich verordnete Kulturpraktiken und ideologische | |
Beschränkungen aufgezeigt“, heißt es zur Begründung. | |
„Antiautoritär“, „geistige Freiheit“, „Widerstand“. Hehre Worte. A… | |
gibt da ein Problem: Es existiert nämlich eine umfangreiche Stasiakte mit | |
dem Decknamen IM Thomas, die Ulli Blobel zugeschrieben wird, und sie | |
erzählt eine andere Geschichte. | |
Bei so viel Berichterstattung und Dokumentation zur Jazzwerkstatt Peitz ist | |
es kurios, dass dieser Teil der mit Ulli Blobel verbundenen biografischen | |
Materialien in Deutschland bisher kaum mediale Erwähnung findet. Wenn | |
überhaupt, dann wurde er nur in akademischen Journalen angesprochen, und | |
zwar ausschließlich in Bezug auf ein Buch der in Westdeutschland geborenen | |
und in den USA lebenden Musikwissenschaftlerin Helma Kaldewey. | |
Sie hat einen kleinen, aber wichtigen Teil ihres 2020 auf Englisch | |
erschienenen Werks „A People’s Music: Jazz in East Germany, 1945–1990“ | |
(Cambridge University Press) Blobels IM-Tätigkeit gewidmet. | |
## Dutzende Berichte über die Jazzszene | |
Eine IM-Tätigkeit, die acht Jahre angedauert haben soll: von der | |
eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung als IM Thomas im Jahre | |
1973 über Dutzende, zum Teil eigenhändig verfasste Berichte über die | |
Jazzszene, etwa viele Westkontakte, bis zum Stasi-Abschlussbericht 1981. Zu | |
diesem Zeitpunkt wurde die Zusammenarbeit aufgrund zunehmender | |
Unzuverlässigkeit des IM Thomas beendet. | |
Laut Kaldewey war Blobels IM-Verpflichtung und langjährige Zusammenarbeit | |
mit der Stasi nicht nur eine von vielen notwendigen Bedingungen in der | |
Entstehung der Jazzwerkstatt Peitz, sondern stellte zudem die Basis der | |
Freiheit dar, die Blobel in seiner außergewöhnlich internationalen | |
Veranstaltertätigkeit genossen hat: „So klein seine Unterschrift auch war, | |
dieser ‚Vertrag‘ gab Blobel einen Freibrief für seine großen Ambitionen u… | |
ermöglichte es ihm, im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein beispielloses | |
internationales Musikförderungsgeschäft aufzubauen, das die kleine Stadt | |
Peitz zu einem Ort von legendärem Ruf in der Geschichte des DDR-Jazz machen | |
sollte.“ | |
Die akribisch recherchierte und international geschätzte Studie „A People’s | |
Music“ nimmt die Akte von IM Thomas nicht als Hauptthema. „Es gibt viel | |
interessantere Aspekte zum Thema Jazz in der DDR“, beantwortet Kaldewey | |
eine E-Mail-Anfrage der taz. Da hat sie nicht unrecht. Und trotzdem spielt | |
die Tätigkeit von IM Thomas eine wichtige Rolle in Kaldeweys Neudeutung im | |
Narrativ über die Entwicklung der Beziehung des SED-Staats zum Jazz. | |
Darüber hinaus stehen die Akte und die Thesen Kaldeweys auch zum Teil in | |
starkem Kontrast zur bisherigen Rezeption von Blobel und der Jazzwerkstatt | |
Peitz. | |
Deren kulturelle Bedeutung ist unbestritten. Vor dem Verbot durch den | |
SED-Staat 1982 galt Peitz neun Jahre lang als Insel des progressiven Free | |
Jazz und der improvisierten Musik in Osteuropa. Im tiefsten Brandenburg | |
haben sowohl die wichtigsten Akteure der DDR-Jazzszene wie [2][Günter | |
„Baby“ Sommer,] Ernst Ludwig Petrowsky, Conny Bauer und Uschi Brünning | |
gespielt als auch radikale Westdeutsche wie Peter Kowald und [3][Peter | |
