| # taz.de -- Zeichnerin Barbara Yelin über ihr neues Buch: „Wegschauen passie… | |
| > Barbara Yelin thematisiert in ihrem Comicbuch „Irmina“ das Mitläufertum | |
| > im Nationalsozialismus. Dafür hat sie sich von der Biografie ihrer | |
| > Großmutter inspirieren lassen. | |
| Bild: Kaum lernen sie sich kennen, schon bekommen Irmina und Howard dumme Sprü… | |
| taz: Frau Yelin, Ausgangspunkt Ihres neuen Buches ist der Fund von | |
| Tagebüchern, Briefen und Fotos aus dem Nachlass Ihrer Großmutter. Inwieweit | |
| ist die Hauptfigur Irmina deren fiktives Pendant? | |
| Barbara Yelin: Meine Großmutter hat wie Irmina um 1934 eine Ausbildung als | |
| Fremdsprachensekretärin in London gemacht. Dort lernte sie einen Studenten | |
| aus der Karibik kennen, der zu den damals ersten schwarzen Studenten der | |
| University of Oxford gehörte. Die Rückkehr nach Nazi-Deutschland brachte | |
| dann einen anderen Mann und eine andere Realität in ihr Leben. | |
| Was ist dann an „Irmina“ überhaupt noch fiktiv? | |
| Über weite Strecken habe ich nur vermuten können, wie es wirklich war. Das | |
| betrifft vor allem den mittleren Teil der Geschichte: was meine Oma in | |
| Deutschland gesehen hat und wie sie dazu stand. „Irmina“ ist also | |
| inspiriert von der Biografie meiner Großmutter, ist dann aber auch eine | |
| eigenständige Geschichte, die sich von den biografischen Vorgaben löst. Ich | |
| habe mir die Freiheit des Romans auch ganz bewusst genommen, um die | |
| Dramaturgie zu unterstützen. Es ist der Versuch einer Rekonstruktion, wobei | |
| die Biografie nur das grobe Raster und die Ausgangsfrage geliefert hat. | |
| Die lautet? | |
| Wie konnte es passieren, dass eine Frau, die zu Beginn so sehr nach | |
| Freiheit und Selbstständigkeit strebte, letztendlich als Mitläuferin und | |
| Wegschauerin ins Nazisystem gelangt. | |
| Haben Sie die Frage auch Ihrer Oma gestellt? | |
| Vor mehr als 15 Jahren, als sie noch gelebt hat, habe ich versucht, mit ihr | |
| über die NS-Zeit zu reden. Sie ist bei diesem Thema aber auf Distanz | |
| gegangen und wollte nichts erzählen. Das hat mich beschäftigt. | |
| Inwiefern? | |
| Wenn Kapitel aus der persönlichen Lebensgeschichte verschwiegen werden, | |
| verschwinden sie nicht zwangsläufig mit den Leuten ins Grab. Oft bleiben | |
| sie Teil der Familie, werden von Generation zu Generation weitergegeben, | |
| ausgerechnet weil man eben nicht darüber spricht. Das ist doch faszinierend | |
| und zugleich beunruhigend. Im Gespräch mit anderen stellte ich dann fest, | |
| dass das Wissen über den Alltag unserer Großeltern im Dritten Reich sich | |
| oft auf ein bis zwei Anekdoten beschränkt. Obwohl wir über den Zweiten | |
| Weltkrieg und den Holocaust sehr ausführlich Bescheid wissen, ist die | |
| eigene Familiengeschichte oft ein blinder Fleck, der uns gar nicht mal | |
| bewusst ist. Diese Sprachlosigkeit oder dieses Nichtbesprechen der | |
| damaligen Ereignisse ist sicher mal ein größerer, mal ein kleinerer Fleck, | |
| aber ich glaube, er ist bei vielen da. | |
| Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen? | |
| Abgesehen von den Dokumenten meiner Oma habe ich viel Sekundärliteratur und | |
| Biografien gelesen und im Bundesarchiv darüber geforscht, an welchen | |
| Stellen das Verbrechensregime der Nazis im Alltag sichtbar wurde. Die | |
| Szene, in der Irmina die Novemberpogrome mitbekommt, habe ich aus | |
| verschiedenen Augenzeugenberichten, Text- und Bildquellen rekonstruiert und | |
| in die Comicgeschichte als eine von vielen Stellen eingebaut, an denen | |
| Politik und Alltag ganz klar aufeinandertrafen. | |
| Wie zeichnet man das Nicht-sehen-Wollen? | |
| Noch bevor ich die Geschichte hatte, zeichnete ich los. Das gehört für mich | |
| immer zu den Recherchen, es ist Teil der Forschung. Im Falle von „Irmina“ | |
| habe ich durch das Zeichnen versucht, mir erst mal selbst sichtbar zu | |
| machen, was Wegschauen eigentlich bedeutet – nämlich seinen Blick zu | |
