# taz.de -- Berliner Lyriker im Interview: „Wenn kein Wort mehr stört“ | |
> „Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“, heißt Micha… | |
> Thieles erster Gedichtband. Über die Rolle von Zeit und Musik für seine | |
> Lyrik. | |
Bild: „Du kannst nicht alles, was du fühlst und denkst, in Worte, in Sprache… | |
taz: Herr Thiele, kürzlich fand das 23. Poesie Festival Berlin statt. Haben | |
Sie vielleicht eine Lesung besucht? | |
Michael Thiele: Ich war nicht dort, weil für mich die Lyrik in der privaten | |
Lektüre tatsächlich keine große Rolle spielt. Ich lese neben Einzeltexten | |
vielleicht ein oder zwei Gedichtbände im Jahr. Und wenn ich auf Lesungen | |
gehe, dann wird dort meist Prosa gelesen. | |
Warum schreiben Sie Gedichte? Das erste entstand bereits 2007, wie ich aus | |
Ihrem Buch erfuhr. | |
Ich schreibe Gedichte seit über 20 Jahren. Das klingt jetzt vielleicht ein | |
bisschen komisch, aber ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und habe die | |
Entscheidung getroffen: „Ach, jetzt will ich mal versuchen, ein Gedicht zu | |
kreieren.“ Ich habe einfach angefangen und bis heute nicht damit aufgehört. | |
Ich schreibe immer, und es ist keine … (überlegt) – Option oder | |
Entscheidung. Es ist eher ein Müssen. Ich habe das Bedürfnis. Und solange | |
das Bedürfnis da ist, muss ich schreiben. | |
Ich habe das gefragt, weil sich eine Überlegung anschließt: Welche Rolle | |
spielt Zeit für Sie, für die Gedichte? Die aus Ihrem ersten Gedichtband | |
„Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“ sind zwischen 2… | |
und 2022 entstanden und weder zeitlich verortet noch chronologisch | |
geordnet, richtig? | |
„Zeit“ ist ein Schlüsselbegriff. Das fällt mir auch selbst auf bei den | |
Texten, an denen ich gerade arbeite. In fast jedem Text, den ich derzeit | |
für meinen zweiten Gedichtband schreibe, taucht das Wort „Zeit“ auf. Das | |
Thema scheint mich gerade sehr zu beschäftigen. Ich weiß noch nicht | |
richtig, warum. Mich beschäftigt das Älterwerden, das Bewusstsein der | |
Vergänglichkeit – die Lebenszeit, die man nutzen muss … Und ja, die Texte | |
sind nicht chronologisch sortiert, das war für mich kein Kriterium für | |
einen guten Aufbau des Gedichtbands. | |
Was dann? | |
Ich habe lange überlegt, es gibt da ja verschiedene Möglichkeiten. Ich | |
wollte eine Dramaturgie, ich wollte, dass diese Gedichte eine Geschichte | |
erzählen, wenn man so will, und Anfang und Ende einer Entwicklung zeigen. | |
Das ist gelungen, wenn man die Texte übergreifend liest, erkennt man | |
Querverbindungen. Und klar wird auch, dass Ihnen Musik wichtig sein muss, | |
oder? | |
Enorm! Ich finde Musik auf mehreren Ebenen sehr wichtig. Auf der | |
Arbeitsebene könnte ich mir nicht vorstellen, ohne Musik zu schreiben. Ich | |
muss Musik hören, während ich schreibe. Nur ganz am Ende, wenn der Text | |
also fast fertig ist, dann mache ich die Musik auch mal aus, weil ich für | |
mich überprüfen will, ob der Text auch ohne die Musik wirkt. Für mich ist | |
das zu einem Ritual geworden. Wenn ich schreibe, dann in der Regel so, dass | |
ich mir erst mal über Wochen hinweg Notizen mache, Wörter sammle, Sätze, | |
Verse, Zitate, auch aus Songtexten, Filmen oder literarischen Texten. Und | |
ich merke dann selbst oft noch gar nicht, wohin die Reise geht. | |
Das bedeutet, dass nicht ein bestimmtes Thema im Fokus eines neu | |
