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# taz.de -- Wie verstrickt war Ulli Blobel?: Die Liebe der Stasi zum Jazz
> Ulli Blobel war ein wichtiger Akteur in der Jazzszene der DDR. Doch eine
> Stasi-Akte wirft einen dunklen Schatten auf sein musikalisches
> Vermächtnis.
Bild: Wie weit reichte die geistige Freiheit? Peitz-Festival 1982
Ulli Blobel ist in Jazzkreisen eine Legende. In Büchern und Feuilletons
wird der 73-Jährige als zentrale Figur [1][der DDR-Jazzgeschichte]
beschrieben, die nicht nur Generationen von ostdeutschen Jazzfans die
Bewusstseinshorizonte erweitert hat, sondern mit der Jazzwerkstatt Peitz
einen Ort des „Freiheitspathos“ und „Nonkonformismus“ verkörperte, wie…
FAZ kürzlich schrieb; eine Anomalie der antiautoritären musikalischen und
geistigen Freiheit mitten im repressiven Überwachungsstaat.
Dieses Jahr werden Blobel und die Jazzwerkstatt Peitz, die er zusammen mit
Peter „Jimi“ Metag gründete, von der Deutschen Nationalbibliothek zum 35.
Jubiläum der friedlichen Revolution geehrt, die Jazzwerkstatt habe „einen
[…] bislang nicht hinreichend gewürdigten Beitrag zur Geschichte des Jazz
in der DDR geleistet“ und „das Potenzial von Instrumentalmusik als Medium
des Widerstands gegen staatlich verordnete Kulturpraktiken und ideologische
Beschränkungen aufgezeigt“, heißt es zur Begründung.
„Antiautoritär“, „geistige Freiheit“, „Widerstand“. Hehre Worte. A…
gibt da ein Problem: Es existiert nämlich eine umfangreiche Stasiakte mit
dem Decknamen IM Thomas, die Ulli Blobel zugeschrieben wird, und sie
erzählt eine andere Geschichte.
Bei so viel Berichterstattung und Dokumentation zur Jazzwerkstatt Peitz ist
es kurios, dass dieser Teil der mit Ulli Blobel verbundenen biografischen
Materialien in Deutschland bisher kaum mediale Erwähnung findet. Wenn
überhaupt, dann wurde er nur in akademischen Journalen angesprochen, und
zwar ausschließlich in Bezug auf ein Buch der in Westdeutschland geborenen
und in den USA lebenden Musikwissenschaftlerin Helma Kaldewey.
Sie hat einen kleinen, aber wichtigen Teil ihres 2020 auf Englisch
erschienenen Werks „A People’s Music: Jazz in East Germany, 1945–1990“
(Cambridge University Press) Blobels IM-Tätigkeit gewidmet.
## Dutzende Berichte über die Jazzszene
Eine IM-Tätigkeit, die acht Jahre angedauert haben soll: von der
eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung als IM Thomas im Jahre
1973 über Dutzende, zum Teil eigenhändig verfasste Berichte über die
Jazzszene, etwa viele Westkontakte, bis zum Stasi-Abschlussbericht 1981. Zu
diesem Zeitpunkt wurde die Zusammenarbeit aufgrund zunehmender
Unzuverlässigkeit des IM Thomas beendet.
Laut Kaldewey war Blobels IM-Verpflichtung und langjährige Zusammenarbeit
mit der Stasi nicht nur eine von vielen notwendigen Bedingungen in der
Entstehung der Jazzwerkstatt Peitz, sondern stellte zudem die Basis der
Freiheit dar, die Blobel in seiner außergewöhnlich internationalen
Veranstaltertätigkeit genossen hat: „So klein seine Unterschrift auch war,
dieser ‚Vertrag‘ gab Blobel einen Freibrief für seine großen Ambitionen u…
ermöglichte es ihm, im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein beispielloses
internationales Musikförderungsgeschäft aufzubauen, das die kleine Stadt
Peitz zu einem Ort von legendärem Ruf in der Geschichte des DDR-Jazz machen
sollte.“
Die akribisch recherchierte und international geschätzte Studie „A People’s
Music“ nimmt die Akte von IM Thomas nicht als Hauptthema. „Es gibt viel
interessantere Aspekte zum Thema Jazz in der DDR“, beantwortet Kaldewey
eine E-Mail-Anfrage der taz. Da hat sie nicht unrecht. Und trotzdem spielt
die Tätigkeit von IM Thomas eine wichtige Rolle in Kaldeweys Neudeutung im
Narrativ über die Entwicklung der Beziehung des SED-Staats zum Jazz.