Brötzmann,] die Briten Evan Parker und Paul Lovens, der südafrikanische | |
Schlagzeuger Louis Moholo, der in Westberlin lebende schwedische | |
Schlagzeuger Sven-Åke Johansson – und viele andere mehr. | |
## Eine gut gepflegte Beziehung zur Stasi | |
Auch eigentlich verbotene deutsch-deutsche Kollaborationen, etwa das | |
Sommer-Winter-Duo von Peter Kowald (West) und Schlagzeuger Gunter Sommer | |
(Ost), kamen dort zustande. Unter den Ohren und Augen der Stasi. | |
Unglaublich. | |
Gute 27 Jahre, nachdem er 1984 mit einem Ausreiseantrag die DDR für immer | |
verließ, hat Ulli Blobel sein Festival 2011 zusammen mit dem | |
Jazzwerkstatt-Mitgründer Peter Metag wieder ins Leben gerufen. 2023 hat es | |
sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Für die Ausgabe im August 2024 | |
übernimmt Ulli Blobels Tochter Marie Blobel die Leitung und will die | |
Jazzwerkstatt in die Zukunft lenken. Sie ist selbst eine bekannte | |
Jazzkuratorin. | |
Doch das kulturpolitische und historische Vermächtnis ihres Vaters ist | |
etwas trüber. Die Stasiakte des IM Thomas umfasst 1.128 Blätter, von denen | |
etwas weniger als ein Viertel einzusehen sind und einiges geschwärzt | |
bleibt. Die Akte zeugt nicht nur von einer langjährigen, gut gepflegten | |
Beziehung zur Stasi, die durch regelmäßige Treffen und Berichte gehalten | |
wird, sondern enthält auch Berichte von anderen IMs in der Jazzszene über | |
Blobel. Überwachung der Überwachenden war für die Stasi ein wichtiger | |
Kontrollmechanismus, um den Wahrheitsgehalt der Information zu überprüfen – | |
und damit auch ihre Umgebung im Griff zu halten. | |
Worauf Kaldewey in ihrer Studie weniger eingeht: In anderen Teilen der Akte | |
steht sehr wohl, dass IM Thomas seine Skrupel in der Personenbelastung | |
abgelegt haben soll und intensiver an verschiedenen „Zielen“ arbeitete – | |
darunter ein für die Stasi interessanter Westkontakt. In einem weiteren | |
Bericht ist zudem die Belastung eines Veranstaltungskonkurrenten durch IM | |
Thomas belegt. | |
So entsteht das Gesamtbild einer Person, die ihre engen Kontakte | |
weitestgehend schützen will, aber gelegentlich Gegner und sonstige | |
Hindernisse ins Auge fasst, etwa Störenfriede beim Festival und Rivalen im | |
Kreis der Konzertveranstalter. Aber wie ist die Akte insgesamt zu bewerten? | |
## Nur eine Phantasiegestalt? | |
„Wer ein IM Thomas war, weiß ich nicht. Ich vermute, es war eine | |
Phantasiegestalt der Stasi selbst. Werbungen für den | |
Staatssicherheitsdienst, über Musiker, über Personen im Publikum oder über | |
ausländische Kontakte zu berichten, lehnte ich immer mit Nachdruck ab“, | |
schrieb Ulli Blobel vor Kurzem in einem offenen Brief an das renommierte | |
Magazin German Studies Review der Johns Hopkins University, nachdem eine | |
deutschsprachige Rezension des Buchs „A People’s Music“ erschienen war, d… | |
teils online einzusehen ist. | |
Vom Buch selbst hält Ulli Blobel offensichtlich auch nicht viel: „Im | |
Übrigen erscheint mir die wissenschaftliche Erkenntnis auf sehr niedrigem | |
Niveau, auf dem eines Vorabiturienten zu liegen.“ | |
An einem sonnigen Frühlingstag sitzt Ulli Blobel neben Tochter Marie Blobel | |
auf seinem Balkon in Berlin-Tiergarten und schüttelt den Kopf. Die Musik | |
