# taz.de -- Familienroman von Alena Schröder: Das emotionale Erbe | |
> Alena Schröder erzählt von Müttern, Frauen, Töchtern, Wahlfamilien. Dabei | |
> hakt sich ihr Roman temporeich bei Irmgard Keun und Vicky Baum unter. | |
Bild: Vom Vorkriegsberlin bis heute reicht der Erzählbogen: Szene am Potsdamer… | |
Form folgt Funktion. Wenn an diesem Design-Leitsatz etwas dran ist – und | |
das ist wohl so –, dann hat der dtv-Verlag viel richtig gemacht. Denn das | |
Buch „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ ist ein | |
gestalterisches Ereignis. | |
Auf dem Schutzumschlag tummeln sich auf schwarzem Grund Schwalben und | |
Blüten, dazwischen wimmelt die Titelei. Drinnen leuchtet das Vorsatzpapier | |
in warmem Orange, das Lesebändchen schimmert nachtblau. Alles sagt: Nimm | |
mich zur Hand. Und ja, das sollte man tun. Denn „Junge Frau“ ist ein | |
Ereignis. | |
Der Roman von Alena Schröder erfüllt gleich mehrere Funktionen. Die | |
Geschichte über die Frauen einer Familie und ihre komplizierte und | |
tragische Verknüpfung ist ein Generationenroman, ein Krimi, ein | |
Schmöker. Vor allem aber ist es ein Berlinroman. Denn in dieser wundervoll | |
anstrengenden Stadt laufen alle ihre Lebenslinien zusammen. | |
Hier wuchern die Neurosen und ereignet sich das, was Menschen erleben und | |
was von ihren Nachfahren später einmal Geschichte genannt werden soll. | |
Berlin ist anstrengend und soghaft, im Kleinen großartig und in seiner | |
Riesenhaftigkeit abstoßend. Die Stadt ist von hässlicher Schönheit, ihre | |
Menschen sind Millionen von Ereignissen. | |
Mit ihrem temporeichen Roman über Mütter, Frauen, Töchter, über | |
Wahlfamilien und Zuschreibungen hakt sich Alena Schröder bei großen | |
Berlin-Chronistinnen unter: [1][Irmgard Keun] mit ihrem „Kunstseidenen | |
Mädchen“, Vicky Baums „Menschen im Hotel“ oder [2][Annett Gröschners] | |
„Walpurgistag“. Die Romane dieser Frauen zeichnen sich stets durch ein | |
treibendes Tempo aus. Und so verhält es sich auch mit Schröders „Junger | |
Frau“: Mitunter geht es arg forsch voran. Doch das ist bei einer derart | |
komplexen Gemengelage nicht weiter verwunderlich. | |
## Bilder auf der Raubkunstliste | |
Der Titel geht auf die Beschreibung eines Gemäldes zurück. Die Urgroßmutter | |
der Hauptfigur musste mit ihrem jüdischen Mann aus Nazideutschland | |
flüchten. Zurück blieben die Schwiegereltern, die von den Nazis verschleppt | |
und ermordet wurden und deren Kunsthandlung von Nazis geraubt wurde. | |
Nach dem Krieg wird Senta Goldmann versuchen, sich an die Gemälde zu | |
erinnern, die systemtreue Deutsche sich unter den Nagel gerissen haben. | |
Unter den Bildern war auch ein Vermeer. „Junge Frau, am Fenster stehend, | |
Abendlicht, blaues Kleid“ schreibt sie als Bildbeschreibung auf eine | |
Raubkunstliste. | |
Hannah, die junge, frei schweifende Kulturwissenschaftlerin, macht sich im | |
Heute auf die Suche nach diesem Bild und damit nach ihrer | |
Familiengeschichte. Behilflich sein könnte ihr ihre Großmutter, die | |
hochbetagt in einem Altenstift im Berliner Westen lebt. Doch Evelyn | |
schweigt dazu nicht nur, sie verbittet sich jede Nachfrage. Das | |
Nichtgesagte, Nichtgefragte schlägt in jedem Moment der Romanhandlung | |
seinen bedächtigen Grundton an. | |
## Reizthema Regretting motherhood | |
Es ist die stumme Melodie zwischen jener Generation, die Krieg und Gewalt | |
tatsächlich noch erlebt hat, und ihren Nachfahren, die es lieber doch nicht | |
ganz so genau wissen wollen, aber gern von deutscher Verantwortung | |
sprechen. | |
Und es geht – der Titel sagt es – um Frauen. Um Kindheit und Mutterschaft, | |
um Sexualität und Freiheit, um Ungleichheit und Politik. Jede Frau ist auch | |
eine Tochter. Oft wird später aus ihr eine Mutter, also exakt jene Figur, | |
die sie als Kind so sehr geliebt hat, wie sie sie als Erwachsene | |
hinterfragen wird. Aber was, wenn diese Mutter den Fragen der Tochter | |
ausweicht, wenn sie gar nicht erst so tut, als machte Mutterschaft sie | |
glücklich. | |
Alena Schröder dekliniert das Reizthema Regretting motherhood gleich an | |
mehreren ihrer Figuren durch. Es gibt Frauen, die können ihr Kind aus gutem | |
Grund nicht lieben; und Frauen, die es aus falschen Beweggründen heraus | |
tun. Liebevolle Mutterschaft, wir erleben es in der vielschichtigen Figur | |
der Nazitante Trude, kann auch erworben werden. | |
## Vermächtnis einer Familie | |
Letztlich ist alles an diesem Roman persönlich. Die Geschichte ist | |
inspiriert von Alena Schröders Urgroßmutter Senta, die nach der Geburt | |
ihres Kindes an einer postnatalen Depression litt und ihr Kind in | |
Mecklenburg zurückließ, um Ende der zwanziger Jahre nach Berlin zu gehen. | |
Dort heiratete sie den Sohn eines jüdischen Kunsthändlers. Alena Schröder | |
widmet sich dem Vermächtnis ihrer Familie, das weit mehr umfasst als ein | |
verschollenes Gemälde. Das Erbe besteht auch aus Gefühlen, | |
Verhaltensmustern, Entscheidungswegen. Nimm mich zur Hand, sagt dieses | |
Buch. Und wie gesagt: Das sollte man tun. | |
15 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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