Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Graphic Novel über Flüchtlinge: Eine Frau stirbt im Mittelmeer
> Reinhard Kleist rekonstruiert im „Traum von Olympia“ die letzten drei
> Jahre der Läuferin Samia Yusuf Omar, die nach Europa wollte und dabei
> umkam.
Bild: Szene aus Reinhard Kleists „Traum von Olympia“
Das Boot ist voll! Drangvolle Enge herrscht auf dem lächerlich kleinen
Schlauchboot, das da versucht, das Mittelmeer von Afrika nach Europa zu
überqueren. Unter den schutzlos den Gewalten der Hochsee ausgesetzten
Passagieren befindet sich eine schmale junge Frau – Reinhard Kleist
zeichnet sie mit knochig hervorstechenden Schultern. Ihr Name ist Samia
Yusuf Omar und sie ist Ausgangspunkt und Hauptperson in Kleists Comic „Der
Traum von Olympia“.
Die reale Samia Yusuf Omar, geboren 1991, nahm 2008 als Leichtathletin für
Somalia an den Olmpischen Spielen von Peking teil. Und starb 21-jährig im
Meer beim Versuch, die Grenze zur Festung Europa zu überwinden. Dass ihr
Schicksal Aufmerksamkeit erregte, verdankt sich Samias Teilnahme bei den
Olympischen Spielen. Zwar schied die zierliche 200-m-Läuferin in Peking
bereits in der Vorrunde aus, genoss aber in Kleists Comic-Darstellung die
Anerkennung des Publikums. Auch bei den nächsten Spielen in London hoffte
sie dabei zu sein.
Doch die Realität in ihrer Heimatstadt Mogadischu ist wenig geeignet,
Träume wahr werden zu lassen. Kleist recherchierte ihre Biografie. Der
Vater wird erschossen, sie lebt mit der Mutter und den Kindern der nach
Finnland geflohenen Schwester Hodan mehr schlecht als recht. Die
Trainingsbedingungen sind heikel. Die Laufbahn im ehemals schmucken Stadion
ist von Einschusslöchern und Kratern durchzogen. Und die frauenverachtenden
Al-Shabaab-Milizen kontrollieren die Straßen und bedrohen die Sport
treibende Frau, so sie sie erkennen.
Samia beschließt deswegen, zu ihrer Tante Mariam nach Addis Abeba zu
ziehen. Aber auch in dem vergleichsweise liberaleren Land bekommt sie keine
Chance, zu trainieren. Wie schön würde es hingegen für sie als Sportlerin
in Europa sein, professionelles Training, Laufschuhe …
## Mit der Not der Flüchtlinge Geld verdienen
Kleist zeichnet, wie sich Samia zusammen mit Mariam an Schlepper wendet, um
gegen teure Bezahlung nach Italien zu kommen. Doch die strapaziöse Flucht
von Äthiopien über Sudan nach Lybien wird über ein Jahr dauern.
Undurchsichtige Schleuser brechen Versprechen, und es gibt viele, die mit
der Not und der Machtlosigkeit der Flüchtlinge Geld verdienen wollen.
Schließlich, nach wochenlangem Warten unter elenden Bedingungen, wird sie
sich in einem Boot in Tripolis nach Europa einschiffen.
Der Berliner Comic-Autor Reinhard Kleist reiste 2012 nach Palermo, um über
Flüchtlinge zu recherchieren, die hoffen, in Europa ein würdevolles Leben
führen zu können. Er war erschüttert über das, was er dort erfuhr. Er stieß
auch auf die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Samia stand während ihrer
Flucht via Facebook in Kontakt mit Familie und mit Freunden.
Kleist hat die mittlerweile gelöschten Einträge in seinem Comic
nachempfunden, um die Odyssee der auf sich allein gestellten Samia
darzustellen. Im Gespräch mit ihrer Schwester Hodan hat er die
Familiengeschichte rekonstruiert. Zunächst erschien sie als
Fortsetzungsstrip in der FAZ, nun hat Kleist den Comic neu bearbeitet.