von US-Saxofonist Lee Konitz fließt sanft aus der Stereoanlage im | |
Wohnzimmer und vermischt sich mit Vogelgezwitscher. „Ich kenne ja alle | |
Leute in der Aktenbehörde, und ich habe gesagt, wenn es was Interessantes | |
gibt, schickt’s mir doch mal“, sagt er betont lässig. | |
In den Dokumenten, die Blobel angeblich zugeschickt bekommen hat, sieht er | |
viele Lügen und Ausgedachtes – nur den Abschlussbericht über seine | |
Unzuverlässigkeit als Informationsquelle, den wertet er positiv. Vehement | |
leugnet Blobel nicht nur die Echtheit der angeblich eigenhändig | |
geschriebenen Verpflichtungserklärung, sondern auch, dass er überhaupt | |
jemals unter dem Decknamen IM Thomas für die Stasi tätig gewesen sei. | |
Auf dem Balkon holt er gegen Kaldewey aus: „Das ist ein sehr schlechtes | |
Buch, sehr schlecht recherchiert. Was sie da von mir schreibt, kann nur | |
jemand schreiben, der nicht aus dem Osten kommt. Denn wer im Osten was | |
aufgebaut hat oder was Kulturelles gemacht hat, musste mit dem | |
Staatsapparat zusammenarbeiten.“ | |
## Peitz als oppositioneller Ort | |
Blobel gibt zwar zu, sich mit der Stasi getroffen zu haben, um Konzerte | |
durchführen zu können – mindestens hundert Mal, schätzt er. An seinem | |
antiautoritären Ruf und der bisherigen Lesart der Jazzwerkstatt Peitz als | |
eines oppositionellen Orts hält er mit Nachdruck fest. „Die Legende sagt ja | |
oft: Peitz ist verboten worden wegen der Musik. Die Jazzwerkstatt ist nicht | |
verboten worden wegen der Musik, sondern wegen uns. Weil wir nicht | |
einzufangen waren.“ | |
Durch einen Anwalt teilt Blobel der taz später mit, dass er zu keiner Zeit | |
eine Verpflichtungserklärung abgegeben habe. Die wohl in seiner Stasiakte | |
befindliche Verpflichtungserklärung sei nicht durch ihn verfasst worden; er | |
habe zu DDR-Zeiten keine Konkurrenten sowie Veranstalter für die Stasi | |
ausgespäht und sich so keinen entsprechenden Wettbewerbsvorteil verschafft. | |
Richtig sei nur, dass es damals notwendig war, als Künstler mit der Stasi | |
zusammenzuarbeiten. | |
Diese Zusammenarbeit habe er zu keiner Zeit zur Vorteilsverschaffung | |
gegenüber Konkurrenten oder anderen Künstlern missbraucht. Vielmehr sei sie | |
für ihn ein notwendiges Übel gewesen. Er sei von der Staatssicherheit dazu | |
aufgefordert worden, habe es jedoch nicht getan. | |
Blobel legt weiter Wert darauf, dass er nicht geäußert habe, dass seine | |
Akte der Stasi gefälscht sei. Da er den gesamten Inhalt der Akte gar nicht | |
kenne, könne er hierzu keine Stellung nehmen. Er bestreite nicht, mit der | |
Stasi zusammengearbeitet zu haben. Er stehe zu seiner Zusammenarbeit mit | |
der Staatssicherheit und begründet diese mit der Notwendigkeit, dass | |
Veranstalter stets mit den entsprechenden Behörden eines Landes, in dem sie | |
wirken, zusammenarbeiten müssten. So sei es auch in der DDR gewesen, in der | |
er als Veranstalter tätig war und darum notwendigerweise auch mit der | |
Staatssicherheit zusammenarbeiten musste. So weit die Anwaltspost. | |
## Ende der finanziellen Autonomie | |
Laut den Berichten in der Akte von IM Thomas – und somit der Interpretation | |
Kaldeweys – hat sich Ulli Blobel aus Wut 1981 entschieden, mit der Stasi | |
