# taz.de -- Comicbiografie über Nick Cave: Der größte Dandy der Gegenwart | |
> Lover, Mörder, Guru, Gott. Reinhard Kleist macht all die schönen Mythen | |
> um den Musiker noch wahrer, als sie ohnehin schon sind. | |
Bild: Ein lebender Mythos, friedlich rauchend im Berlin der 80er Jahre | |
Nick Cave ist ein grausamer Gott. Gut möglich, dass kein Songschreiber so | |
viele Figuren auf dem Gewissen hat wie er. Der junge Glücksritter aus „The | |
Hammer Song“; Elisa Day, die sich in der Ballade „Where The Wild Roses | |
Grow“ in einen Psychopathen verliebt; der stumme Eucrid Eucrow aus Caves | |
Roman „Und die Eselin sah den Engel“; der Todestrakt-Insasse, der in dem | |
Song „The Mercy Seat“ auf dem elektrischen Stuhl endet: sie alle hat Cave | |
erschaffen – um sie schließlich sterben zu lassen. | |
In „Mercy on me“, der neuen Graphic Novel des in Berlin lebenden | |
Comicautors Reinhard Kleist, kehren die Song-Leichen nun zurück. Und sie | |
sind wütend auf ihren Schöpfer. | |
Kleist, zuletzt preisgekrönt für seine [1][Sportlerinnenbiografie] „Der | |
Traum von Olympia“, ist Experte für klingende Buchseiten. Für seinen | |
Johnny-Cash-Comic „Cash – I See a Darkness“ erhielt er den | |
Max-und-Moritz-Preis. Cave aber musste er sich anders nähern als Cash. Denn | |
Nicholas Edward Cave, Anglikanersohn aus Australien, ist ein genialer | |
Hochstapler. Und ein Lebender. Ein Grenzgänger, der beschloss, ein Mythos | |
zu werden – und schließlich einer wurde. Cave als Outlaw, Lover oder | |
Mörder, in allen Rollen schrieb er Popgeschichte. | |
„Wir haben Ideen ausgetauscht, ich habe ihm Vorschläge geschickt. Die hat | |
er angenommen, abgebügelt oder mit wohlwollender Nichtbeachtung | |
gestraft“, so Kleist über die Zusammenarbeit mit Nick Cave bei der | |
Entstehung des jetzigen Werks. Vor etwa vier Jahren haben sich Cave und | |
Kleist zum ersten Mal getroffen: vor der Kulisse eines nahenden Gewitters, | |
draußen in Brandenburg, wo Cave mit den Bad Seeds auf einem Festival | |
spielte. | |
„Klar, bei manchen Treffen hat er eine Rolle gespielt“, sagt Kleist. Aber | |
man sei sich im Laufe der Zeit nähergekommen. Die schönste Zusammenkunft | |
habe in London stattgefunden. „Nick und die Bad Seeds nahmen gerade ihr | |
Album ‚Skeleton Tree‘ auf. Da hat er die Maske fallen lassen.“ Kleist | |
fasziniert an Cave, dass er es mit wenigen Tönen schaffe, Welten entstehen | |
zu lassen. Nur gehe Cave halt meist nicht besonders freundlich mit seinen | |
Figuren um. | |
## Aus der Entzugsklinik zum Weltstar | |
„Ich wollte deswegen die Frage beantworten“, sagt Kleist, „was wohl | |
passiert, wenn ihn diese von ihm erschaffenen Figuren zur Rede stellen.“ | |
Und so lässt er seine Bildgeschichte dort beginnen, wo eine von Cave endet: | |
mit dem Jungen aus dem „Hammer Song“. Der erinnert – nach einer glücklos… | |
Odyssee dem Tod geweiht – seinen Erfinder jetzt daran, dass auch er einst | |
ausgezogen war, seinen Weg zu finden: vom australischen Kaff | |
Warracknabeal in die Welt. | |
Kleists Bildgeschichte begleitet Cave von der Band The Boys Next Door – | |