Darüber hinaus stehen die Akte und die Thesen Kaldeweys auch zum Teil in
starkem Kontrast zur bisherigen Rezeption von Blobel und der Jazzwerkstatt
Peitz.
Deren kulturelle Bedeutung ist unbestritten. Vor dem Verbot durch den
SED-Staat 1982 galt Peitz neun Jahre lang als Insel des progressiven Free
Jazz und der improvisierten Musik in Osteuropa. Im tiefsten Brandenburg
haben sowohl die wichtigsten Akteure der DDR-Jazzszene wie [2][Günter
„Baby“ Sommer,] Ernst Ludwig Petrowsky, Conny Bauer und Uschi Brünning
gespielt als auch radikale Westdeutsche wie Peter Kowald und [3][Peter
Brötzmann,] die Briten Evan Parker und Paul Lovens, der südafrikanische
Schlagzeuger Louis Moholo, der in Westberlin lebende schwedische
Schlagzeuger Sven-Åke Johansson – und viele andere mehr.
## Eine gut gepflegte Beziehung zur Stasi
Auch eigentlich verbotene deutsch-deutsche Kollaborationen, etwa das
Sommer-Winter-Duo von Peter Kowald (West) und Schlagzeuger Gunter Sommer
(Ost), kamen dort zustande. Unter den Ohren und Augen der Stasi.
Unglaublich.
Gute 27 Jahre, nachdem er 1984 mit einem Ausreiseantrag die DDR für immer
verließ, hat Ulli Blobel sein Festival 2011 zusammen mit dem
Jazzwerkstatt-Mitgründer Peter Metag wieder ins Leben gerufen. 2023 hat es
sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Für die Ausgabe im August 2024
übernimmt Ulli Blobels Tochter Marie Blobel die Leitung und will die
Jazzwerkstatt in die Zukunft lenken. Sie ist selbst eine bekannte
Jazzkuratorin.
Doch das kulturpolitische und historische Vermächtnis ihres Vaters ist
etwas trüber. Die Stasiakte des IM Thomas umfasst 1.128 Blätter, von denen
etwas weniger als ein Viertel einzusehen sind und einiges geschwärzt
bleibt. Die Akte zeugt nicht nur von einer langjährigen, gut gepflegten
Beziehung zur Stasi, die durch regelmäßige Treffen und Berichte gehalten
wird, sondern enthält auch Berichte von anderen IMs in der Jazzszene über
Blobel. Überwachung der Überwachenden war für die Stasi ein wichtiger
Kontrollmechanismus, um den Wahrheitsgehalt der Information zu überprüfen –
und damit auch ihre Umgebung im Griff zu halten.
Worauf Kaldewey in ihrer Studie weniger eingeht: In anderen Teilen der Akte
steht sehr wohl, dass IM Thomas seine Skrupel in der Personenbelastung
abgelegt haben soll und intensiver an verschiedenen „Zielen“ arbeitete –
darunter ein für die Stasi interessanter Westkontakt. In einem weiteren
Bericht ist zudem die Belastung eines Veranstaltungskonkurrenten durch IM
Thomas belegt.
So entsteht das Gesamtbild einer Person, die ihre engen Kontakte
weitestgehend schützen will, aber gelegentlich Gegner und sonstige
Hindernisse ins Auge fasst, etwa Störenfriede beim Festival und Rivalen im
Kreis der Konzertveranstalter. Aber wie ist die Akte insgesamt zu bewerten?