nicht mehr zu kooperieren, weil sie ihm verwehrte, zu zwei Konzerten in den | |
Westen zu reisen. Die Folge war laut Kaldewey die Beendigung der | |
finanziellen und organisatorischen Autonomie durch die Stasi. Es folgte ein | |
Audit wegen verschiedenster Arten von Betrug im Bezug auf die Finanzen | |
seiner Veranstaltungen – Praktiken, die in der Akte von IM Thomas gut | |
belegt werden und von der Stasi zunächst toleriert wurden, bis IM Thomas | |
sich nicht mehr kooperativ zeigte. | |
Dieser Erklärung verweigert sich Blobel. „Jimi Metag und ich waren nie in | |
einer Gewerkschaft oder in irgendeiner politischen Vereinigung. Niemals. | |
Und die konnten uns einfach keine Befehle geben. Und deswegen ist es | |
verboten worden, als es zu groß wurde – und als die Friedensbewegung in | |
Ostberlin aufkam, Schwerter zu Pflugscharen, in dieser Bewegung waren wir | |
aktiv! Und das war der Stasi suspekt. Und deswegen wurde es verboten.“ | |
Wie wahrscheinlich ist es, dass wichtige Teile der Stasiakte von IM Thomas | |
verfälscht wurden? „Null Prozent. Punkt.“ Das sagt der aus Ostberlin | |
stammende DDR-Historiker und Jazzfan [4][Ilko-Sascha Kowalczuk,] ohne zu | |
zögern. Kowalczuk war über viele Jahre Projektleiter in der | |
Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde. | |
Er hat nach eigenen Angaben Tausende Akten eingesehen und auch eine Studie | |
über angeblich gefälschte MfS-Akten durchgeführt. Diese hat ergeben, dass | |
nur ganz wenige IM-Akten, weniger als ein Dutzend von Hunderttausenden, | |
gefälscht worden waren. Und die hat die Stasi alle selbst enttarnt. | |
## Gefälschte Akten führten zur Entlassung | |
Stasiakten waren als Arbeitsunterlagen der Mitarbeiter und für die Arbeit | |
angelegt, nicht für nachträgliche Forschungen. Daher war die Stasi daran | |
interessiert, dass sie realistisch und möglichst wahrheitsgetreu geführt | |
wurden. Unentwegt überprüften Vorgesetzte die Aktenführung. Niemand ist so | |
intensiv überwacht worden von der Stasi wie Stasimitarbeiter selbst, sagt | |
Kowalczuk. 24 Stunden jeden Tag ihr ganzes Leben. Lügen wurden streng | |
bestraft; gefälschte Akten konnten zur Entlassung führen. Verlässliche | |
Information und die Ausnutzung dieser zu Kontrollzwecken war das | |
Kerngeschäft. | |
Im Fall der Akte über IM Thomas erklärt Kowalczuk das so: „Bei dieser Akte | |
war der Zeitraum viel zu lang, über den sie angeblich gefälscht worden | |
wäre. Berichte und Überwachungsstruktur der Stasi sprechen dem ganz | |
eindeutig entgegen. Es gibt auch keine internen Widersprüche. Das ist von | |
Blobel eine Schutzbehauptung, eine unsinnige zumal. Es ist eine typische | |
Akte aus dem Kulturbereich, wo ein IM zeitweise mit der Stasi redet in der | |
Hoffnung, für seine Arbeit oder seine Projekte Unterstützung von der Stasi | |
zu erhalten.“ | |
Diese Einschätzung stützt die Forschungsergebnisse Kaldeweys, in denen | |
Blobel nicht als böser Agent, sondern als Opportunist auftaucht. So ist aus | |
der Perspektive Kowalczuks Ulli Blobels Dementi von zentralen Aspekten der | |
Akte nicht verständlich: „Das ist keine Akte eines IM, der unentwegt | |
moralisch zu verurteilende Arbeit geleistet hat. Er hätte die Wahrheit | |
sagen können, und niemand würde es ihm übel nehmen – klar mussten solche | |