entstehendes Gedichts steht … | |
Nein, überhaupt nicht. Das ist eher eine große Ausnahme. In der Regel ist | |
es so, dass ich erst mal einfach nur Material sammle, und dann erkenne ich | |
irgendwann, dass ich genug habe, das ist ganz intuitiv. Dann beginnt der | |
eigentliche Arbeitsprozess, ich sichte das Material – und zu diesem | |
Zeitpunkt haben sich dann auch die vier, fünf oder sechs Lieder | |
herauskristallisiert, die ich dabei immer wieder gehört habe. Wenn ich mit | |
diesen Notizen arbeite und versuche, daraus Verse und Strophen zu machen, | |
dann drücke ich quasi auf Play – und ich bin in der Stimmung drin. Das ist | |
für mich wie ein Kokon oder ein Zelt. Und wenn ich in diesem Zelt bin, dann | |
vergesse ich auch die Zeit um mich herum. Dann gucke ich manchmal später | |
auf die Uhr und erschrecke richtig, weil zwei Stunden um sind und ich das | |
überhaupt nicht gemerkt habe. | |
Eine schöne Art von Arbeitsatmosphäre! | |
Auch eine Art von einem Ideal. Ich finde ja, dass die Musik als Kunstform | |
Dinge kann, die die Literatur einfach nicht kann. Du hast ja hier bei den | |
Gedichten nur das geschriebene Wort, aber dort hast du eben den Gesang, die | |
Stimme, den Text, auch das Musikvideo, die Live-Performance. Musik als | |
audiovisuelles Gesamtkonzept, was du auf Albumlänge eben auch spüren | |
kannst. | |
Wie lange brauchen Sie für ein Gedicht? | |
Mehrere Wochen, manchmal Monate. | |
Wann sind Sie zufrieden? | |
Eigentlich genau in dem Moment, wenn ich nicht mehr darüber grüble. Also | |
wenn ich das Gefühl habe, ich bin damit im Reinen. Und wenn es kein Wort | |
mehr gibt, das mich stört. | |
Apropos Störung: In dem Gedicht „Schlesisches Tor“ gibt es diesen seltsamen | |
Satz: „Es ist alles so selten geworden“ – dazu konnte ich gar keine Idee | |
entwickeln. Was meint das? | |
Dieses Gedicht habe ich tatsächlich über Jahre hinweg immer wieder | |
überarbeitet. Ich glaube, die erste Fassung ist von 2007, und es gibt drei | |
unterschiedliche Versionen von diesem Gedicht. Man merkt, wenn Zeit | |
vergangen ist, ob man noch zu einem Text eine Verbindung aufbauen kann. | |
Muss ich den zurücklassen, weil der für mich eher eine Art Übung war? Oder | |
ist da noch irgendetwas, was mich heute betrifft? Finde ich mich darin noch | |
wieder, entspricht er auch noch meinen Ansprüchen? Und ich habe immer | |
gedacht, ich brauche diesen Text, aber er genügte nicht mehr ganz meinen | |
Ansprüchen. Und deswegen habe ich ihn alle paar Jahre überarbeitet und | |
zuletzt im letzten Sommer, das ist jetzt die aktuelle Fassung. | |
Letzten Sommer … | |
… habe ich intensiv an dem Gedichtband gearbeitet, die Texte beendet, | |
teilweise, wie zum Beispiel auch das Gedicht über den historischen Umgang | |
mit der DDR, komplett neu geschrieben. Tja, und was bedeutet jetzt dieser | |
Vers? Also, ich glaube, es ist mein Job, die Texte zu schreiben, aber | |
nicht, eine endgültige Lesart vorzugeben. | |
Okay, das ist klar. Ich mache mir als Rezipient einen Reim drauf. | |
Gedichte funktionieren ja eher auf einer bildlichen Ebene, und ich glaube, | |
man soll diese Verse nicht alle wortwörtlich nehmen. Man muss sie verstehen | |
als ein Bild. Wofür konkret, das muss man für sich selbst entscheiden. | |
Sie schreiben über Sehnsucht, Liebe, Verlust, Schmerz. „Ist es möglich, | |
