# taz.de -- Roman über Flüchtlingsbiografien: Der gute Richard | |
> In „Gehen, ging, gegangen“ will ein deutscher Rentner mehr über | |
> Flüchtlinge wissen. Nach und nach wird er vom Beobachter zum | |
> Unterstützer. | |
Bild: Hier, im Protestcamp am Oranienplatz, lebten die Flüchtlinge, die Erpenb… | |
Fast zwei Jahre lang war der Kreuzberger Oranienplatz vorübergehende Heimat | |
von Flüchtlingen, die kein offizielles Bleiberecht in Deutschland genossen, | |
da sie, zumeist aus Afrika kommend, auf Lampedusa erstmals europäischen | |
Boden betreten hatten. Im April 2014 wurde der Platz nach langwierigen | |
Verhandlungen geräumt, die Männer wurden vorübergehend in Wohnheimen | |
untergebracht und hofften – zumeist vergeblich, wie sich zeigen sollte – | |
auf ein positives Ergebnis ihrer jeweiligen Einzelfallprüfung. | |
Damals zog die Autorin Jenny Erpenbeck los, um die früheren Bewohner des | |
Platzes zu treffen und sich deren Geschichten erzählen zu lassen. Nein, auf | |
dem Platz selbst sei sie nie gewesen, sagt sie. Erst in den späteren Heimen | |
habe sie die Männer kennengelernt. | |
„Ich bin von einer Angestellten in die Zimmer geführt worden und habe | |
gesagt, dass ich ein Buch schreiben möchte und dass ich Leute suche, die | |
bereit sind, mir ihre Geschichte zu erzählen.“ Natürlich sei das nicht bei | |
allen der Fall gewesen, fügt sie gleich hinzu. „Manche denken, es hat | |
keinen Sinn, für andere ist es zu schwer.“ | |
Die 48-Jährige sitzt entspannt auf dem gemütlich breitgesessenen Sofa in | |
ihrem Arbeitszimmer, in Jeans und T-Shirt und ungeschminkt. Das Cello des | |
Sohnes, das quer auf dem Boden lag, hat sie kurzerhand noch zur Seite | |
geräumt, damit die Besucherin ohne Umwege den Sessel erreicht. | |
## Der rigorose Bruch | |
Ihr jüngster Roman „Gehen, ging, gegangen“ dreht sich also um die gerade so | |
aktuelle Flüchtlingsthematik. Es ist ein auf den ersten Blick erstaunliches | |
Thema für eine Autorin, die ihre Themen bislang eher nicht im aktuellen | |
politischen Geschehen suchte, sondern vergangene Schichten des Lebens unter | |
dem heute Sichtbaren freilegte. Woher dieses Interesse, im aktuell | |
gesellschaftlich mitzumischen? | |
Die Antwortet kommt prompt. „Das liegt doch schon auf der Linie, über die | |
ich sonst auch nachdenke“, sagt sie. Es gehe ihr um Flucht, den rigorosen | |
Bruch in den Biografien der Flüchtlinge und die Frage, „ob und wie die ein | |
neues Leben anfangen können“. Sie habe schon immer Geschichten von Orts- | |
und Identitätswechseln erzählt. „Ich versuche in diesem Buch, unsere | |
Wirklichkeit, das, was wir für selbstverständlich halten, auch mit den | |
Augen der Flüchtlinge anzuschauen.“ | |
Allerdings ist der Roman eindeutig aus sehr deutscher, vielleicht könnte | |
man sogar sagen, ostdeutscher Perspektive erzählt. Das ist ja auch in | |
Ordnung. Er enthält viele individuelle, sympathisierende Porträts von | |
afrikanischen Asylsuchenden. Aber die Sichtweise ist durchgängig die eines | |
deutschen Rentners, eines emeritierten Professors der Altphilologie, der | |
ein behagliches, aber eher einsames Pensionärsdasein in seinem Haus an | |
einem brandenburgischen See führt. | |
Richard, so sein Name, verfolgt im Fernsehen die Geschehnisse um den | |
Berliner Oranienplatz und beschließt, die ehemaligen Besetzer für ein | |
privates Forschungsprojekt zu befragen. Das Phänomen des | |
Zu-viel-Zeit-Habens ist es, das ihn mit den Flüchtlingen verbindet. „Er | |
will etwas darüber wissen, womit man Zeit verbringt, wenn man keinen Inhalt | |
mehr haben darf“, erklärt Jenny Erpenbeck. | |
## Vom Beobachter zum Unterstützer | |
„Er darf den Inhalt nicht mehr haben, weil er in Rente gegangen ist, und | |
diese jungen Männer dürfen keinen Inhalt haben, weil sie nicht arbeiten | |
dürfen.“ Und fügt noch hinzu: „Mein Eindruck war auch wirklich, dass diese | |
Männer, die ja in Wirklichkeit Männer im besten Alter sind, eigentlich | |
gezwungen werden, alt zu sein.“ | |
Übrigens sei ihr Protagonist Richard zu Beginn ja ein sehr kühler | |
