| # taz.de -- Kolumne Macht: Tatsachen statt Gefühle | |
| > Eine Regierung, die Entscheidungen an Meinungsumfragen ausrichtet, | |
| > handelt nicht demokratisch, sondern verantwortungslos. | |
| Bild: Ist die Meinung unserer Autorin tatsächlich „Lichtjahre“ von der Meh… | |
| Die Frage war in höflichem Ton gestellt, und sollte – wie Herr M., der | |
| Autor der Leserzuschrift, betonte – nicht ironisch verstanden werden: Ob | |
| mir bewusst sei, wie viele „Lichtjahre“ meine politische Meinung zur | |
| Migrationsfrage von der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung entfernt sei? | |
| Doch, ja. Zumindest halte ich für möglich, dass dies so ist. | |
| Ganz sicher bin ich nicht, denn Herr M. weist mich in diesem Zusammenhang | |
| auch darauf hin, dass die „Merkel’sche Willkommenskultur“ in Umfragen | |
| regelmäßig von mehr als der Hälfte der Befragten abgelehnt werde. Nun kann | |
| ich mir beim besten Willen nichts mehr unter einer „Willkommenskultur“ der | |
| Kanzlerin und anderer Mitglieder der geschäftsführenden Bundesregierung | |
| vorstellen. | |
| Ob das Flüchtlingsabkommen mit der türkischen Regierung Erdoğan gemeint | |
| ist, die Aussetzung des Familiennachzugs für bestimmte Geflüchtete, | |
| Abschiebungen nach Afghanistan oder die Unterstützung für die Küstenwache | |
| des Bürgerkriegslandes Libyen, die uns Flüchtende mit rigiden Mitteln vom | |
| Hals hält? Das alles halte ich auch für falsch, aber ich vermute mal: An | |
| all das hat Herr M. nicht gedacht. | |
| Er schreibt: „Die Menschen spüren, im Osten sensibler als im Westen, dass | |
| bei einem Andauern der illegalen Massenzuwanderung ihre Kinder und Enkel | |
| einmal schlechter leben werden als sie selbst.“ Wenn ein Bürger eines der | |
| reichsten, stabilsten Länder der Welt das für einen hinreichenden Grund | |
| hält, um die Schotten dicht zu machen, dann zeigt er damit, was er ist: ein | |
| wahrer Menschenfreund. Das wäre selbst dann der Fall, wenn die Ansicht von | |
| Herrn M. auf Tatsachen und nicht lediglich auf ein vages „Spüren“ gegründ… | |
| wäre. „Andauern der illegalen Massenzuwanderung“? Findet nicht statt. | |
| ## Früher war auch nicht alles besser | |
| Was ja aber Herrn M. und viele andere Leute nicht daran hindert, unbeirrt | |
| das Gegenteil zu glauben. Das ist ihr gutes Recht. Sagt allerdings nichts | |
| darüber aus, ob sich eine andere Meinung im historischen Urteil als richtig | |
| oder als falsch erweisen wird. Es spielt keine Rolle, ob eine Ansicht | |
| „Lichtjahre“ von einer Mehrheitsmeinung entfernt ist. Es hat auch Zeiten | |
| gegeben, in denen die Sklaverei, die Prügelstrafe und die Verweigerung des | |
| Wahlrechts für Frauen für richtig gehalten wurde. Heute ist das anders. | |
| Früher war vielleicht mehr Lametta, aber trotzdem nicht alles besser. | |
| Herr M. schreibt weiter: „Wenn Demokratie auch bedeutet, den Willen der | |
| Bevölkerungsmehrheit zu berücksichtigen, dann haben wir in der | |
| Migrationspolitik eine Diktatur.“ Da irrt er. Eine Regierung, die ihre | |
| Entscheidungen an Meinungsumfragen ausrichtet, handelt nicht demokratisch, | |
| sondern verantwortungslos. Für Kurskorrekturen sind Wahlen da. | |
| Offensichtlich hält eine Mehrheit der Deutschen die Migrationspolitik eben | |
| nicht für so falsch, wie Herr M. glaubt. Sonst hätte die AfD bei der | |
| Bundestagswahl nicht 12,6, sondern über 50 Prozent der Stimmen bekommen | |
| müssen. | |
| All das sind Selbstverständlichkeiten, warum nehme ich eine einzelne | |
| Zuschrift so wichtig? Weil es viele Mails wie die von Herrn M. gibt, | |
| allerdings meist weniger höflich formuliert. Weil ich es deprimierend | |
| finde, dass es schwieriger zu werden scheint, sich – ungeachtet aller | |
| Meinungsverschiedenheiten – auf die grundlegenden Spielregeln des | |
| demokratischen Systems zu verständigen. Und weil dies die Tage der guten | |
| Wünsche fürs Neue Jahr sind. Mein Wunsch: Dass lautstarke Forderungen nach | |
| Berücksichtigung des vermeintlichen „Mehrheitswillens“ sich künftig | |
| wenigstens an Tatsachen und nicht mehr an Gefühlen orientieren. Wünschen | |
| wird man ja noch dürfen. | |
| 30 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Gaus | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlingspolitik | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Meinungsumfrage | |
| Meinungsumfrage | |
| Sigmar Gabriel | |
| Donald Trump | |
| SPD-Fraktion | |
| Sondierung | |
| Jamaika-Koalition | |
| Infrastruktur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Umstrittenes Politikerranking: Ist Söder der beliebteste Politiker? | |
| Zum zweiten Mal wird CSU-Chef Markus Söder in der Bild zum beliebtesten | |
| Politiker Deutschlands gekürt. Ist da was dran? | |
| Kolumne Macht: Angst schlägt Anstand | |
| Und Tschüss, Martin Schulz. Möchte man von einer Partei regiert werden, die | |
| so mit ihrem einstigen Hoffnungsträger umspringt? Ich jedenfalls nicht. | |
| Kolumne Macht: Präsident auf der Siegerstraße | |
| Donald Trump hat politisch viel erreicht. Auch das Enthüllungsbuch und | |
| Ferndiagnosen über seinen Geisteszustand ändern daran nichts. Leider. | |
| Kolumne Macht: Die SPD, immer wieder überraschend | |
| Seit der Bundestagswahl haben die Sozialdemokraten doch einiges | |
| zustandegebracht. Aber das ist jetzt wirklich nicht als Belobigung gemeint. | |
| Kolumne Macht: In der Systemkrise | |
| So wie CDU und SPD in die Sondierungsgespräche gehen, vergraulen sie selbst | |
| treueste Anhänger. Ihnen fehlt aber auch etwas Entscheidendes. | |
| Kolumne Macht: Scheitert, bitte | |
| Es wäre eine gute Nachricht, wenn die Jamaika-Sondierungen platzten. Zu | |
| Neuwahlen oder einer Staatskrise muss das nicht führen. | |
| Kolumne Macht: Am Ende des Bremswegs | |
| Autobahn sackt ab? Keine Schule wegen Lehrermangel? Die Gesellschaft | |
| scheint sich an Staatsversagen im Namen der Schuldenbremse gewöhnt zu | |
| haben. |