| # taz.de -- Wohnen in der Zukunft: Kleinstadt als Chance | |
| > Die Verklärung der Millionenstädte als „the place to be“ ist veraltet. | |
| > „Glokalisierung“ in kleineren Städten ist ein Zukunftstrend. | |
| Bild: Idyllisch: Finowkanal bei Eberswalde | |
| Eberswalde zum Beispiel. Die 40.000-Einwohner-Stadt im Umland von Berlin | |
| bietet mehrtägiges „Probewohnen“ an, für InteressentInnen an einem Zuzug. | |
| Die Plätze werden verlost, die Zahl der BewerberInnen steigt. | |
| Eberswalde gehört zu den sogenannten Mittelstädten mit 20.000 bis 100.000 | |
| Einwohnern. Die Bedeutung dieser Städte nimmt zu, auch weil sie zur | |
| Entlastung der [1][überhitzten Wohnungsmärkte] vieler Großstädte beitragen. | |
| So steht es in einer [2][Studie] des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und | |
| Raumforschung (BBSR). | |
| Das Wachstum der kleinen Städte im Umland von Metropolen wirft eine | |
| soziokulturelle Frage auf: Lebt es sich nun besser oder schlechter in einer | |
| kleineren Stadt? Ist diese nur eine Art „zweite Wahl“, weil man sich das | |
| [3][Wohnen in der Metropole] nicht leisten kann? | |
| Die Frage rührt an kulturelle Normen und ist ein Politikum, denn die | |
| Verklärung der Millionenstadt als „the place to be“, den Ort, an dem die | |
| Arbeits-, Aufstiegs- und sexuellen Möglichkeiten unbegrenzt sind, an dem | |
| die Kreativität überbordet, diese Verklärung schafft eine Hierarchie: Wer | |
| es sich leisten kann, in einer Metropole zu wohnen, dessen Leben gilt als | |
| voller, als aufregender, und dies hebt auch das Selbstwertgefühl. | |
| ## Immobilien als Statussymbol | |
| Die Vermögenden können sich ein gehobenes Lebensgefühl dann durch den | |
| Erwerb einer Immobilie in einer Millionenstadt kaufen, was mit ein Grund | |
| ist, warum es zum Statussymbol der Superreichen gehört, eine Wohnung in | |
| Berlin oder in London zu besitzen, auch wenn sie die meiste Zeit leer | |
| steht. Wer hingegen in eine kleine Stadt zieht, auch weil die Familie das | |
| Leben in der Metropole nicht bezahlen kann, dessen Horizont verengt sich, | |
| das Leben wird langweiliger, irgendwie verpasst man was. So weit das | |
| Klischee. | |
| Dabei gleicht das Internet viele regionale Unterschiede im | |
| Informationsangebot inzwischen aus. Ob man nun in der Berliner U-Bahn auf | |
| sein Smartphone starrt oder im Bus im brandenburgischen Ketzin, ob man in | |
| Hamburg oder in Neustrelitz am Abend Netflix-Serien schaut, ist | |
| eigentlich egal, der Bildschirm ist der Gleiche. Es gebe einen Trend zur | |
| „Mischung“ „realer und virtueller Räume“, schreibt der Kanadier Colin | |
| Ellard in seinem Buch „Psychogeografie“. | |
| Wenn Telearbeit erleichtert wird, wenn das Einkaufen, die Partnersuche per | |
| Internet läuft, dann müsste es eigentlich nicht mehr so entscheidend sein, | |
| ob man für teures Geld in einer Metropole wohnt oder billiger in einer | |
| [4][Klein- oder Mittelstadt.] Jedenfalls dann, wenn sich die Pendelzeiten | |
| zur Arbeit in Grenzen halten. | |
| Aber es geht um das Gefühl, dort zu sein, wo das Leben tobt, die | |
| „Vitalillusion“ der Millionenstadt. In „Triumph of the City“ beschwört… | |
| US-amerikanische Ökonom Edward Glaeser die Megastadt. Die Stadt ermögliche | |
| die Kooperation, in der die Menschheit „am hellsten leuchtet“, schreibt er. | |
| „Weil die Menschen so viel voneinander lernen, lernen wir mehr, wenn mehr | |
| Leute um uns herum sind.“ | |
| ## Wo das Leben tobt | |
| So einfach ist es nicht. Mit Tausenden von Fremden in nächster Nähe | |