## Große Hoffnung
In starken Schwarz-Weiß-Kontrasten rollen drei Jahre aus dem kurzen Leben
Samias vor uns ab. Es ist berührend, zu sehen, wie Samia trotz
Erniedrigung, Rassismus und verzweifelten, aussichtslos erscheinenden
Momenten an ihrer gefühlten Berufung zur Läuferin festhält. Wie Kleist die
mutige und energische junge Frau, die nur rennen will, aber ständig
irgendwo eingepfercht zum Stillstand gezwungen wird, immer schmaler und
geduckter werden lässt. Unsichtbarkeit ist fraglos überlebensnotwendig für
eine allein flüchtende Frau.
Die Empathie, die Kleist dem tragischen Scheitern einer großen Hoffnung,
eines unbedingten Lebenswillens entgegenbringt, ist auf jeder Seite
spürbar. In seiner schnörkellosen Klarheit, dem undramatischen Aufzeigen
von uns Wohlstandsbürgern überwiegend unvorstellbaren Entbehrungen und der
beiläufigen Vermittlung schwieriger, bürgerkriegszerrütteter Verhältnisse
in vielen afrikanischen Ländern wäre „Der Traum von Olympia“ ganz sicher
auch hervorragend als Schullektüre geeignet.
Er führt die Folgen der deutsch-europäischen
Flüchtlingsabschreckungspolitik namens Triton bewegend, aber unkitschig an
einem Einzelschicksal vor und lässt nur einen Schluss zu: Das „Boot
Europa“, wie bekloppt dieses Bild für eine Landmasse auch sein mag, ist
noch lange nicht voll.
27 Feb 2015
## AUTOREN
Katja Lüthge
## TAGS
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Somalia
Graphic Novel
Jenny Erpenbeck
Schwerpunkt Syrien
Frontex
Flüchtlinge
Geschichte
Afrika
Familie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Comicbiografie über Nick Cave: Der größte Dandy der Gegenwart
Lover, Mörder, Guru, Gott. Reinhard Kleist macht all die schönen Mythen um
den Musiker noch wahrer, als sie ohnehin schon sind.
Roman über Flüchtlingsbiografien: Der gute Richard
In „Gehen, ging, gegangen“ will ein deutscher Rentner mehr über Flüchtlin…
wissen. Nach und nach wird er vom Beobachter zum Unterstützer.
Graphic Novel „Der Araber von morgen“: Das kindliche Staunen
Riad Sattoufs neuer Comic „Der Araber von morgen“ legt humorvoll die
Widersprüche im panarabischen Selbstbild offen.
Flüchtlinge im Mittelmeer: Katastrophe vor Libyen
Überlebende und die Hilfsorganisation Save the Children berichten vom
Untergang eines Flüchtlingsschiffes im Mittelmeer: mehr als 400 Tote.
„Sea Watch“-Initiator über Flüchtlinge: „Wir fahren da jetzt einfach hi…
Eine Privatinitiative will mit der „Sea Watch“ ins Mittelmeer fahren, um
gegen die Politik der EU zu demonstrieren. Initiator Höppner erklärt die
Gründe.
Zwei neue Ritter-Comics: Sinn für das Überschüssige
Das Wüten der Inquisition und der Jakobsweg: Die neu übersetzten
„Ramiro“-Bände und die neu gezeichneten des „Schatzes der Tempelritter�…
Flüchtlingsauffanglager in Afrika: „Zynisch und realitätsfern“
Die EU-Staaten sind uneins, ob in Afrika Auffanglager für Flüchtlinge
eingerichtet werden sollen. Auch in Deutschland gehen die Meinungen weit
auseinander.
Comic über Krebserkrankung: Jemanden gehen lassen
Zärtlich schildert Judith Vanistendaels Comic die Auswirkungen einer
Krebsdiagnose. Sie nutzt die Mittel der bildnerischen Gestaltung voll aus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.