| # taz.de -- Cancel Culture und Wokeness: Auf Wiedervorlage | |
| > Die Argumentationslinien gegen vermeintliche Wokeness sind alt. Doch ein | |
| > Blick zurück zeigt: Keines der Schreckensszenarien ist jemals | |
| > eingetreten. | |
| Bild: Angebliche Sprechverbote: Winnetou-Darsteller und Hubert Aiwanger (Freie … | |
| [1][Winnetou] wird verboten. [2][„Layla“] landet auf dem Index. Die Ärzte | |
| canceln sich selbst und singen nicht länger von der „fetten Elke“. In immer | |
| schnellerem Takt wird von immer neuen Ungeheuerlichkeiten berichtet. | |
| Verantwortlich dafür soll eine rasant um sich greifende Ideologie sein, | |
| genannt Wokeness. Will man den Kritikern glauben, steht nicht weniger auf | |
| dem Spiel als die offene Gesellschaft. Folgerichtig entfacht jeder einzelne | |
| dieser Kampfbegriffe hitzige Debatten. | |
| Die Bereitschaft, Wokeness, aber auch so genannte Identitätspolitik und | |
| Cancel Culture so zu diskutieren, als handele es sich dabei um neue | |
| Phänomene, ist erstaunlich. Schließlich sind sämtliche Argumente, die | |
| aktuell zu hören sind, 1:1 aus dem über dreißig Jahre alten | |
| [3][Anti-Political-Correctness-Diskurs] kopiert. | |
| Der Ausgangspunkt jeglicher Debatten zum Thema ist das Aufbegehren | |
| marginalisierter Gruppen. Diese wollen auf Diskriminierungen aufmerksam | |
| machen und setzen sich für gesellschaftliche Teilhabe ein. Man könnte dies | |
| unter Überschriften wie Selbstermächtigung oder Herrschaftskritik | |
| besprechen – tatsächlich sind es aber die vermeintlichen Gefahren und | |
| Zumutungen, welche von Political Correctness & Co. ausgehen, die | |
| Schlagzeilen produzieren. | |
| Schreckgespenst #1 ist das drohende Ende der Meinungsfreiheit. Die | |
| angeblichen Sprechverbote werden als Vorboten eines autoritären Zeitalters | |
| gedeutet. Argumentiert wird dabei seit 1991(!) nach dem gleichen Schema: | |
| Weil heute jemand auf einer Uni an einem Vortrag gehindert wird, drohen uns | |
| morgen Zustände wie in Orwells 1984. Ein Ausnahmefall wird zur Norm erklärt | |
| und als Beleg für die inhärente Gefährlichkeit von Wokeness präsentiert. | |
| Wie es sich für Schauergeschichten gehört, haben jene, die hinter den | |
| Bedrohungen stehen, etwas von einem Phantom: Schließlich ist so gut wie | |
| niemand zu finden, der sich selbst als „politisch korrekt“ oder „woke“ | |
| deklarieren würde. Die Bezeichnungen existieren in erster Linie als negativ | |
| besetzte Fremdzuschreibungen. Jene, die mit diesen arbeiten, haben zwar | |
| Unmengen an Text produziert, konnten ihre Gegenspieler aber nie dingfest | |
| machen. | |
| In aller Regel sind es nicht näher definierte „Sprachpolizisten“, | |
| „Tugendterroristen“, neuerdings „[4][Lifestyle-Linke]“ und „Social Ju… | |
| Warriors“, von denen die Gefahr ausgehe. Charakterisiert werden sie als | |
| naiv und realitätsfern. Statt Vernunft zu gebrauchen, übten sie sich im | |
| Moralisieren. Sie sind wehleidig, überempfindlich, hypersensibel. Ihre | |
| folgenschwerste Eigenschaft demnach: der Hang zum Autoritarismus. Angeblich | |
| wollen sie Andersdenkende „zum Schweigen bringen“ oder „mundtot“ machen. | |
| Der „Social Justice Warrior“ von heute wird dabei exakt gleich beschrieben | |
| wie der politisch korrekte „Gutmensch“ aus dem vorigen Jahrhundert. | |
| Warum ist es von Bedeutung, dass die aktuellen Angriffe allesamt Kopien | |
| sind? Um dies zu beantworten, gilt es, das Dilemma zu veranschaulichen, vor | |