einmal alles/ aber auch wirklich alles/ zu erzählen?“, heißt es im Gedicht | |
„Fantasy“. – Ich will fragen, auch weil Sie an derzeit Ihrem zweiten | |
Gedichtband arbeiten: Lassen Sie Themen aus? | |
Grundsätzlich ist es nicht möglich, über alles zu schreiben. Es ist einfach | |
ein utopisches Moment an der Stelle. Du kannst nicht alles, was du fühlst | |
und denkst, in Worte, in Sprache übersetzen, das geht nicht. Aber da ist | |
dieser Traum, diese Utopie und darum auch die Lust am Schreiben, weil du | |
das Gefühl hast, du willst etwas aufschreiben, was es so noch nicht gab, | |
was so noch niemand gesagt hat. Das ist ja einer meiner Antriebe. Und | |
dieses Gedicht „Fantasy“ ist mir tatsächlich extrem wichtig. Auch das ist | |
übrigens ein Text, der älter und mehrfach überarbeitet ist. Diese drei | |
Verse, die ja übrigens auf die Dunkelheit folgen … | |
… Ich zitiere mal: „Die Dunkelheit bricht früh herein,/ ich trete in sie | |
ein/ Dunkel umschließt mich.“ | |
Die Dunkelheit als eine Voraussetzung, um erzählen zu wollen und zu können. | |
Ein dunkler Raum kann ein Schutzraum sein, man fühlt sich sicherer, man ist | |
nicht einem unangenehmen Licht ausgesetzt. Man traut sich eher, den Mund | |
aufzumachen, wenn man das Gefühl hat, man ist für sich. | |
Ich habe mir auch Begriffe (oder besser Zustände) wie Unruhe notiert, und | |
Angst – und Wüstung. Wüstung ist ein tolles Wort. Ich kannte das gar nicht! | |
Ehrlich, ich kannte dieses Wort auch nicht. Ich bin in einer | |
Fotoausstellung 2018 darauf gestoßen. Ein Bild hieß „Wüstung“. Zu Hause | |
habe ich natürlich gleich zum Duden gegriffen. „Wüstung“ bezeichnet einen | |
verlassenen Ort, ein aufgegebenes Dorf, eine aufgegebene Stadt. | |
Quasi Wüste. | |
Wo sich die Natur diesen Ort, der verfällt, zurückerobert. Eine Wüstung: | |
Das ist der Rest, der bleibt. | |
Das ist berührend. | |
Dann habe ich doch mein Ziel erreicht. Also wenn ein Gedicht bei den | |
Lesenden einfach ein echtes Gefühl auslösen kann. Besser als irgendein | |
Instagram-Post. Das ist alles so falsch und so … (überlegt) mager. Wenn ein | |
Text eine ehrliche Emotion bewirken kann, dann ist doch alles gut. | |
Sehr nah gingen mir in dem Gedicht „Diesmal träume ich“ – es steht am En… | |
des Gedichtbands – diese Zeilen: „Ich werde nie mehr Angst haben./ Denn ich | |
bin/ ein Engel unter Engeln.“ | |
Das freut mich! Ich habe viele Jahre Probleme mit dem Wort „Engel“ gehabt, | |
weil das natürlich ein total abgenutzter Begriff ist, allein durch die | |
vielen Popsongs et cetera … Ein Wort, das ich nie mochte. Und letztes Jahr | |
dachte ich aber, vielleicht kann ich dieses Wort irgendwie für mich nutzen. | |
Ganz dosiert an einer ganz prominenten Stelle und zum Beispiel in einem | |
Gedicht am Ende des Gedichtbands, um eine andere, metaphysische Ebene | |
deutlich zu machen. Und ich hätte es kitschig gefunden, nur zu schreiben: | |
„Ich bin ein Engel“. Aber in dem Moment, in dem du sagst, du bist ein Engel | |
und alle anderen sind auch Engel, löst sich der Engel ja wiederum auf. Dann | |
brauchst du die Kategorie gar nicht mehr. Das Gute gibt es ja auch nur, | |
weil es das Böse gibt. Wäre alles in der Welt gut, gäbe es das Wort „gut“ | |
gar nicht. Und damit hebt sich das ja dann auch wiederum auf. Alles wird | |
engelhaft. | |
17 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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