## Nur eine Phantasiegestalt?
„Wer ein IM Thomas war, weiß ich nicht. Ich vermute, es war eine
Phantasiegestalt der Stasi selbst. Werbungen für den
Staatssicherheitsdienst, über Musiker, über Personen im Publikum oder über
ausländische Kontakte zu berichten, lehnte ich immer mit Nachdruck ab“,
schrieb Ulli Blobel vor Kurzem in einem offenen Brief an das renommierte
Magazin German Studies Review der Johns Hopkins University, nachdem eine
deutschsprachige Rezension des Buchs „A People’s Music“ erschienen war, d…
teils online einzusehen ist.
Vom Buch selbst hält Ulli Blobel offensichtlich auch nicht viel: „Im
Übrigen erscheint mir die wissenschaftliche Erkenntnis auf sehr niedrigem
Niveau, auf dem eines Vorabiturienten zu liegen.“
An einem sonnigen Frühlingstag sitzt Ulli Blobel neben Tochter Marie Blobel
auf seinem Balkon in Berlin-Tiergarten und schüttelt den Kopf. Die Musik
von US-Saxofonist Lee Konitz fließt sanft aus der Stereoanlage im
Wohnzimmer und vermischt sich mit Vogelgezwitscher. „Ich kenne ja alle
Leute in der Aktenbehörde, und ich habe gesagt, wenn es was Interessantes
gibt, schickt’s mir doch mal“, sagt er betont lässig.
In den Dokumenten, die Blobel angeblich zugeschickt bekommen hat, sieht er
viele Lügen und Ausgedachtes – nur den Abschlussbericht über seine
Unzuverlässigkeit als Informationsquelle, den wertet er positiv. Vehement
leugnet Blobel nicht nur die Echtheit der angeblich eigenhändig
geschriebenen Verpflichtungserklärung, sondern auch, dass er überhaupt
jemals unter dem Decknamen IM Thomas für die Stasi tätig gewesen sei.
Auf dem Balkon holt er gegen Kaldewey aus: „Das ist ein sehr schlechtes
Buch, sehr schlecht recherchiert. Was sie da von mir schreibt, kann nur
jemand schreiben, der nicht aus dem Osten kommt. Denn wer im Osten was
aufgebaut hat oder was Kulturelles gemacht hat, musste mit dem
Staatsapparat zusammenarbeiten.“
## Peitz als oppositioneller Ort
Blobel gibt zwar zu, sich mit der Stasi getroffen zu haben, um Konzerte
durchführen zu können – mindestens hundert Mal, schätzt er. An seinem
antiautoritären Ruf und der bisherigen Lesart der Jazzwerkstatt Peitz als
eines oppositionellen Orts hält er mit Nachdruck fest. „Die Legende sagt ja
oft: Peitz ist verboten worden wegen der Musik. Die Jazzwerkstatt ist nicht
verboten worden wegen der Musik, sondern wegen uns. Weil wir nicht
einzufangen waren.“
Durch einen Anwalt teilt Blobel der taz später mit, dass er zu keiner Zeit
eine Verpflichtungserklärung abgegeben habe. Die wohl in seiner Stasiakte
befindliche Verpflichtungserklärung sei nicht durch ihn verfasst worden; er
habe zu DDR-Zeiten keine Konkurrenten sowie Veranstalter für die Stasi
ausgespäht und sich so keinen entsprechenden Wettbewerbsvorteil verschafft.
Richtig sei nur, dass es damals notwendig war, als Künstler mit der Stasi
zusammenzuarbeiten.
Diese Zusammenarbeit habe er zu keiner Zeit zur Vorteilsverschaffung
gegenüber Konkurrenten oder anderen Künstlern missbraucht. Vielmehr sei sie
für ihn ein notwendiges Übel gewesen. Er sei von der Staatssicherheit dazu
aufgefordert worden, habe es jedoch nicht getan.
