# taz.de -- Thomas Krüger über „Staatsversagen“: „Das ist typisch deuts… | |
> Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung über die | |
> Konjunktur des Begriffs „Staatsversagen“ und dessen Anklänge an die DDR. | |
Bild: Was ist der Staat? | |
taz: Herr Krüger, immer öfter hört und liest man den Begriff | |
„Staatsversagen“. Was verstehen Sie darunter? | |
Thomas Krüger: Der Begriff wird fachlich eigentlich in zwei Kontexten | |
benutzt. Einmal in der Entwicklungspolitik, wenn es um Failed States geht. | |
Und in der Wirtschaftspolitik, wo Markt versus Staat verhandelt wird unter | |
dem Gesichtspunkt, dass der Staat weniger effizient sei als der Markt und | |
deshalb besser dem Markt bestimmte Aufgaben übertragen werden sollten. | |
Reden wir über die zweite Variante. Ist mit „Staatsversagen“ eine Art | |
Notstand gemeint? | |
Nun, da wird ja eine Behauptung aufgestellt. Nämlich dass der Staat zu | |
bestimmten Leistungen nicht in der Lage sei. Besser wäre eigentlich, | |
staatliches Handeln unter dem Begriff „Governance“ zu verhandeln; dieser | |
Terminus bezieht nämlich auch politische Prozesse und das Agieren einer | |
lebendigen Zivilgesellschaft ein. In Deutschland hingegen wird | |
„Staatsversagen“ eher verkürzt benutzt, nämlich mit einer | |
überproportionalen Erwartungshaltung. | |
Wo fängt Staatsversagen für Sie an? | |
Für mich wäre Staatsversagen, wenn nicht nur die staatlichen Institutionen, | |
sondern auch die Zivilgesellschaft nicht mehr in der Lage sind, politische | |
Prozesse zu regeln. In Krisen- und Transformationsprozessen fällt so was | |
natürlich besonders ins Auge. Und gerade dann wäre es hilfreich, nicht zu | |
verkürzen. Denn das verstellt den Blick darauf, dass es eigentlich zu einer | |
funktionierenden Regulierung öffentlicher Angelegenheiten mehr braucht als | |
nur den Staat. | |
Zu beobachten sind die Ausschläge im Gebrauch des Wortes: Mal ist es die | |
Polizei, die erst einen Tag nach einem Wohnungseinbruch auftaucht, dann | |
wiederum der Fall des Attentäters Anis Amri, der unbehelligt den Mord an | |
zwölf Menschen vorbereiten konnte. Oder das Versagen des | |
Sicherheitsapparats im Fall des NSU. | |
… oder wenn ich in den Urlaub fahre und die Autobahn gerade umgebaut wird. | |
Warum taucht das Wort immer häufiger auf? | |
Das hat zu tun mit einer in Deutschland sehr verbreiteten besonders großen | |
Erwartungshaltung gegenüber dem Staat, der meine Partikularinteressen | |
möglichst umfassend und zeitnah durchzusetzen hat. Dass der Staat aber | |
eigentlich das Allgemeinwohl und nicht die Einzelinteressen zu behandeln | |
hat, wird dabei übergangen. Das führt dann dazu, dass der Staat schnell als | |
Versager verstanden wird. Dabei funktionieren bei uns, verglichen mit | |
vielen anderen Ländern, die öffentlichen Verwaltungen immer noch gut. | |
Der Vorwurf des Staatsversagens kommt meist aus der Opposition. Alice | |
Weidel etwa benutzte den Begriff, als bekannt wurde, dass 27.000 | |
ausreisepflichtige Ausländer für deutsche Behörden unauffindbar sind. Die | |
„Altparteien“ seien nicht in der Lage, die „Zivilbevölkerung“ zu schü… | |
das sei „Staatsversagen“. Hat sie nicht, abgesehen von der dräuenden | |
Rhetorik, auch irgendwie recht damit? | |
Nein, hat sie nicht. Weil sie von einem instrumentellen Staatsbegriff | |
ausgeht. Außerdem plädiere ich dafür, ihre Behauptung mal kritisch zu | |
prüfen. Ist das denn so? Und wenn es so ist, trifft dann der Begriff | |
„Staatsversagen“ überhaupt zu? Dass wir in Transformationsprozessen | |
kritische Situationen haben, heißt noch lange nicht, dass staatliche | |
Institutionen nicht in der Lage sind, auf lange Sicht die Probleme in den | |
Griff zu bekommen. Gerade wenn aus diesem rechtspopulistischen Kontext | |
agiert wird, wird der Begriff „Staatsversagen“ schnell überdehnt in | |
Richtung Obrigkeitsstaat. Da denkt man unweigerlich an den | |
Nationalsozialismus. Und an die DDR. | |
Was wollen eigentlich immer alle von einem „Staat“, den sie doch auch gern | |
kritisieren oder lächerlich machen? | |
Das ist typisch deutsch. Der Staat ist entweder gut oder böse, schwarz oder | |
weiß. Er wird viel zu wenig als Teil eines größeren Projektes wahrgenommen, | |
an dem wir alle beteiligt sind. Als eine Gemeinschaft, in der Interessen | |
ausgehandelt werden müssen, die Kompromisse braucht, die wir als Individuen | |
nicht in der Lage wären zu schließen. | |
Eine künftige Koalition hat einen zusätzlichen Finanzspielraum von 30 | |
Milliarden Euro. Wo sollte der Staat das Geld investieren? | |
