| # taz.de -- Kommentar Politik und Journalismus: Die unsichtbare Grenze der Disk… | |
| > Die „Spiegel“-Reportage über Martin Schulz wäre besser nie erschienen. | |
| > Was sagt es aus, wenn Spitzenpolitiker sich bereitwillig entblößen? | |
| Bild: Martin Schulz lässt die Grenze zwischen dem geschützten und dem öffent… | |
| Der Spiegel-Reporter Markus Feldenkirchen hat den SPD-Kanzlerkandidaten | |
| Martin Schulz aus großer Nähe im Wahlkampf beobachtet und eine informative, | |
| einfühlsame Reportage geschrieben. Das Heft hat sich gut verkauft. | |
| Martin Schulz kommt in dem Text nicht schlecht weg. Sein Verhalten ist – | |
| fast – durchweg menschlich verständlich, er wirkt nicht unsympathisch. Der | |
| Politiker mag dies nützlich finden. Für den Mann, der gerade eine schwere | |
| Niederlage erlitten hat, ist es vielleicht tröstlich. | |
| Die Öffentlichkeit gewinnt Einblicke. Sie erfährt etwas über das Innenleben | |
| der SPD, über die Professionalität – oder Unprofessionalität – der | |
| Wahlkampagne, über die Person des Kandidaten. | |
| Alles gut also? Nur Gewinner, allüberall? [1][Eine Sternstunde des | |
| Journalismus?] Nein. Es wäre schön gewesen, diese Reportage wäre nie | |
| erschienen. | |
| Martin Schulz hat die Grenze zwischen dem geschützten Raum, in dem man auf | |
| ein gewisses Maß an Diskretion vertrauen darf, und dem öffentlichen Raum | |
| aufgegeben. Das ist keine lässliche Sünde. Das ist ein Kulturbruch. | |
| ## Das Wesen von Klatsch | |
| Der Fehler liegt nicht beim Reporter. Die Formulierung „Politiker und | |
| Medien“ hat sich eingebürgert, oft werden beide Begriffe gedankenlos und | |
| fast automatisch in einem Atemzug genannt. Eine gefährliche Tendenz. Sie | |
| legt den Verdacht nahe, „die politische Klasse“ handele stets in einem | |
| unterstellten „gemeinsamen Interesse“. Das ist falsch. Politiker und Medien | |
| spielen in verschiedenen Teams – oder sollten es zumindest tun. Jedenfalls | |
| in einer parlamentarischen Demokratie. | |
| Natürlich wollte Markus Feldenkirchen so dicht wie irgend möglich an den | |
| SPD-Kanzlerkandidaten herankommen. Das ist sein Job. Er hat seine | |
| Möglichkeiten genutzt, und er hat sich – soweit das von außen zu beurteilen | |
| ist – nicht unfair verhalten gegenüber seinem Protagonisten. | |
| Aber viele Szenen, die in der Reportage geschildert, und Äußerungen, die | |
| zitiert werden, gehen die Öffentlichkeit schlicht nichts an. Was ja nicht | |
| bedeutet, dass sie sich nicht dafür interessiert. Im Gegenteil. Menschen | |
| interessieren sich immer vor allem für das, was sie nichts angeht. Das ist | |
| das Wesen von Klatsch, und davon leben zahlreiche Großkonzerne. | |
| Zum Klatsch gehören allerdings auch noch zwei weitere Faktoren. Zum einen: | |
| das feine Gespür dafür, wo die Grenzen der Vertraulichkeit verlaufen. Wer | |
| mit dem Kollegen über die Chefin lästert, darf davon ausgehen, dass der | |
| Inhalt des Gesprächs nicht Stunden später auf Facebook nachzulesen ist. | |
| Wird dieses Vertrauen enttäuscht, dann kann das sogar justiziabel sein. | |
| Zum anderen: Opfer von Klatsch tun im Regelfall alles, was möglich ist, um | |
| zu verhindern, dass Informationen nach außen dringen. Angelina Jolie und | |
| Brad Pitt haben über die Modalitäten ihrer Trennung nicht vor laufenden | |
| Kameras geredet. Aus gutem Grund. | |
| ## Bereitwilliges Entblößen | |
| Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn deren Spitzenpolitiker sich | |
| bereitwillig entblößen? | |
| Journalisten sind nicht die Betreuer derjenigen, über die sie schreiben. | |
| Diese vor sich selbst zu schützen ist nicht ihre Aufgabe – täten sie es, | |
| wäre es sogar ein Verstoß gegen das Berufsethos. Aber wie alle anderen | |
| Leute müssen auch sie die Grenzen beachten, die das Persönlichkeitsrecht | |
| setzt. Was ist in Martin Schulz vorgegangen, freiwillig auf den Schutz der | |
| Privatsphäre zu verzichten? | |
| Möglicherweise hat er sich von dem anfänglichen Hype um seine Person | |
| anstecken lassen und geglaubt, Feldenkirchen werde zum Chronisten seines | |
| unvergleichlichen Triumphzuges. Als sich dann abzeichnete, dass von Triumph | |
| keine Rede sein konnte, hätte er die dem Spiegel gegebene Zusage nicht mehr | |
| zurückziehen können, ohne dass dies als vorzeitiges Eingeständnis seiner | |
| Niederlage gewertet worden wäre. Blöde Situation für einen | |
| Kanzlerkandidaten. | |
