# taz.de -- New York im Bild 1972: Als New York seinen Bürgern gehörte | |
> Der Autor Jürgen Becker dokumentierte 1972 den Alltag am Broadway. Das | |
> Museum für Photographie Braunschweig zeigt die Fotoserie zum ersten Mal. | |
Bild: „New York 1972“: Obwohl die Fotografien Jürgen Beckers erst 45 Jahre… | |
BRAUNSCHWEIG taz | „Eine Zeit ohne Wörter“ hieß der 1971 veröffentlichte | |
Band des Schriftstellers Jürgen Becker. Der 1932 in Köln geborene Becker | |
hatte sich da bereits einen Namen als literarisch experimentierfreudig | |
gemacht, allein ja schon dadurch, dass er sich nicht, wie viele seiner | |
heimischen Kollegen, auf die Bewältigung der schrecklichen deutschen | |
Geschichte hatte reduzieren wollen. | |
Seit den 1950er-Jahren schien Becker im Hier und Jetzt verortet, arbeitete | |
nach abgebrochenen Studien der Theaterwissenschaften, Germanistik und | |
Kunstgeschichte auch journalistisch und in der Werbung, tauchte ein in die | |
damals avantgardistische Bewegung des Fluxus, die ihren deutschen | |
Schwerpunkt im Rhein-Main-Raum entfaltete. | |
Neben eigener Prosa veröffentlichte er in den 1960er-Jahren, zusammen mit | |
dem Aktionskünstler Wolf Vostell, auch zur Kunst des Happenings, der Pop | |
Art, des Nouveau Réalisme. Und so enthielt „Eine Zeit ohne Wörter“ dann | |
wirklich kaum Worte. Es war ein konzeptionelles Fotobuch: eng bedruckt mit | |
schwarz-weißem Bildmaterial von Landschaften oder Gründerzeitarchitekturen, | |
die in Paaren oder zu viert gesetzt, in stiller Grafik korrespondierten. | |
Künstlerisch war es ein Grenzübertritt zwischen zwei Medien, die Evidenz | |
der Fotografie, die in literarischer Interpretation aufging. | |
Umso enttäuschender muss es für Becker gewesen sein, als ein neuerliches | |
fotografisches Anliegen, sein visuelles Tagebuch aus thematisch | |
strukturierten Streifzügen, die er 1972 durch New York unternommen hatte, | |
auf keine verlegerische Gegenliebe stieß. Das Fotomaterial verschwand dann, | |
unbesehen und nicht publiziert, auf dem Dachboden. | |
Es folgten Lyrik und Gedichtbände, Erzählungen, zahlreiche Auszeichnungen, | |
1981 Beckers vielleicht bekanntestes Prosawerk „Erzählen bis Ostende“, | |
Verlagstätigkeiten sowie 20 Jahre auch die Leitung der Hörspielredaktion | |
des Deutschlandfunks in Köln. Erst 2012 brachte Beckers Sohn, der 1961 | |
geborene Fotokünstler Boris Becker, in seinem Kölner Verlag eine Auswahl | |
des New-York-Konvoluts heraus. | |
Derzeit sind rund 80, sorgfältig von Becker junior produzierte Handabzüge | |
im Braunschweiger Museum für Photographie zu sehen, nun erstmals als | |
Ausstellung. Damit will das Haus den Literaten zu seinem 85. Geburtstag | |
ehren, aber auch die selbstverständliche Präsenz der künstlerischen | |
Fotografie inmitten eines großen Sprachkunstwerkes würdigen. | |
Eingeladen vom Goethe-Institut, war Jürgen Becker 1972 auf einer | |
zweimonatigen Lesereise durch die USA und Kanada unterwegs gewesen und | |
blieb im Anschluss einige Zeit in New York. Sein Schweizer Kollege Max | |
Frisch, der damals dort lebte, hatte ein Apartment organisiert. Becker | |
tauschte hier das Wort gegen das Bild, zog mit einer kleinen | |
Rollei-35-Kamera durch die Stadt. | |
Wenn auch nicht ganz ziellos, so doch mit der vollkommenen Offenheit des | |
Flaneurs für all das Geschehen rundherum, arbeitete sich Becker mit seiner | |
Frau über drei Tage den Broadway herunter, von Norden, mit den Querstraßen, | |
die lediglich durchnummeriert sind, bis in das alte Manhattan mit seinen | |
europäisch anmutenden Straßenbezeichnungen. | |
Barbara Hofmann-Johnson, die Leiterin des Braunschweiger Museums und | |
zuständige Kuratorin, zeichnet in einer Hängung diesen Weg nach. Aber sie | |
nahm sich auch die Freiheit, weitere thematische Bildgruppen zu formen, so | |
zu Schaufenstern mit surrealen Spiegelungen, den allgegenwärtigen Abgängen | |
zur Subway, Beckers Blick für Autos und vor allem für Menschen, die ganz | |
offensichtlich noch nicht von der Hektik des aktuellen New Yorks getrieben | |
sind. | |
Obwohl die Fotografien gerade mal 45 Jahre alt sind, erzählen sie von einem | |
ganz anderen, ja fast historisch erscheinenden New York: abgewetzte, auch | |
substanziell erschöpfte Straßen und Häuser, kleine schäbige Läden oder | |
simple Neonreklamen an den legendären großen Theatern und Kinos. Aber es | |
ist auch das New York, das seinen Bürgern noch Lebensraum bot, seinen | |
Kindern Platz zum Spielen auf der Straße und bei gutem Wetter zum Verweilen | |
auf zahllosen Parkbänken einlud. | |
Unweigerlich denkt man an Jane Jacobs, die Publizistin, Kritikerin und | |
große Pionierin bürgerschaftlichen Engagements gegen die fragwürdigen | |
Leitbilder einer autogerechten, funktionalistischen Stadt, die der | |
Städteplaner Robert Moses über Jahrzehnte, zumindest partiell, in New York | |
verwirklichen konnte. | |
Jacobs und ihre Protestform der Quartierspaziergänge konnten in den | |
1960er-Jahren verhindern, dass weite Teile Lower Manhattans, etwa Greenwich | |
Village, einer Flächensanierung zum Opfer fielen, stattdessen ihre alten | |
Bauten und Straßen erhalten bleiben. Dass später andere, nicht minder | |
rigide ökonomische wie soziale Verdrängungsmechanismen griffen, steht auf | |
einem anderen Blatt. | |
Und so sollte man die New-York-Fotos von Jürgen Becker dann sicher nicht | |
als gesellschaftliche oder zeitgeschichtliche Studien interpretieren, | |
obwohl Parallelen zu einer milieuempathischen amerikanischen Street | |
Photography etwa eines Lee Friedländer oder Robert Frank gegeben sein | |
mögen. | |
Beckers Fotos sind literarische Transpositionen, vielleicht poetische | |
Prosa, spontan und mit intensivem Interesse an urbanen Phänomenen und ihren | |
Atmosphären entstanden, regen den Betrachter zu immer neuen Entdeckungen | |
an. Aber sie sind auch überzeugender Beleg eines nicht nur technisch, | |
sondern auch konzeptionell durchgestandenen Wechsels zwischen | |
künstlerischen Gattungen. Und daran hat sich manch anderer Grenzgänger ja | |
schlichtweg verhoben. | |
6 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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