Blobel legt weiter Wert darauf, dass er nicht geäußert habe, dass seine
Akte der Stasi gefälscht sei. Da er den gesamten Inhalt der Akte gar nicht
kenne, könne er hierzu keine Stellung nehmen. Er bestreite nicht, mit der
Stasi zusammengearbeitet zu haben. Er stehe zu seiner Zusammenarbeit mit
der Staatssicherheit und begründet diese mit der Notwendigkeit, dass
Veranstalter stets mit den entsprechenden Behörden eines Landes, in dem sie
wirken, zusammenarbeiten müssten. So sei es auch in der DDR gewesen, in der
er als Veranstalter tätig war und darum notwendigerweise auch mit der
Staatssicherheit zusammenarbeiten musste. So weit die Anwaltspost.
## Ende der finanziellen Autonomie
Laut den Berichten in der Akte von IM Thomas – und somit der Interpretation
Kaldeweys – hat sich Ulli Blobel aus Wut 1981 entschieden, mit der Stasi
nicht mehr zu kooperieren, weil sie ihm verwehrte, zu zwei Konzerten in den
Westen zu reisen. Die Folge war laut Kaldewey die Beendigung der
finanziellen und organisatorischen Autonomie durch die Stasi. Es folgte ein
Audit wegen verschiedenster Arten von Betrug im Bezug auf die Finanzen
seiner Veranstaltungen – Praktiken, die in der Akte von IM Thomas gut
belegt werden und von der Stasi zunächst toleriert wurden, bis IM Thomas
sich nicht mehr kooperativ zeigte.
Dieser Erklärung verweigert sich Blobel. „Jimi Metag und ich waren nie in
einer Gewerkschaft oder in irgendeiner politischen Vereinigung. Niemals.
Und die konnten uns einfach keine Befehle geben. Und deswegen ist es
verboten worden, als es zu groß wurde – und als die Friedensbewegung in
Ostberlin aufkam, Schwerter zu Pflugscharen, in dieser Bewegung waren wir
aktiv! Und das war der Stasi suspekt. Und deswegen wurde es verboten.“
Wie wahrscheinlich ist es, dass wichtige Teile der Stasiakte von IM Thomas
verfälscht wurden? „Null Prozent. Punkt.“ Das sagt der aus Ostberlin
stammende DDR-Historiker und Jazzfan [4][Ilko-Sascha Kowalczuk,] ohne zu
zögern. Kowalczuk war über viele Jahre Projektleiter in der
Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde.
Er hat nach eigenen Angaben Tausende Akten eingesehen und auch eine Studie
über angeblich gefälschte MfS-Akten durchgeführt. Diese hat ergeben, dass
nur ganz wenige IM-Akten, weniger als ein Dutzend von Hunderttausenden,
gefälscht worden waren. Und die hat die Stasi alle selbst enttarnt.
## Gefälschte Akten führten zur Entlassung
Stasiakten waren als Arbeitsunterlagen der Mitarbeiter und für die Arbeit
angelegt, nicht für nachträgliche Forschungen. Daher war die Stasi daran
interessiert, dass sie realistisch und möglichst wahrheitsgetreu geführt
wurden. Unentwegt überprüften Vorgesetzte die Aktenführung. Niemand ist so
intensiv überwacht worden von der Stasi wie Stasimitarbeiter selbst, sagt
Kowalczuk. 24 Stunden jeden Tag ihr ganzes Leben. Lügen wurden streng
bestraft; gefälschte Akten konnten zur Entlassung führen. Verlässliche
Information und die Ausnutzung dieser zu Kontrollzwecken war das
Kerngeschäft.