Beobachter – wenngleich „auch mein eigenes Verhalten mein Studienobjekt | |
gewesen ist, nicht nur das Verhalten der Flüchtlinge hier, sondern auch | |
mein Blick und der Blick meiner Freunde auf bestimmte Dinge“. Ähnlich wie | |
der fiktive Richard sich von einem Beobachter zu einem Unterstützer | |
entwickelt und auch seinen Freundeskreis mit einbezieht, wenn die eigenen | |
Hilfemöglichkeiten erschöpft sind, so hat auch die Autorin selbst bald | |
ihren Status als objektive Chronistin hinter sich gelassen. | |
Viele Details aus ihrem eigenen Erleben habe sie in das Leben ihrer | |
Hauptfigur verlegt. „Den Klavierunterricht, zum Beispiel, oder den | |
Grundstückskauf in Ghana.“ | |
Im Roman erwirbt Richard für einen Flüchtling ein Grundstück in Ghana, das | |
seiner Familie die Subsistenzwirtschaft ermöglichen soll. Einen anderen | |
führt er in die Grundlagen der europäischen Musik ein. Er begleitet die | |
Männer zu offiziellen Terminen. Auch das habe die Autorin selbst getan. | |
## Die Geschichte als Grundierung | |
Erpenbeck: „Natürlich geht man dann, wenn’s schwierig wird, mit zum Anwalt | |
oder zum Arzt oder zu irgendwelchen offiziellen Stellen. Man kann schlecht | |
sagen, ich schreib jetzt hier nur ein Buch, und der Rest ist mir egal.“ Der | |
Kreis von Personen, mit denen sie über längere Zeit immer wieder zu tun | |
hatte, habe etwa zehn Männer umfasst. | |
Ihre Freunde hätten rückblickend gesagt, das sei wirklich ein interessantes | |
Jahr gewesen. „Wir haben so viel über grundlegende Dinge geredet. Man kommt | |
bei den Flüchtlingen einfach um die zentralen Dinge nicht herum. Viele | |
haben schlimme Sachen erlebt, Eltern oder Freunde verloren, und sind sehr | |
traurig oder depressiv. Und dann gibt’s auch Dinge, die irgendwie witzig | |
oder merkwürdig sind. Aber als Grundierung ist die Geschichte, die sie mit | |
sich rumschleppen, immer da.“ | |
Diese direkte, ungeschützt naive Art, an das Fremde heranzugehen, macht | |
auch Erpenbecks Roman mit seiner schlichten, sprachlichen Schönheit sehr | |
lesenswert. Obwohl sie selbst sagt, man laufe Gefahr, „dass von einem | |
Lösungen erwartet werden“, wenn man sich des so aktuellen Flüchtlingsthemas | |
literarisch annimmt, die es bei in „Gehen, ging, gegangen“ einfach nicht | |
geben könne. Es ist nicht ihr und Richards Thema. | |
Richard ist einer, an dem man sieht, wie gelungenes Menschsein gehen | |
könnte. Einer, der zuerst angesichts des Fremden fremdelt und den | |
Afrikanern Namen aus der klassischen Mythologie gibt, um sie besser | |
auseinanderhalten zu können, aber der später mit der Hand Fufu aus der | |
Schüssel isst. | |
## Der Unterschied zwischen „denen“ und „uns“ | |
Einer, der den bürgerlichen deutschen Gutmenschen unter uns zeigt, dass es | |
auch okay ist, das Fremde als fremd zu betrachten, wenn man nur bereit ist, | |
sich dafür zu öffnen. In dieser naiv scheinenden, aber doch ziemlich | |
didaktischen Grundhaltung liegt vielleicht auch die unbestimmt ostdeutsch | |
wirkende Perspektive dieses Romans. | |
Die nie ganz abgelegte Disposition, zwischen „denen“ und „uns“ zu | |
unterscheiden, steckt darin, aber, auf einer übergeordneten Ebene, auch die | |
tiefe Überzeugung von der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit von Literatur. | |
Beides könnte ebenso gut nach hinten losgehen. Bei Erpenbeck aber nimmt | |
beides eine literarische Haltung ein, die durch ihre unbedingte | |
Aufrichtigkeit überzeugt. | |
Die wahren Geschichten der Männer vom Oranienplatz haben darin ein ebenso | |
würdiges literarisches Abbild gefunden wie das fiktive Porträt eines | |
deutschen Intellektuellen als doch ziemlich guter Mensch. Oder was soll | |
dieser Richard eigentlich für einer sein? Vielleicht so eine Art deutsches | |
Über-Ich? Jenny Erpenbeck lacht über die Frage. Dann sagt sie: „Also, ich | |
mag ihn eigentlich ganz gern.“ | |
13 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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