| dem die PC-Kritik und deren Klone stehen: Die hysterischen Warnungen sind | |
| keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit. Wenn die kritisierten | |
| „Ideologien“ so mächtig wären – warum nehmen sie dann keinen Einfluss a… | |
| die realpolitischen Machtverhältnisse? | |
| Während der über drei Jahrzehnte, in denen vom linken „Meinungsterror“ | |
| fantasiert worden ist, hatten CDU/CSU fast ein Dauerabo auf die | |
| Kanzlerschaft inne. In Österreich sitzt die ÖVP gar ohne Unterbrechung auf | |
| der Regierungsbank; die FPÖ saß seit 1999 drei Mal in einer Regierung. Die | |
| rechtspopulistische SVP ist seit über 20 Jahren stärkste Partei in der | |
| Schweiz. Auch bei den Massenmedien kann mitnichten von einer politisch | |
| korrekten Vorherrschaft gesprochen werden: Die meistgelesene Zeitung ist | |
| seit jeher die Bild-Zeitung. FAZ, Welt, Focus sind einer woken Ausrichtung | |
| ebenso unverdächtig. | |
| Auf dem Buchmarkt und in den neuen Medien leben eine Menge Menschen sehr | |
| gut davon, dass sie publizieren, was angeblich nicht gesagt werden könne – | |
| die PC-Kritik ist längst Mainstream. | |
| Um die Diskrepanz zwischen Narrativ und Wirklichkeit zu kaschieren, | |
| behelfen sich die Anti-Wokeness-Warriors mit einem simplen Trick: Sie | |
| verlagern ihre Schreckensbilder in die Zukunft. So gut wie nie behaupten | |
| sie, dass die freie Rede im Hier und Jetzt substanziell eingeschränkt wäre. | |
| Stattdessen „greift etwas um sich“ oder „ist auf dem Vormarsch“. Die ne… | |
| alte PC-Kritik behandelt im Grunde keine faktischen Zustände. Ihr | |
| Standardmodus ist das Verkünden von Prophezeiungen. | |
| Nur verliert die eigene Position an Glaubwürdigkeit, wenn fortlaufend | |
| verkündete Voraussagen nie eintreten. Die drei Jahrzehnte Anti-PC-Diskurs | |
| sind hierfür ein leuchtendes Beispiel: Texte, die vor 10, 20 oder 30 Jahren | |
| erschienen sind, lesen sich heute wie Satire. So viel Drama, so viel | |
| Hysterie – doch nicht eines der dystopischen Bedrohungsszenarien ist je | |
| Realität geworden. | |
| ## Blaupause über den alten Texten | |
| Was gegenwärtig über Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture | |
| geschrieben wird, lässt sich wie eine Blaupause über die alten Texte legen, | |
| in denen das Feindbild Political Correctness hieß. Kein Kritikpunkt, kein | |
| Argument, kein Slogan ist neu. Immer geht es darum, aufmüpfige Randgruppen | |
| auf ihren Platz zu verweisen. Wer Rassismus anprangert, will anderen „den | |
| Mund verbieten“; wer für gendergerechte Sprache eintritt, errichtet | |
| „Gesinnungskorridore“; wer eine menschliche Flüchtlingspolitik befürworte… | |
| betreibt „Tugendterror“. | |
| Statt den Anliegen marginalisierter Gruppen sollen imaginäre | |
| „Sprechverbote“ die Debatte dominieren. Das Schreckgespenst der Political | |
| Correctness hat diese Aufgabe lange höchst erfolgreich erfüllt – doch der | |
| Schauder beim Publikum soll nicht nachlassen. Die Einführung ein paar neuer | |
| Kampfbegriffe scheint dafür auszureichen. Denn gegenwärtig setzen wir | |
| voller Elan eine 30 Jahre alte Scheindebatte fort. | |
| 4 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aufregung-um-Winnetou-Buch/!5873631 | |
| [2] /Schlagersong-in-der-Kritik/!5864213 | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Politische_Korrektheit | |
| [4] /Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5771163 | |
| ## AUTOREN | |
| René Rusch | |
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