Sachen wie in Peitz auf allen Ebenen abgesichert werden. Aber jetzt glaube | |
ich Blobel gar nichts mehr. Er schadet nicht nur sich – völlig unnötig –, | |
sondern auch dem Ruf von Peitz! Free Jazz liebte ich in der DDR, weil er | |
der perfekte Ruf nach Freiheit, der ideale Ausdruck von Freiheit in der | |
Diktatur war. Und nun das!“ | |
## Das Vermächtnis der Musik | |
„Ich kenne andere antiautoritäre Leute, die auch für die Stasi gearbeitet | |
haben oder Verpflichtungserklärungen unterschrieben haben“, sagt Thomas | |
Krüger im Café des Charlottenburger Literaturhauses. Der langjährige | |
Blobel-Vertraute und [5][Präsident der Bundeszentrale für politische | |
Bildung,] die den ersten Teil der von Ulli Blobel herausgegebenen | |
Bücherreihe „Woodstock am Karpfenteich“ publiziert hat, wirkt gelassen, | |
obwohl er weder die Stasiakte von Ulli Blobel noch den Inhalt von „A | |
People’s Music“ kennt. | |
Er sagt jedoch, dass diese nicht zwingend mit dem bisherigen Ruf des | |
Festivals und seinem ehemaligen Leiter unvereinbar seien. Eine historische | |
Umdeutung der Jazzwerkstatt Peitz und der Arbeit von Ulli Blobel aufgrund | |
der neuen Erkenntnisse? Die sieht Krüger eher skeptisch. | |
Wichtig bleiben für ihn die historische Einzigartigkeit, Erlebnisse von | |
Zuschauern und das Vermächtnis der Musik, die bei der Jazzwerkstatt Peitz | |
gespielt wurde – unabhängig von einer möglichen IM-Tätigkeit Ulli Blobels: | |
„Das, was dort erlebt worden ist von den Leuten, die Musik, die dort | |
gespielt worden ist, bleibt von so einem Vorwurf – ob es nun wahr ist oder | |
nicht wahr – unberührt.“ | |
Das stimmt. Was aber nicht unberührt bleibt, ist die größere Geschichte | |
drumherum – ein Vermächtnis, zu dem die Bundeszentrale für politische | |
Bildung maßgeblich beigetragen hat. Deshalb wirkt Krügers anfängliches | |
Desinteresse an einer Ergänzung der bisherigen historischen Dokumentation | |
der Jazzwerkstatt Peitz so verwunderlich. So sieht er keine Notwendigkeit | |
einer zusätzlichen medialen Kontextualisierung auf der Website der | |
Bundeszentrale oder gar einer Änderung zum ersten Band von „Woodstock am | |
Karpfenteich“ angesichts des Inhalts der Stasiakte von IM Thomas. | |
Auch die Forschungsergebnisse von „A People’s Music“ scheinen Krüger egal | |
zu sein. Kaldeweys Buch werde „nicht so richtig ernst genommen. Aber ich | |
kann’s schlecht beurteilen, ich habe es nicht gelesen.“ Teil eins von | |
„Woodstock am Karpfenteich“ sei eh vergriffen, eine Neuauflage nicht | |
geplant. Nur wenn er valide, überprüfbare Ergebnisse zu dem Thema hätte, | |
würde er gern mit Ulli Blobel ein Interview führen – idealerweise zusammen | |
mit einem Zeitgeschichtler, denn „das gehört zur Seriosität dazu, um nicht | |
drum herumzureden“. | |
## Chancen vor Gericht gleich null | |
Ulli Blobel hat nun angekündigt, eine grafologische Überprüfung der aus der | |
Akte von IM Thomas stammenden Verpflichtungserklärung durchführen zu | |
lassen, um zu beweisen, dass es nicht seine Handschrift sei. Dies wäre aber | |
nicht der einzige eigenhändig verfasste Bericht in seiner Akte. | |
Die meisten stammen aus Teil zwei der Akte, dem Berichtsteil, zu dem | |
Blobel, weil er von der Behörde als Mitarbeiter der Stasi eingestuft wurde, | |