| zusammenzuleben, sei evolutionsbiologisch betrachtet „völlig unnatürlich“, | |
| schreibt Ellard. Die Metropole ist auch ein Ort der inneren Abschottung, | |
| die man erlebt, wenn man in Berlin oder London um sechs Uhr abends U-Bahn | |
| fährt. Unter den BewohnerInnen der Millionenstädte herrscht eine | |
| Sehnsucht nach Grenzen, nach einer überschaubaren Nachbarschaft, wie jeder | |
| Stadtplaner erfährt, der Neubauten in einen solchen Kiez pflanzen will. | |
| Die Menschen in Millionen- und Kleinstädten sind also nicht so | |
| unterschiedlich. Trotzdem wird die Klein- und Mittelstadt oft als | |
| deprimierend empfunden. | |
| Görlitz zum Beispiel liegt in Sachsen an der polnischen Grenze. Die | |
| 56.000-Einwohner-Stadt mit schöner Altstadtarchitektur bietet einen ganzen | |
| Monat mietfreies [5][„Probewohnen“] an. 54 Haushalte mit Zugereisten nahmen | |
| bisher daran teil, darunter KünstlerInnen, AutorInnen, IT-Entwickler. Nur | |
| fünf Haushalte blieben. | |
| Die AfD ist hier sehr stark. In einer Kleinstadt zu leben, in der ein Klima | |
| der Enge, der Rückständigkeit herrscht, macht einen Ort unattraktiv. Dabei | |
| wäre eine kleinere Stadt eigentlich der richtige Ort für die | |
| Individualisierung: Man wird mehr gesehen, mehr wahrgenommen, „man kann | |
| viel selbst gestalten“, sagt Stadtforscher Robert Knippschild aus Görlitz, | |
| der sich mit der Entwicklung von Mittelstädten in peripheren Lagen | |
| beschäftigt. | |
| ## Örtliche Reizarmut ausgleichen | |
| Gerade den BewohnerInnen von kleinen Städten täte es gut, sich innerlich zu | |
| öffnen, um gewissermaßen die örtliche Reizarmut auszugleichen. | |
| Handwerksbetriebe in kleineren Städten haben mit Nachwuchsproblemen zu | |
| kämpfen und profitieren, wenn sie beispielsweise MigrantInnen als | |
| Auszubildende gewinnen können. | |
| Aber es erfordert Persönlichkeit, Mut und eine gewisse Anpassungsfähigkeit, | |
| sich in einem engen Milieu niederzulassen. Man braucht als Zuzügler | |
| möglichst schon etwas soziale Andockung vor Ort. Sind offene Leute da, | |
| vielleicht eine Hofgemeinschaft, ein Kulturzentrum, vielleicht ein soziales | |
| Projekt, dann wirkt die kleine Stadt für Zuzügler sofort attraktiver. | |
| „Wichtig ist, dass eine Stadt weltoffen ist, auch Neues willkommen heißt“, | |
| sagt Knippschild. Das Ideal ist die Kleinstadt, in der Einwohnerinitiativen | |
| zum Beispiel Geflüchtete vor Ort unterstützen und damit gewissermaßen | |
| „Weltstadt“ spielen. Während die Bewohner in Millionenstädten ihren | |
| dorfähnlichen „Kiez“ oft eifersüchtig hüten. | |
| Vom Zukunftstrend „Glokalisierung“ spricht der Politikforscher Daniel | |
| Dettling im Newsletter [6][Kommunal.de,] was so viel heißt wie: Man kann | |
| sich sowohl als Mitglied einer lokalen Gemeinschaft fühlen als auch als | |
| Mitglied der Weltgesellschaft, und zwar beides gleichzeitig. Die | |
| soziokulturelle Hierarchie zwischen Metropole und Kleinstadt ist obsolet. | |
| Wir alle sind Weltbürger. Das ist eine Tatsache. | |
| 16 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kampf-gegen-Wohnungsnot-in-Niedersachsen/!5659551 | |
| [2] https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/aktuelle-meldungen/km-… | |
| [3] /Mieten-im-Hamburger-Wahlkampf/!5659956 | |
| [4] /Kleinstadtleben-in-Deutschland/!5658766 | |
| [5] http://stadt-auf-probe.ioer.eu/ | |
| [6] https://kommunal.de/dem-dorf-gehoert-die-zukunft | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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