| Aber Martin Schulz ist ja nicht der Einzige, der die unsichtbare Grenze der | |
| Diskretion überschreitet. In diesem Zusammenhang vielleicht noch wichtiger | |
| ist eine Reportage, die in der Zeit erschienen ist: Bundespräsident | |
| Frank-Walter Steinmeier hatte am Abend der Bundestagswahl „eine Handvoll | |
| Vertraute“ in das Wohnzimmer seines Privathauses gebeten. Der Journalist | |
| Patrik Schwarz saß dabei. | |
| Flammkuchen gab’s, und, so der Reporter, „ein behaglicher Hauch von | |
| sozialdemokratischer Verschworenheit“ lag über der Runde. Bis dann die | |
| ersten Hochrechnungen kamen, die – wen wundert’s – keine Freude auslöste… | |
| ## Hat der Bundespräsident sein Amt verstanden? | |
| Der Bundespräsident ist qua Amt zu parteipolitischer Neutralität | |
| verpflichtet. Dieses ungeschriebene Gesetz ist sinnvoll, da der Präsident | |
| im deutschen System außerhalb des Parteienstreits steht und von der | |
| Gesamtbevölkerung anerkannt werden soll. Möglichst. Kein Mensch erwartet | |
| jedoch, dass der Privatmann – oder, sollte es je dahin kommen: die | |
| Privatfrau – ihre, auch parteipolitischen, Überzeugungen am Tag der Wahl an | |
| der Garderobe abgeben. Sie sollen sie künftig einfach nur für sich | |
| behalten. | |
| Ein Bundespräsident, der am Wahlabend einen Journalisten zu sich nach Hause | |
| einlädt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er eigentlich sein Amt und | |
| dessen Anforderungen verstanden hat. | |
| Vielleicht verzweifelt Steinmeier daran, dass er mit anderen Themen als mit | |
| einer Homestory kaum noch imstande ist, Aufmerksamkeit zu erregen. In der | |
| Tat treibt die Personalisierung von Politik seltsame Blüten. | |
| Die Geschichte über einen Politiker, der ein behindertes Flüchtlingskind | |
| aufnimmt, hätte gute Quoten. Allemal bessere als die über einen anderen | |
| Politiker, der sich durch einen Wust von Vorschriften quält, um | |
| herauszufinden, was getan werden muss, um die Situation behinderter | |
| Flüchtlingskinder grundsätzlich zu verbessern. | |
| Das sind die Gesetze der modernen Mediengesellschaft. Man muss sie nicht | |
| mögen. Aber was werden die Folgen sein, wenn man sich ihnen allzu | |
| bereitwillig anpasst? Mindestens die, dass in künftigen Wahlkämpfen alles | |
| als „Vertuschung“ bezeichnet werden wird, was bisher – zu Recht – unter | |
| Privatsphäre verstanden worden ist. | |
| ## Die Botschaft, die bleibt | |
| Martin Schulz hat sich, wie der Spiegel-Geschichte zu entnehmen ist, | |
| während des Wahlkampfs über Parteifreunde geärgert und auch über seine | |
| Partei insgesamt. Überrascht das jemanden? Selbst wenn er den Kampf ums | |
| Kanzleramt gewonnen hätte, dann wäre vermutlich in der Reportage von | |
| Feldenkirchen zu lesen gewesen, dass er über diesen und jene zu einem | |
| bestimmten Zeitpunkt wütend gewesen ist. | |
| Es ist wahr: Spitzenpolitiker werden immer häufiger und in immer stärkerem | |
| Maße als Schießbudenfiguren dargestellt – und viele ertragen das immer | |
| schwerer. Verständlich. Der Wunsch, als Menschen wahrgenommen zu werden, | |
| lässt sie Fehler machen. | |
| Schwere Fehler. Martin Schulz hat, wie wir jetzt wissen, schon lange | |
| gewusst, dass er die Wahl verlieren würde. Was im Hinblick auf seine | |
| analytischen Fähigkeiten durchaus beruhigend ist. Die Botschaft, die | |
| bleiben wird, lautet jedoch: Schulz hat sein Publikum angelogen, als er in | |
| Hallen und auf Marktplätzen von einem Sieg geredet hat, an den er selbst | |
| nicht mehr glaubte. Langfristig wird ihm das nicht nutzen. | |
| Datenschutz und Privatsphäre haben in Zeiten des Terrors und angesichts des | |
| wachsenden Bedürfnisses nach Sicherheit nur noch eine kleine Lobby. Schulz | |
| und Steinmeier schwächen deren Position weiter. Wie gut, dass es Angela | |
| Merkel gibt. | |
| In gewisser Hinsicht erinnert die Bundeskanzlerin an Mary Poppins. | |
| Unbeugsam, stets gepflegt, tadellose Manieren – und niemals bereit, | |
| irgendeinen Einblick in ihr Innenleben zu gewähren. Kühl und professionell. | |
| Man muss in politischer Hinsicht kein Fan von ihr sein, um ihre | |
| Selbstinszenierung großartig zu finden. Und darin ein Zeichen der Hoffnung | |
| zu sehen. Im Hinblick auf das Menschenrecht der Privatsphäre. | |
| 7 Oct 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bettina Gaus | |
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