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# taz.de -- Kolumne Macht: Am Ende des Bremswegs
> Autobahn sackt ab? Keine Schule wegen Lehrermangel? Die Gesellschaft
> scheint sich an Staatsversagen im Namen der Schuldenbremse gewöhnt zu
> haben.
Bild: Voll gesperrte A 20 nach Absackung: Keiner regt sich auf?
Distanz schärft gelegentlich den Blick, und ein längerer Urlaub im Ausland
kann das eigene Land in neuem Licht erscheinen lassen. Auch in einem
trüberen. Drei Wochen lang habe ich Medien nicht systematisch und im
Hinblick auf meine eigenen Arbeitsbereiche hin gelesen, sondern zufällig
und beiläufig. Dabei bin ich auf Meldungen gestoßen, die ich sonst
vermutlich gar nicht zur Kenntnis genommen hätte. Sie ergeben ein
bedrückendes Bild.
Auf Spiegel-Online sehe ich ein verstörendes Foto. Asphalttrümmer, ein
riesiges Loch, eine Kraterlandschaft. Teile der Ostseeautobahn A 20 sind in
der Erde versunken, genauer: im Moor, auf dem die Fahrbahn gebaut wurde.
Übrigens nicht zur Zeit der Napoleonischen Kriege, sondern erst 2005.
Schlimm und merkwürdig genug, dass so etwas passieren kann. Noch schlimmer
und merkwürdiger aber, dass es kaum jemanden zu interessieren scheint –
außer denjenigen, wie ich vermute, die von der Sperrung der Autobahn
betroffen sind.
## Unbefriedigende Erklärung
Als wahrscheinlichster Grund für das Absacken der Fahrbahn wird bislang
vermutet, dass tragende Betonpfähle in der Torfschicht gebrochen sind. Ich
finde diese Erklärung unbefriedigend. Wer hat den Bauauftrag ausgeführt?
Wer hat ihn abgenommen? Wurde gepfuscht, wurde gespart, wurde betrogen –
oder hat so etwas als bedauerlicher Schicksalsschlag hingenommen zu werden?
Und: Warum geht eigentlich kein Aufschrei durch unsere doch sonst recht
leicht erregbare Gesellschaft?
An Mängel der Infrastruktur hat man sich hierzulande offenbar vollständig
gewöhnt. Die zerstörte Ostseeautobahn löst keine Massenbewegung
investigativer Journalistinnen und Journalisten aus. Ist doch ein
Regionalthema. So, wie die Tatsache, dass in manchen Schulen Bremerhavens
für viele Kinder faktisch die Vier-Tage-Woche gilt. Der Grund: hoher
Krankenstand und Lehrermangel. Um den Unterrichtsausfall möglichst gerecht
zu verteilen, haben sich Schulen entschlossen, für ganze Klassen den
Unterricht an einem Wochentag komplett zu streichen.
Wie bitte? Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, müssen mit
staatlichen Zwangsmaßnahmen rechnen. Aber was passiert einem Staat – noch
dazu einem der reichsten der Welt -, der seine Kernaufgaben nicht mehr
wahrnimmt? Man sollte mit dem Wort „Staatsversagen“ nicht bei jeder
Gelegenheit um sich werfen. Manchmal jedoch gibt es keinen anderen
passenden Ausdruck, um einen Zustand zu beschreiben.
Dass die Polizei bei Opfern von Wohnungseinbrüchen oft nur noch so genannte
Kondolenzbesuche macht, weil ihr Mittel und Personal für Ermittlungen
fehlen, hat sich herumgesprochen. Mit Geschichten endloser Wartezeiten für
einen Termin bei einem Berliner Bürgeramt langweilt man mittlerweile selbst
die geduldigsten Freunde. Die Witze über den Pannen-Flughafen BER sind auch
schon alle gemacht. Weniger bekannt ist, dass Neonazis manche Stadtteile
von Dortmund so fest im Griff haben, dass Aktivisten gegen Rechts ihre
Namen nicht mehr an die Türklingel zu schreiben wagen.
Wenn der öffentliche Raum erst einmal anfängt zu verwahrlosen, dann geht es
schnell bergab. Über Jahre hinweg waren Schuldenbremse und Sparzwänge die
beherrschenden Koordinaten der Politik, denen sich alle Regierungen – auf
Bundes- wie auf Länderbene – unterworfen haben. Die Folgen sehen wir jetzt:
Die Infrastruktur dieses Staates erinnert in weiten Bereichen inzwischen
eher an ein Schwellenland als an einen reichen Industriestaat. Und worüber
reden die Jamaika-Sondierer? Darüber nicht.
5 Nov 2017
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
Infrastruktur
Lehrermangel
Kriminalität
Sondierung
Austerität
Flüchtlingspolitik
Staat
Jamaika-Koalition
Hollywood
Der Spiegel
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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