Im Fall der Akte über IM Thomas erklärt Kowalczuk das so: „Bei dieser Akte
war der Zeitraum viel zu lang, über den sie angeblich gefälscht worden
wäre. Berichte und Überwachungsstruktur der Stasi sprechen dem ganz
eindeutig entgegen. Es gibt auch keine internen Widersprüche. Das ist von
Blobel eine Schutzbehauptung, eine unsinnige zumal. Es ist eine typische
Akte aus dem Kulturbereich, wo ein IM zeitweise mit der Stasi redet in der
Hoffnung, für seine Arbeit oder seine Projekte Unterstützung von der Stasi
zu erhalten.“
Diese Einschätzung stützt die Forschungsergebnisse Kaldeweys, in denen
Blobel nicht als böser Agent, sondern als Opportunist auftaucht. So ist aus
der Perspektive Kowalczuks Ulli Blobels Dementi von zentralen Aspekten der
Akte nicht verständlich: „Das ist keine Akte eines IM, der unentwegt
moralisch zu verurteilende Arbeit geleistet hat. Er hätte die Wahrheit
sagen können, und niemand würde es ihm übel nehmen – klar mussten solche
Sachen wie in Peitz auf allen Ebenen abgesichert werden. Aber jetzt glaube
ich Blobel gar nichts mehr. Er schadet nicht nur sich – völlig unnötig –,
sondern auch dem Ruf von Peitz! Free Jazz liebte ich in der DDR, weil er
der perfekte Ruf nach Freiheit, der ideale Ausdruck von Freiheit in der
Diktatur war. Und nun das!“
## Das Vermächtnis der Musik
„Ich kenne andere antiautoritäre Leute, die auch für die Stasi gearbeitet
haben oder Verpflichtungserklärungen unterschrieben haben“, sagt Thomas
Krüger im Café des Charlottenburger Literaturhauses. Der langjährige
Blobel-Vertraute und [5][Präsident der Bundeszentrale für politische
Bildung,] die den ersten Teil der von Ulli Blobel herausgegebenen
Bücherreihe „Woodstock am Karpfenteich“ publiziert hat, wirkt gelassen,
obwohl er weder die Stasiakte von Ulli Blobel noch den Inhalt von „A
People’s Music“ kennt.
Er sagt jedoch, dass diese nicht zwingend mit dem bisherigen Ruf des
Festivals und seinem ehemaligen Leiter unvereinbar seien. Eine historische
Umdeutung der Jazzwerkstatt Peitz und der Arbeit von Ulli Blobel aufgrund
der neuen Erkenntnisse? Die sieht Krüger eher skeptisch.
Wichtig bleiben für ihn die historische Einzigartigkeit, Erlebnisse von
Zuschauern und das Vermächtnis der Musik, die bei der Jazzwerkstatt Peitz
gespielt wurde – unabhängig von einer möglichen IM-Tätigkeit Ulli Blobels:
„Das, was dort erlebt worden ist von den Leuten, die Musik, die dort
gespielt worden ist, bleibt von so einem Vorwurf – ob es nun wahr ist oder
nicht wahr – unberührt.“
Das stimmt. Was aber nicht unberührt bleibt, ist die größere Geschichte
drumherum – ein Vermächtnis, zu dem die Bundeszentrale für politische
Bildung maßgeblich beigetragen hat. Deshalb wirkt Krügers anfängliches
Desinteresse an einer Ergänzung der bisherigen historischen Dokumentation
der Jazzwerkstatt Peitz so verwunderlich. So sieht er keine Notwendigkeit
einer zusätzlichen medialen Kontextualisierung auf der Website der
Bundeszentrale oder gar einer Änderung zum ersten Band von „Woodstock am
Karpfenteich“ angesichts des Inhalts der Stasiakte von IM Thomas.
Auch die Forschungsergebnisse von „A People’s Music“ scheinen Krüger egal
zu sein. Kaldeweys Buch werde „nicht so richtig ernst genommen. Aber ich
kann’s schlecht beurteilen, ich habe es nicht gelesen.“ Teil eins von
„Woodstock am Karpfenteich“ sei eh vergriffen, eine Neuauflage nicht
geplant. Nur wenn er valide, überprüfbare Ergebnisse zu dem Thema hätte,
würde er gern mit Ulli Blobel ein Interview führen – idealerweise zusammen
mit einem Zeitgeschichtler, denn „das gehört zur Seriosität dazu, um nicht
drum herumzureden“.
## Chancen vor Gericht gleich null
Ulli Blobel hat nun angekündigt, eine grafologische Überprüfung der aus der
Akte von IM Thomas stammenden Verpflichtungserklärung durchführen zu
lassen, um zu beweisen, dass es nicht seine Handschrift sei. Dies wäre aber
nicht der einzige eigenhändig verfasste Bericht in seiner Akte.
