# taz.de -- Comic über Krebserkrankung: Jemanden gehen lassen | |
> Zärtlich schildert Judith Vanistendaels Comic die Auswirkungen einer | |
> Krebsdiagnose. Sie nutzt die Mittel der bildnerischen Gestaltung voll | |
> aus. | |
Bild: „Man will diesen Mann nicht sterben sehen.“ | |
Auf leise, tieftraurige Weise schön ist dieser Comic. Seiner Autorin Judith | |
Vanistendael gelingt es hervorragend, Gefühle von Verlust und Ohnmacht | |
spürbar zu machen. | |
„Seitdem fotografiere ich nur noch schöne Dinge“, erzählt die 23-jährige | |
Miriam ihrer Zufallsbekanntschaft Louis, mit dem sie auf dem Weg nach | |
Santiago de Compostela ein Stück gemeinsam pilgert. Nur Schönes möchte sie | |
noch festhalten, nachdem sie im Kosovo miterleben musste, wie ein kleines | |
Mädchen, das sie zufällig im Sucher der Kamera erfasste, von Scharfschützen | |
getroffen in ihren Armen verblutete. | |
Es wird ihr indes nicht gelingen, der Konfrontation mit dem Tod zu | |
entrinnen. Als sie neun Monate nach der Begegnung mit Louis ihre Tochter | |
zur Welt bringt, wird bei ihrem Vater ein bösartiger Tumor im Kehlkopf | |
diagnostiziert. | |
Vielleicht ist es dieser stets an der Realität scheiternde Wunsch, sich nur | |
auf die schönen Dinge des Lebens einzulassen, der Judith Vanistendaels | |
Comic „Als David seine Stimme verlor“ so unendlich traurig macht. Dabei | |
legt es die belgische Autorin und Zeichnerin in ihrem wunderschön | |
aquarellierten Comic nicht auf Rührung und Tränen an. Vielmehr zeigt sie | |
bildnerisch und erzählerisch sehr sensibel, wie David und seine engsten | |
Familienangehörigen auf die Diagnose reagieren. | |
## Krankheit und Schweigen | |
Da wird zunächst der 54-jährige David selbst eingeführt, dem angesichts der | |
Krankheit die Sinne schwinden. Sein erster klarer Gedanke gilt seiner | |
achtjährigen Tochter Tamar, der Halbschwester Miriams. Was soll aus ihr | |
werden, wenn er nicht mehr da ist? | |
Es werden mehr unausgesprochene Fragen kommen, denn David ist, lange bevor | |
es ihm physisch unmöglich gemacht wird zu sprechen, ein großer Schweiger. | |
Er verheimlicht die Schwere der Erkrankung, spielt Schmerz und Angst aber | |
vor allem gegenüber seiner kleinen Tochter Tamar herunter. | |
Ein Zustand, der seine 17 Jahre jüngere Frau Paula, die Mutter Tamars, auf | |
hilflose Weise aggressiv und rasend macht. Die Härte und Aussichtslosigkeit | |
der Situation kann sie kaum ertragen. Entsprechend hat Judith Vanistendael | |
ihr die Farbe Schwarz zugeordnet. Nicht nur Haare und Kleidung der | |
attraktiven Paula sind rabenschwarz, seitenweise sind die Panels in licht- | |
und hoffnungschluckendes Schwarz gebettet. | |
## Flucht vor der Realität | |
Als sie einmal aufbegehrt, zittern die Panelrahmen in wütendem Rot. Ihr | |
zunehmend aus den Fugen geratendes Leben wird an anderer Stelle durch das | |
Weglassen strukturierender Panelrahmen und der geisterhaften Auflösung | |
ihrer Konturen versinnbildlicht. Unfähig ihre Trauer zu fassen, nutzt sie | |
ein Jobangebot aus Finnland zur vorübergehenden Flucht. „Das Leben ist | |
nicht schön. Das Leben ist fies … und beschissen“, wirft sie der ebenfalls | |
schweigenden Miriam zornig vor die Füße. | |
Auch Davids große Tochter, die Mutter hatte die beiden dereinst gen Westen | |
verlassen, ahnt alsbald, dass das Versprechen des Vaters – „alles wird gut�… | |
– sich einmal mehr nicht bewahrheiten wird. Als sie den stark Geschwächten | |
in seiner Buchhandlung aufsucht, kann sie ihn nur noch als tanzendes | |
Skelett wahrnehmen. Bis in den Schlaf verfolgt sie dieser Totentanz. Anders | |
als Paula fügt sie sich aber auf ihre Weise in das Unabänderliche. Sie | |
kümmert sich um den bald bettlägrigen Vater, um ihre Babytochter und um | |
ihre kleine Schwester. | |
Allein Tamar gelingt es, in David nicht nur den todgeweihten Kranken zu | |
sehen. Auch sie ahnt, dass die gemeinsame Zeit bald zu Ende sein wird. Aber | |
die kindliche Fokussierung auf das Jetzt ermöglicht es ihr, die Momente mit | |
David zu genießen. So wie ihre Gedanken und Gefühle sich frei in alle | |
Richtungen bewegen, so grenzüberschreitend wird sie von ihrer Zeichnerin | |
inszeniert. | |
## Beklemmende Realität | |
Wenn sie etwa in einem Brandenburger See auf eine Nixe trifft, zwängt kein | |
Rahmen ihre Fantasie in ein Raster. Gemeinsam mit ihrem Freund Max denkt | |
sie ganz pragmatisch über Möglichkeiten nach, Davids Seele zu konservieren, | |
wie die „Egypter“, was die beiden schon mal an ihren Stofftieren üben. Sie | |
ist es, die mit David über den Tod und die Unendlichkeit reden kann. Und | |
manchmal vertauscht Tamar ganz einfach die Rollen, wenn sie ihrem Vater | |
vorliest. | |
Judith Vanistendael lässt ihre Geschichte in Berlin-Friedrichshain, wo sie | |
eine Zeit lang lebte, zur Jahrtausendwende spielen. Die Wiedererkennbarkeit | |
der wenigen abgebildeten Orte verleiht dem Geschehen eine beklemmende | |
Realität. Bedrückend zu beobachten ist das Siechtum Davids im Krankenhaus. | |
Ganz in farbentzogenem, blassem Graugrün gehalten, vermitteln sich | |
Trostlosigkeit und die Qualen Davids, der immer schemenhafter wird, auch | |
beim bloßen Durchblättern der Seiten. | |
Man will diesen Mann nicht sterben sehen, der für seine Tochter mit so viel | |
Liebe kleine Wunder geschehen lässt. Dabei ist „Als David seine Stimme | |
verlor“ zu keinem Zeitpunkt rührselig. Mit ausgesprochener Zärtlichkeit und | |
bildnerischer Präzision folgt die Autorin der kleinen Patchworkfamilie, die | |
gezwungen wird, den Vater, den Ehemann, den Opa gehen zu lassen. | |
30 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Katja Lüthge | |
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