Ganz wichtig ist die öffentliche Infrastruktur. Die ist die | |
Grundvoraussetzung für die Teilhabe der Gesellschaft. Gemeingüter wie | |
Kitas, Schulen, aber auch der Verkehr, Energie und Klima spielen eine | |
wichtige Rolle. Die müssen jedem zur Verfügung stehen. Daran, ob der Staat | |
das hinkriegt, kann sich seine legitimierende Kraft beweisen. | |
Noch mal zur Wortwahl. Welchen Einfluss könnte und sollte politische | |
Bildung auf Sprache nehmen? | |
Politische Bildung muss Sprache ermöglichen, nicht regulieren. Wir sind | |
nicht die Sprachpolizei, sondern diejenigen, die mit politischer Bildung | |
Problembewusstsein induzieren können, die motivieren können zu sensibler | |
Sprache. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit wäre kontraproduktiv. | |
Sie sind in der DDR sozialisiert worden. Welche Rolle hat dort Sprache bei | |
der politischen Einflussnahme gespielt? | |
Sprache war in der DDR ein Instrument, Vielfalt zu domestizieren und | |
stattdessen die Positionen der führenden Partei zu manifestieren. | |
Eigentlich war Sprache ein Instrument für einen elitären Herrschaftszirkel. | |
Der Staat wurde damals wahlweise als kümmernd oder als strafend | |
wahrgenommen. Egal war man ihm nie. Heute ist es dem Staat relativ wurscht, | |
was jeder aus seinem Leben macht. Ist die Demokratieferne mancher | |
Ostdeutscher vielleicht der Ruf nach staatlicher Zuwendung? | |
Ja, das hatte ein paternalistisches Moment. Ich würde von totalitärer | |
Fürsorge sprechen. Heute hat man den Eindruck, dass das eine Rolle spielt, | |
wenn von Staatsversagen gesprochen wird. Der Staat als großer Erzieher, der | |
alles leistet, aber auch für alles verantwortlich gemacht werden kann – auf | |
diese Weise kann man sich aus der eigenen Pflicht als Teil der Gesellschaft | |
stehlen. Im Grunde ist das ein undemokratisches Staatsverständnis. | |
Es gibt die These, Ostdeutsche hätten nach der Wende so viel mit ihrer | |
Anpassung zu tun gehabt, dass bis heute keine Zeit für die politische | |
Selbstfindung und Meinungsbildung blieb. Was meinen Sie dazu? | |
Zweifelsohne ist es so, dass es für Ostdeutsche so was wie | |
Transformationsstress gab. Das heißt aber auch, dass es unter ihnen eine | |
Art Resistenz gegen Umbrüche gibt. Die Kompetenzen, die Ostdeutsche | |
aufgebaut haben, Transformationsprozesse zu bewältigen, sind ausgeprägter | |
als im Westen. Dort kennt man das noch gar nicht, es steht den | |
Westdeutschen aber noch bevor. | |
Ach ja? | |
Ja, das würde ich schon sagen. Ökonomisch gesehen, war doch die deutsche | |
Einheit ein Konjunkturprogramm für manche Regionen Westdeutschlands. Die | |
Steuerpolitik der Kohl-Regierung auf den Erwerb von Ostgrundstücken war ein | |
riesiger Kapitaltransfer von Ost nach West – nicht umgekehrt, wie das Wort | |
„Aufbau Ost“ immer suggeriert. Auf der einen Seite ging die ökonomische | |
Transformation voran, aber gesellschaftspolitisch gibt es weiter | |
Nachholbedarf. | |
Nimmt im Osten nicht gerade die Demokratieferne zu? | |
Ich wäre vorsichtig damit, Ostdeutschen als einer Art Ethnie pauschal eine | |
gewisse Demokratierückständigkeit zuzuschreiben. Viele Ostdeutsche, die in | |
den Westen gegangen sind und dort in den Großstädten ökonomisch Fuß gefasst | |
haben, verhalten sich ja nicht so wie die Leute ihrer Herkunftsregion. Wie | |
ich mich politisch positioniere, hängt also immer von sozialkulturellen | |
Kontexten ab. Das Assimilationspotenzial Ostdeutscher im Westen ist | |
offenbar so stark, dass sie dort den Aufstieg schaffen. Und in | |
Ostdeutschland ist es eben manchmal das ganze Gegenteil. Wenn keine | |
ökonomischen Perspektiven da sind, keine ausreichende Bildung, bist du eher | |
auf Heimat als reaktionären Begriff zurückgeworfen. | |
Eine letzte Frage. Sie haben kürzlich eine Quote für Ostdeutsche in | |
öffentlichen Ämtern angeregt. Das ist doch Quatsch. Oder? | |
Es braucht eine Sensibilität für eine kulturelle Vielfalt. Eine heterogener | |
werdende Gesellschaft muss sich in den Eliten repräsentieren. Nur so rüsten | |
wir uns für gesellschaftspolitische Debatten, die Unterschiede | |
respektieren. Vielfalt muss in den Institutionen abgebildet sein. Wenn | |
also die Institutionen weiß und westdeutsch bleiben, gibt es nicht nur ein | |
Akzeptanzdefizit bei Ostdeutschen, sondern auch bei Menschen mit | |
Migrationshintergrund oder Trans/Inter-Perspektiven. Das meine ich mit | |
Repräsentation eines Staates, der sich der Allgemeinheit verschreibt. | |
10 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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haben. |