später The Birthday Party – in Australien über die wenig glorreichen Monate | |
in London und die zur Stadtlegende gewordenen Berliner Jahre bis vor die | |
Pforten der Entzugsklinik, um ihn schließlich in sein Leben als Weltstar zu | |
führen. Cave trifft im Storyverlauf auf seine langjährige Partnerin und | |
Muse Anita Lane, auf KünstlerInnen wie Siouxsie Sioux oder seinen | |
späteren Bandkollegen Blixa Bargeld. | |
Fakten und dichterische Fiktion sind bald kaum mehr zu trennen: Wenn sich | |
der „Hammer Song“-Junge an seinen liebsten Song von Nick Cave erinnert, ist | |
der Australier endgültig zum Schöpfer aufgestiegen, dessen gequälte | |
Kreaturen ihren eigenen Kosmos bevölkern. Jüngere Ereignisse, wie auch den | |
tragischen Unfalltod von Caves Sohn Arthur, blendet Kleist diskret aus. Es | |
geht ihm weniger um eine Gesamtbiografie – Kleist konzentriert sich auf die | |
Geschichte von Nick Caves Nick-Cave-Werdung. | |
Dabei habe er „rotziger und rauer“ als in seinen letzten Graphic Novels | |
sein wollen, sagt Kleist. Tatsächlich bringen seine expressiv, mitunter | |
aggressiv wirkenden Zeichnungen in Schwarz-Weiß Caves | |
Tod-und-Teufel-Balladen auch tonlos zum Klingen. Da geht das biblische | |
Bluesgewitter, das die Bad Seeds in „Tupelo“ heraufbeschwören, in schweren | |
Strichen auf die Buchseiten nieder; da steuert Cave als liebeskranker | |
Kapitän in „Cabin Fever“ die Besatzung ins dunkle Verderben. Und wenn The | |
Birthday Party ihre martialischen Konzerte geben, scheinen die Bilder so | |
richtig laut zu werden. | |
## Heilsbringer mit Totenkopfphysiognomie | |
Wie viele Versionen seiner selbst Cave entwarf, zeigt auch ein Artbook, das | |
begleitend zur Graphic Novel erscheint. Eingeleitet mit einem Vorwort von | |
Cave-Biograf Max Dax, dokumentieren weitere Zeichnungen, Skizzen sowie drei | |
illustrierte Songs Kleists Versuch, sich Nick Cave anzunähern. Wir treffen | |
den manischen Cave der Achtziger, den Cowboy, den Zeremonienmeister, den | |
jungen Romantiker. Kleist findet den Strich für nahezu jeden Nick Cave. | |
Auch für den älteren, wenn aus dem mürrischen, unerträglich arroganten | |
Youngster ein sinistrer Heilsbringer mit Totenkopfphysiognomie wird. | |
Am Ende von „Mercy on me“ singt Cave „Red Right Hand“ vor einem riesigen | |
Publikum. Und alles, was er dem geheimnisvollen Fremden im Song zuschreibt, | |
verkörpert er nun selbst: „He’s a god, he’s a man, he’s a ghost, he’… | |
guru.“ | |
Vom Beatles-Trickfilm „Yellow Submarine“ bis zu Raymond Pettibons | |
Gangsterpaar auf dem Cover der Sonic-Youths-Platte „Goo“ haben Comics im | |
Pop oft zur Mythenbildung beigetragen. Kleist macht mit „Mercy on me“ nun | |
all die schönen Lügen über den größten Dandy der Gegenwart noch wahrer, als | |
sie ohnehin schon sind. So wahr, dass Cave am Ende nicht mehr wissen wird, | |
ob es einen wie ihn wirklich gibt. | |
28 Aug 2017 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
## TAGS | |
Graphic Novel | |
Donald Trump | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
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