laut Stasiunterlagengesetz der Zugang streng untersagt wird, um eventuelle | |
Opfer zu schützen. Er darf nur in Teil eins, die von der Stasi geführte | |
Personalakte, Einsicht nehmen. Aber es steht ihm natürlich frei, mithilfe | |
eines Rechtsanwalts gegen die Einstufung als IM zu klagen. | |
Nach Kowalczuks Dafürhalten stehen Blobels Chancen, damit vor Gericht zu | |
gewinnen, bei null. Nichtsdestotrotz scheint die Neudeutung der Ereignisse | |
in der Jazzwerkstatt Peitz von 1973 bis 1981 durch „A People’s Music“ nic… | |
in allen Punkten den bisherigen Perspektiven zu widersprechen. Vor allem | |
die historische Bedeutung der Musik, die dort in jenen Jahren live gespielt | |
wurde, und ihr anhaltender Einfluss auf eine Generation ostdeutscher | |
Musiker und Zuhörer:innen ist unbestreitbar. Ulli Blobel hat für den | |
Jazz in der DDR zweifelsohne Wichtiges geleistet. Und im Westen auch. Aber | |
das ist nicht die ganze Geschichte. | |
## Nicht schwarzweiß, sondern grau | |
Ulli Blobel war sicher nicht der einzige IM-Verdächtige in der | |
DDR-Jazzszene. Es gab andere, sie sind in Helma Kaldeweys Buch gut | |
dokumentiert. Dazu gehörte zum Beispiel der Musikmanager Werner Sellhorn | |
mit seiner langjährigen Tätigkeit unter dem Decknamen IM Zirkel. Auch | |
Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer wurde eine nicht besonders belastende | |
Tätigkeit während seiner Studienzeit zwischen 1964 und 1968 als IM Gunther | |
Sander nachgewiesen. | |
In der Tat war Ulli Blobel nicht mal der einzige IM-Verdächtige in seiner | |
Familie: Mitte der 1990er wurde durch Recherchen des Schriftstellers | |
Joachim Walter bekannt, dass Blobels Schwiegervater, Reclam-Verleger Hans | |
Marquardt, als IMB (die zweithöchste Stufe der Kollaboration) für die Stasi | |
gearbeitet hat und dabei unter anderem Franz Fühmann und Günter Grass | |
ausspähte. Nach Walter schloss diese Tatsache die vielen wichtigen | |
kulturellen Leistungen von Marquardt – wozu auch die maßgebliche | |
Erweiterung der Universalbibliothek gehört – nicht aus. | |
Und es gibt auch Beispiele berühmter Musiker, deren Verdienste aufgrund | |
einer IM-Tätigkeit nicht vernichtet wurden, etwa Peter „Cäsar“ Gläser von | |
der Klaus Renft Combo und Peter Meyer von den Puhdys. Nur das Bild ihrer | |
Vergangenheit wurde dadurch komplexer. Und grauer. | |
Die DDR war bekanntlich in vieler Hinsicht grau, ihre Geschichte auch – wie | |
Ilko-Sascha Kowalczuk und Thomas Krüger mehrfach betonen. Dies könnte zur | |
Jazzwerkstatt Peitz von Journalisten, Musikhistorikern und staatlichen | |
Institutionen besser reflektiert werden – vor allem aber von der | |
Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Nationalbibliothek. | |
Letztere wird Ulli Blobel anlässlich der Übergabe des | |
Jazzwerkstatt-Peitz-Archivs im September ehren. Das wäre doch die perfekte | |
Gelegenheit, ein historisch akkurates Bild des Festivals in den vielen | |
subtilen grauen Schattierungen zu malen statt in Schwarz-Weiß. Oder gar in | |
Schwarz-Rot-Gold. | |
Das hat die Geschichte der Jazzwerkstatt Peitz verdient, aber auch ihre | |
Zukunft, die jetzt in den Händen von Marie Blobel liegt. | |
15 Jun 2024 | |
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