Die meisten stammen aus Teil zwei der Akte, dem Berichtsteil, zu dem
Blobel, weil er von der Behörde als Mitarbeiter der Stasi eingestuft wurde,
laut Stasiunterlagengesetz der Zugang streng untersagt wird, um eventuelle
Opfer zu schützen. Er darf nur in Teil eins, die von der Stasi geführte
Personalakte, Einsicht nehmen. Aber es steht ihm natürlich frei, mithilfe
eines Rechtsanwalts gegen die Einstufung als IM zu klagen.
Nach Kowalczuks Dafürhalten stehen Blobels Chancen, damit vor Gericht zu
gewinnen, bei null. Nichtsdestotrotz scheint die Neudeutung der Ereignisse
in der Jazzwerkstatt Peitz von 1973 bis 1981 durch „A People’s Music“ nic…
in allen Punkten den bisherigen Perspektiven zu widersprechen. Vor allem
die historische Bedeutung der Musik, die dort in jenen Jahren live gespielt
wurde, und ihr anhaltender Einfluss auf eine Generation ostdeutscher
Musiker und Zuhörer:innen ist unbestreitbar. Ulli Blobel hat für den
Jazz in der DDR zweifelsohne Wichtiges geleistet. Und im Westen auch. Aber
das ist nicht die ganze Geschichte.
## Nicht schwarzweiß, sondern grau
Ulli Blobel war sicher nicht der einzige IM-Verdächtige in der
DDR-Jazzszene. Es gab andere, sie sind in Helma Kaldeweys Buch gut
dokumentiert. Dazu gehörte zum Beispiel der Musikmanager Werner Sellhorn
mit seiner langjährigen Tätigkeit unter dem Decknamen IM Zirkel. Auch
Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer wurde eine nicht besonders belastende
Tätigkeit während seiner Studienzeit zwischen 1964 und 1968 als IM Gunther
Sander nachgewiesen.
In der Tat war Ulli Blobel nicht mal der einzige IM-Verdächtige in seiner
Familie: Mitte der 1990er wurde durch Recherchen des Schriftstellers
Joachim Walter bekannt, dass Blobels Schwiegervater, Reclam-Verleger Hans
Marquardt, als IMB (die zweithöchste Stufe der Kollaboration) für die Stasi
gearbeitet hat und dabei unter anderem Franz Fühmann und Günter Grass
ausspähte. Nach Walter schloss diese Tatsache die vielen wichtigen
kulturellen Leistungen von Marquardt – wozu auch die maßgebliche
Erweiterung der Universalbibliothek gehört – nicht aus.
Und es gibt auch Beispiele berühmter Musiker, deren Verdienste aufgrund
einer IM-Tätigkeit nicht vernichtet wurden, etwa Peter „Cäsar“ Gläser von
der Klaus Renft Combo und Peter Meyer von den Puhdys. Nur das Bild ihrer
Vergangenheit wurde dadurch komplexer. Und grauer.
Die DDR war bekanntlich in vieler Hinsicht grau, ihre Geschichte auch – wie
Ilko-Sascha Kowalczuk und Thomas Krüger mehrfach betonen. Dies könnte zur
Jazzwerkstatt Peitz von Journalisten, Musikhistorikern und staatlichen
Institutionen besser reflektiert werden – vor allem aber von der
Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Nationalbibliothek.
Letztere wird Ulli Blobel anlässlich der Übergabe des
Jazzwerkstatt-Peitz-Archivs im September ehren. Das wäre doch die perfekte
Gelegenheit, ein historisch akkurates Bild des Festivals in den vielen
subtilen grauen Schattierungen zu malen statt in Schwarz-Weiß. Oder gar in
Schwarz-Rot-Gold.
Das hat die Geschichte der Jazzwerkstatt Peitz verdient, aber auch ihre
Zukunft, die jetzt in den Händen von Marie Blobel liegt.
15 Jun 2024
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