| verengen. Die Panels werden immer kleiner, die Kästen rücken immer näher. | |
| Der Vorhang wird wirklich zugemacht. | |
| Kam es für Sie zu besonderen Erkenntnissen? | |
| Meine These ist, dass das Wegschauen nicht einfach so passiert, sondern das | |
| es eine ganz aktive, bewusste Entscheidung ist, die aus verschiedenen | |
| Gründen getroffen wird. Sicherlich gehört Angst dazu, aber auch der | |
| persönliche Vorteil, den die Leute daraus gezogen haben. Ganz schnell | |
| kristallisiert sich dann die bohrende Frage, die sich jedem stellt, der | |
| sich mit dem Thema auseinandersetzt: Wie hätte ich mich selbst verhalten? | |
| Die Haltung meiner Großmutter war eben leider keine singuläre, sondern eine | |
| von ganz vielen. | |
| Im Gegensatz zu vielen kommt Irmina allerdings sehr nah an die Rebellion. | |
| Ja, es gab eine Zeit für sie in London, da konnte sie kennenlernen, was | |
| Weitsicht und Freiheit bedeuten kann. Im Kern geht es um eine Person, die | |
| scheitert, weil sie sich nicht treu bleibt. Sie ist zwar von vielen Seiten | |
| her limitiert, aber trotzdem hätte sie noch Entscheidungsspielräume gehabt. | |
| In London wird sie mehrmals dazu aufgefordert, sich politisch zu | |
| positionieren. Einmal sagt sie: „Ich bin ich, das muss reichen.“ | |
| Das reicht aber nicht. Sie scheitert eben daran, dass sie keine Haltung | |
| bezieht, weil es ihr zu unbequem ist. | |
| Das ist hart. | |
| Während ich an dem Buch gearbeitet habe, musste ich sehr viel darüber | |
| nachdenken, wie oft man letztlich Kompromisse eingeht, weil sie bequemer | |
| sind. Es braucht viel Mut, seine Freiheit zu nutzen. Denn es bedeutet | |
| tatsächlich, an Stellen etwas anders zu machen, als es alle machen oder als | |
| es die anderen von einem erwarten. Es ist heute ganz klar viel leichter um | |
| die eigene Freiheit geworden. Und gerade deswegen lohnt es sich, sich das | |
| noch mal anzuschauen. | |
| Wenn man Irminas Geschichte in die jetzige Zeit übersetzen würde, wie ließe | |
| sie sich erzählen? | |
| Wenn ich jetzt nur den Aspekt des Wegschauens herausnehme, ist das sicher | |
| auch ein aktuelles Thema. Wenn wir zum Beispiel billig Klamotten kaufen, | |
| verstricken wir uns auch in Schuld. Denn wir profitieren dabei vom Leid | |
| anderer Menschen. Und das wissen wir ja eigentlich. | |
| Im letzten September wurden Sie zur BECA, dem ersten Comicfestival | |
| Ägyptens, eingeladen. Wie ist die Stimmung in Kairo im Vergleich zu, zum | |
| Beispiel, Comic-Salon in Erlangen? | |
| Kairo ist als Stadt viel größer, aber das BECA-Festival viel kleiner! Es | |
| war aber etwas Besonderes: Das Festival wurde von ägyptischer Seite | |
| ausgerufen und sowohl vom Goethe-Institut als auch dem Institut français | |
| unterstützt. So eine Kooperation passiert eher selten. In erster Linie ging | |
| es darum, die Leute, die sich mit Comics beschäftigen, also Zeichner, | |
| Autoren und Verleger zusammenzuholen, damit sie sich vernetzen. | |
| Hat das angesichts der angespannten Lage in Ägypten eine politische | |
| Bedeutung? | |
| Sicherlich. Ich weiß nicht, inwiefern es wieder Zensur gibt. | |
| Demonstrationsverbot gibt es jedenfalls wieder. Die meisten Künstler, mit | |
| denen ich gesprochen habe, sind frustriert, weil es jetzt im Prinzip wie | |
| vor der Revolution ist. Aber keiner hat den Mut verloren. Die Hoffnung ist | |
| immer noch da. Viele sind wiederum froh, dass, auch wenn wieder das Militär | |
| herrscht, zumindest nicht mehr die Muslimbrüder an der Macht sind. Jeder | |
| erzählt aus einem anderen Blickwinkel. Das ist sehr komplex, und obwohl ich | |
| schon oft in Kairo war, verstehe ich immer noch nicht alles. Ich glaube, | |
| dass Comics dort, wenn auch verklausuliert, einiges an Kritik öffentlich | |
| machen. Aber es ist für Außenstehende wie mich schwierig, diese zu | |
| identifizieren und zu entziffern. | |
| 10 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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